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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 24.03.1993
Aktenzeichen: C-313/90
Rechtsgebiete:


Vorschriften:

Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

1. Nach Artikel 37 Absatz 3 der EWG-Satzung des Gerichtshofes und Artikel 93 § 4 der Verfahrensordnung muß der Streithelfer den Rechtsstreit in der Lage annehmen, in der dieser sich zur Zeit des Beitritts befindet und können mit den aufgrund des Beitritts gestellten Anträgen nur die Anträge einer Partei unterstützt werden. Der Streithelfer kann mithin keine Einrede der Unzulässigkeit erheben, wenn eine solche von den Anträgen des Beklagten nicht umfasst ist.

2. Da eine Entscheidung der Kommission, wonach eine staatliche Beihilfe nicht der Anmeldungsverpflichtung unterliegt, gleichbedeutend mit der Entscheidung ist, das in Artikel 93 Absatz 2 des Vertrages vorgesehene Verfahren nicht zu eröffnen, hat sie endgültige Rechtswirkungen und kann mit der Nichtigkeitsklage des Artikels 173 des Vertrages angefochten werden.

3. Ein Verband, in dem die wichtigsten internationalen Hersteller des betreffenden Sektors zusammengeschlossen sind und der in bezug auf die Umstrukturierung dieses Sektors in mehrfacher Weise, insbesondere als Gesprächspartner der Kommission beim Erlaß der Leitlinien für die Beihilfen in diesem Sektor, tätig geworden ist und der ausserdem aktiv die Verhandlungen mit den Dienststellen der Kommission über die betreffende Beihilfe geführt hat, ist von der Entscheidung der Kommission, wonach eine staatliche Beihilfe vom Geltungsbereich der Anmeldungsverpflichtung nach Artikel 93 Absatz 3 des Vertrages nicht erfasst wird, unmittelbar und individuell im Sinne von Artikel 173 Absatz 2 des Vertrages betroffen, auch wenn diese Entscheidung an den betreffenden Mitgliedstaat gerichtet ist.

4. Die auf die von den Mitgliedstaaten in einem bestimmten Sektor gewährten Beihilfen anwendbaren Vorschriften, die von der Kommission in einer Mitteilung über ihre Politik auf diesem Gebiet ("Disziplin") dargelegt und von den Mitgliedstaaten akzeptiert wurden, haben zwingende Wirkung. Sie stellen eine Handlung mit allgemeiner Tragweite dar, die nicht stillschweigend durch eine individuelle Entscheidung geändert werden kann; letztere kann nicht später unter Berufung auf den Grundsatz der Gleichbehandlung und unter Hinweis auf schutzberechtigtes Vertrauen angeführt werden, um eine weitere Verletzung dieser Vorschriften zu rechtfertigen.


URTEIL DES GERICHTSHOFES (FUENFTE KAMMER) VOM 24. MAERZ 1993. - COMITE INTERNATIONAL DE LA RAYONNE ET DES FIBRES SYNTHETIQUES UND ANDERE GEGEN KOMMISSION DER EUROPAEISCHEN GEMEINSCHAFTEN. - STAATLICHE BEIHILFEN - VERPFLICHTUNG ZUR VORHERIGEN MITTEILUNG. - RECHTSSACHE C-313/90.

Entscheidungsgründe:

1 Das Comité international de la rayonne et des fibres synthétiques (im folgenden: CIRFS), Verband französischen Rechts, die AKZO NV (im folgenden: AKZO), Gesellschaft niederländischen Rechts, die Hoechst AG (im folgenden: Hoechst), Gesellschaft deutschen Rechts, die Imperial Chemical Industries plc (im folgenden: ICI), Gesellschaft englischen Rechts, und die SNIA Fibre SpA (im folgenden: SNIA Fibre), Gesellschaft italienischen Rechts, haben mit Klageschrift, die am 12. Oktober 1990 bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, gemäß Artikel 173 Absatz 2 EWG-Vertrag die Nichtigerklärung einer Entscheidung der Kommission vom 1. August 1990 und, soweit erforderlich, eines Schreibens des Vizepräsidenten der Kommission Sir Leon Brittan vom 4. Oktober 1990 beantragt. In der angefochtenen Entscheidung vertrat die Kommission die Ansicht, es bestehe keine Verpflichtung zur vorherigen Anmeldung der Beihilfe, die der Gesellschaft Allied Signal von der französischen Regierung für die Errichtung einer Produktionseinheit für hochfeste Polyestergarne in der Region von Longwy gewährt worden sei, und Inhalt und Umfang dieser Beihilfe seien zufriedenstellend. In dem genannten Schreiben bestätigte Sir Leon Brittan diesen Standpunkt.

Rechtlicher Rahmen und Vorverfahren

2 Mit der Entscheidung 85/18/EWG vom 10. Oktober 1984 über die Abgrenzung der Gebiete in Frankreich, die Raumordnungsprämien erhalten können (ABl. 1985, L 11, S. 28), ließ die Kommission die Gewährung von Raumordnungsprämien in bestimmten Gebieten des französischen Mutterlands, u. a. der Region von Longwy (Meurthe-et-Moselle), als mit dem Gemeinsamen Markt vereinbar zu. Diese Entscheidung lässt aber nach ihrem Artikel 7 die Beachtung der geltenden oder künftigen spezifischen Vorschriften für bestimmte Sektoren unberührt.

3 Am 19. Juli 1977 richtete die Kommission ein Schreiben mit der Überschrift "Beihilfen für den Kunstfasersektor" an die Mitgliedstaaten. In ihm wird u. a. ausgeführt: "Die Produktionskapazitäten der Kunstfaserindustrie der EWG gehen... weit über die Absatzmöglichkeiten hinaus. Die Kommission... ist der Auffassung, daß die Mitgliedstaaten ab sofort ° und zwar für einen Zeitraum von zwei Jahren ° davon absehen sollten, auf dem Gebiet der Gewährung von Beihilfen neue Maßnahmen zu beschließen, die zu einer Erhöhung der bestehenden Produktionskapazität führen würden... Bei den regionalen Beihilfen muß dieser Verzicht auch dann gelten, wenn solche Beihilfen ohne weiteres und ohne vorherige Anmeldung gewährt werden." Ausserdem wird in dem Schreiben hervorgehoben, die Kommission müsse vorher mit allen Beihilfen befasst werden, die die Mitgliedstaaten gewähren wollten, und zwar unabhängig davon, ob mit ihnen eine Kapazitätserhöhung verbunden sei oder nicht. Es steht fest, daß die Mitgliedstaaten der in diesem Schreiben vorgesehenen "Beihilfendisziplin" zustimmten.

4 Nach Eingang der Antworten der Mitgliedstaaten leitete die Kommission ihnen im Jahr 1978 ein Memorandum zu, das einige Klarstellungen zur Auslegung der erwähnten Beihilfendisziplin, insbesondere zu ihrem Anwendungsbereich enthielt, der "sich auf Acryl-, Polyester- und Polyamidfasern erstreckt, die zur Verwendung in Textilien und zur industriellen Verwendung bestimmt sind". Es steht fest, daß diese Umgrenzung des Anwendungsbereichs der Beihilfendisziplin seinerzeit von den angeschriebenen Mitgliedstaaten nicht bestritten wurde.

5 Diese Beihilfendisziplin wurde alle zwei Jahre verlängert und ihr Anwendungsbereich gegebenenfalls ausgedehnt; die bei der Klageerhebung geltende Fassung findet sich in einer Mitteilung vom 8. Juli 1989 (ABl. C 173, S. 5). In dieser Mitteilung mit der Überschrift "Beihilfen zugunsten der Kunstfaserindustrie in der Gemeinschaft" hieß es insbesondere, die Kommission werde "eine ablehnende Vorabstellungnahme gegenüber geplanten... Beihilfemaßnahmen der Mitgliedstaaten abgeben... die eine Steigerung der Nettoproduktionskapazitäten der Unternehmen des Kunstfasersektors bewirken (Acryl-, Polyester-, Polypropylen- und Polyamidfasern und -garne sowie die Texturierung dieser Garne, unabhängig vom Typ des Erzeugnisses oder von der Art der Verwendung)".

6 Aus der Akte ergibt sich, daß das CIRFS im Jahre 1989 erfuhr, daß die Gesellschaft amerikanischen Rechts Allied Signal Inc. und die Allied Signal Fibers Europe SA, eine Tochtergesellschaft französischen Rechts dieser Gesellschaft (im folgenden: Allied Signal), mit der spanischen, der österreichischen und der französischen Regierung Kontakt aufgenommen hatten, um die Möglichkeit zu erkunden, eine Beihilfe für die Errichtung einer Produktionseinheit für Polyestergarne mit industriellem Verwendungszweck zu erhalten. Das CIRFS machte der Kommission hiervon Mitteilung und bat sie, bei den betreffenden Regierungen zu intervenieren. Das CIRFS nahm mit diesen Regierungen und mit den Vertretern von Allied Signal auch unmittelbar Kontakt auf, um ihnen seine Ansicht mitzuteilen, daß jede Beihilfe in diesem Wirtschaftszweig mit der geltenden Beihilfendisziplin unvereinbar sei.

7 Die Verhandlungen zwischen Allied Signal und der spanischen bzw. der österreichischen Regierung führten nicht zu einem Ergebnis, so daß von diesen Regierungen keine Beihilfen gewährt wurden.

8 Am 20. Juni 1990 bat das CIRFS die Kommission, bei den französischen Behörden zu intervenieren, damit diese Allied Signal keine Beihilfe gewährten. Nachdem die AKZO erfahren hatte, daß die französische Regierung beschlossen hatte, Allied Signal eine Raumordnungsprämie für die Errichtung einer zur Belieferung der europäischen Reifenhersteller bestimmten Polyesterfaserfabrik in der Region Longwy zu gewähren, teilte sie dem für Wettbewerbsfragen zuständigen Vizepräsidenten der Kommission Sir Leon Brittan mit Schreiben vom 29. Juni 1990 mit, daß sie wegen dieser Beihilfe besorgt sei, und bat ihn um eine Stellungnahme.

9 Am 1. August 1990 richtete die Kommission an das CIRFS ein Schreiben, in dem darauf hingewiesen wird, daß die Beihilfe in der Anwendung des regionalen Raumordnungsprämiensystems bestehe, daß die Entscheidung über die Gewährung der Beihilfe dem Unternehmen "vor der letzten Erweiterung der Beihilfendisziplin auf dem Gebiet der Kunstfasern" mitgeteilt worden sei und daß daher keine Verpflichtung zur vorherigen Anmeldung bestehe.

10 In einem an die AKZO gerichteten Schreiben vom 4. Oktober 1990 bestätigte Sir Leon Brittan diesen Standpunkt und hob dabei insbesondere hervor, zwar sei die auf diesem Gebiet geltende Beihilfendisziplin recht allgemein formuliert worden, die Kommission habe sie aber vor Juli 1989 enger ausgelegt und klargestellt, daß sie nur für Fasern gelte, die zur Verwendung in Textilien bestimmt seien.

11 Daraufhin haben die Kläger den Gerichtshof angerufen.

12 Mit Beschlüssen vom 20. März 1991 hat der Gerichtshof die Französische Republik, die Allied Signal und die Allied Signal Fibers Europe als Streithelferinnen zur Unterstützung der Anträge der Kommission zugelassen.

13 Mit Schreiben vom 7. Januar 1993 hat die AKZO dem Gerichtshof mitgeteilt, sie nehme ihre Klage gemäß Artikel 78 der Verfahrensordnung zurück. Mit Beschluß vom 18. Februar 1993 hat der Präsident der Fünften Kammer die Streichung der Rechtssache C-313/90 im Register des Gerichtshofes angeordnet, soweit es um die von der AKZO erhobene Klage geht.

14 Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts, des Verfahrensablaufs und des Parteivorbringens wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt wird im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.

Zum Streitgegenstand

15 Vorab ist der Streitgegenstand zu bestimmen.

16 Die Kläger beantragen die Nichtigerklärung der Entscheidung der Kommission vom 1. August 1990 und des Schreibens von Sir Leon Brittan vom 4. Oktober 1990. Sie machen geltend, die streitige Beihilfe falle entgegen der von der Kommission vorgenommenen Wertung in den Anwendungsbereich der Beihilfendisziplin und hätte dementsprechend zuvor gemäß Artikel 93 Absatz 3 des Vertrages angemeldet werden müssen.

17 Aus dieser Vorschrift ergibt sich, daß es Zweck der Verpflichtung zur vorherigen Anmeldung ist, der Kommission die Entscheidung zu ermöglichen, ob ein Verfahren nach Artikel 93 Absatz 2 des Vertrages eröffnet werden muß oder nicht. Somit ist die Entscheidung der Kommission, diese Verpflichtung gelte nicht für die streitige Beihilfe, gleichbedeutend mit der Entscheidung, das Verfahren nach Artikel 93 Absatz 2 deswegen nicht zu eröffnen, weil es sich um eine bestehende Beihilfe handele, für die eine Genehmigung bereits mit der erwähnten Entscheidung 85/18 erteilt worden sei.

18 Die Klage ist demnach so zu verstehen, daß sie auf die Nichtigerklärung der in den beiden erwähnten Mitteilungen enthaltenen Weigerung der Kommission gerichtet ist, das Verfahren nach Artikel 93 Absatz 2 zu eröffnen.

Zur Zulässigkeit

19 Die Streithelferinnen haben die Zulässigkeit der Klage bestritten und dazu im wesentlichen geltend gemacht, die Kläger hätten kein Klagerecht nach Artikel 173 Absatz 2 des Vertrages. Die Kläger sind der Meinung, die Streithelferinnen hätten nicht das Recht, einen solchen Einwand zu erheben.

20 Hierzu ist darauf hinzuweisen, daß die Kommission nur beantragt hat, die Klage als unbegründet abzuweisen, daß sie aber das Klagerecht der Kläger niemals bestritten hat. Sie hat sogar ganz im Gegenteil ausgeführt, in dem in Artikel 164 des Vertrages vorgesehenen Rechtsschutzsystem würde eine schwerwiegende Lücke entstehen, wenn Konkurrenten eines Unternehmens, das eine Beihilfe erhalten habe, das Recht verweigert würde, eine Entscheidung der Kommission anzufechten, mit der die Eröffnung eines Verfahrens nach Artikel 93 Absatz 2 des Vertrages abgelehnt werde.

21 Zu dem Recht der Streithelferinnen, die Unzulässigkeit der Klage geltend zu machen, ist darauf hinzuweisen, daß nach Artikel 37 Absatz 3 der EWG-Satzung des Gerichtshofes mit den aufgrund eines Beitritts gestellten Anträgen nur die Anträge einer Partei unterstützt werden können. Gemäß Artikel 93 § 4 der Verfahrensordnung muß der Streithelfer ausserdem den Rechtsstreit in der Lage annehmen, in der dieser sich zur Zeit des Beitritts befindet.

22 Daraus folgt, daß die Streithelferinnen die Zulässigkeit der Klage nicht bestreiten können und daß der Gerichtshof somit nicht verpflichtet ist, auf die von ihnen vorgebrachten Gründe einzugehen.

23 Da es sich aber um eine unverzichtbare Prozeßvoraussetzung handelt, ist die Zulässigkeit der Klage nach Artikel 92 § 2 der Verfahrensordnung von Amts wegen zu prüfen (vgl. insbesondere Urteil vom 11. Juli 1990 in den Rechtssachen C-305/86 und C-160/87, Neotype Techmashexport/Kommission und Rat, Slg. 1990, I-2945).

24 Hierzu ist zunächst darauf hinzuweisen, daß eine Handlung nur dann nach Artikel 173 des Vertrages angefochten werden kann, wenn sie Rechtswirkungen hat (vgl. Urteil vom 31. März 1971 in der Rechtssache 22/70, Kommission/Rat, "AETR", Slg. 1971, 263).

25 Die Annahme der Kommission, die Beihilfe werde von dem in Artikel 93 Absatz 3 des Vertrages vorgesehenen Verfahren der vorherigen Anmeldung nicht erfasst, läuft auf die Wertung hinaus, die fragliche Beihilfe falle zum einen nicht in den Anwendungsbereich der Beihilfendisziplin und stelle zum anderen als Raumordnungsprämie, für die die Entscheidung 85/18 gelte, eine bestehende Beihilfe dar.

26 Bei der angegriffenen Entscheidung handelt es sich nicht lediglich um eine vorbereitende Maßnahme, deren eventuelle Rechtswidrigkeit mit einer Klage gegen die das Verfahren abschließende Entscheidung geltend gemacht werden könnte, was einen ausreichenden Rechtsschutz gewährleisten würde. Die Weigerung, das in Artikel 93 Absatz 2 vorgesehene Verfahren zu eröffnen, stellt vielmehr eine endgültige Entscheidung dar und kann daher nicht als eine einfache vorbereitende Maßnahme angesehen werden.

27 Folglich hat die streitige Entscheidung endgültige Rechtswirkungen und kann daher gemäß Artikel 173 des Vertrages angefochten werden.

28 Da diese Entscheidung an die Französische Republik und nicht an die Kläger gerichtet war, ist weiter zu prüfen, ob diese davon unmittelbar und individuell im Sinne von Artikel 173 Absatz 2 des Vertrages betroffen sind.

29 Es steht fest, daß das CIRFS, ein Verband, in dem die wichtigsten internationalen Hersteller von Kunstfasern zusammengeschlossen sind, in deren Interesse und in bezug auf die Umstrukturierung dieses Sektors in vielfacher Weise tätig geworden ist. Es war insbesondere bei der Festlegung der Beihilfendisziplin sowie bei ihrer Verlängerung und Anpassung Gesprächspartner der Kommission. Das CIRFS führte ausserdem im Vorverfahren zu diesem Rechtsstreit aktiv die Verhandlungen mit der Kommission, namentlich indem es schriftliche Bemerkungen vorlegte und engen Kontakt zu den zuständigen Dienststellen hielt.

30 Die angefochtene Entscheidung betrifft also das CIRFS in seiner Eigenschaft als Verhandlungsführer bei der Ausarbeitung der Beihilfendisziplin. Die Klage ist somit, soweit sie vom CIRFS erhoben worden ist, zulässig (vgl. Urteil vom 2. Februar 1988 in den Rechtssachen 67/85, 68/85 und 70/85, Van der Kooy u. a./Kommission, Slg. 1988, 219).

31 Da es sich um eine gemeinsame Klage handelt, braucht nicht geprüft zu werden, ob die anderen Kläger klageberechtigt sind.

Zur Begründetheit

32 Die französische Regierung und Allied Signal halten die Klage für völlig unbegründet, weil ein drittes Unternehmen nicht das Recht habe, die Auslegung der Beihilfendisziplin zu bestreiten, die die Kommission und die Mitgliedstaaten für richtig gehalten hätten. Die Streithelferinnen weisen darauf hin, daß die Hauptadressaten einer Beihilfendisziplin die Mitgliedstaaten seien und daß der Rechtsprechung des Gerichtshofes zufolge (vgl. Urteil vom 24. Februar 1987 in der Rechtssache 310/85, Deufil/Kommission, Slg. 1987, 901) eine solche Beihilfendisziplin nur Leitlinien enthalte, die die Kommission bei ihrem Vorgehen befolgen wolle, nachdem die Mitgliedstaaten dem Wortlaut und der Tragweite ihrer Mitteilungen zugestimmt hätten.

33 Dem kann nicht gefolgt werden.

34 Zunächst einmal unterscheidet sich der vorliegende Fall von der Rechtssache Deufil/Kommission. In letzterer ging es im wesentlichen um die Frage, ob die damals zu beurteilende Beihilfendisziplin eine Abweichung von den Vertragsvorschriften vorsehen konnte, während sich im vorliegenden Fall die Frage stellt, ob eine Beihilfendisziplin zwingende Wirkungen haben kann. Die Erwägungen im Urteil Deufil/Kommission können also auf den vorliegenden Fall nicht übertragen werden.

35 Weiter ist festzustellen, daß im vorliegenden Fall die in der Beihilfendisziplin aufgeführten und von den Mitgliedstaaten anerkannten Bestimmungen insbesondere die Wirkung haben, daß bestimmten in den Anwendungsbereich der Beihilfendisziplin fallenden Beihilfen die früher ausgesprochene Genehmigung entzogen wird und daß sie folglich als neue Beihilfen anzusehen sind, für die die Verpflichtung zur vorherigen Anmeldung gilt.

36 Die Tatsache, daß die Beihilfendisziplin auf eine Vereinbarung zwischen den Mitgliedstaaten und der Kommission zurückgeht, kann also weder ihre objektive Bedeutung noch ihre zwingende Wirkung ändern.

37 Es ist daher auf die Klagegründe einzugehen, die die Kläger vorgebracht haben.

38 Mit ihrem ersten Klagegrund machen die Kläger geltend, die Beihilfendisziplin habe zu der Zeit, zu der die französische Regierung angeblich ihre Entscheidung getroffen hat, nämlich im Juni 1989, für Fasern gegolten, die in der Industrie verwendet werden. Seit 1977 sei die Beihilfendisziplin sowohl auf Kunstfasern, die in der Industrie verwendet werden als auch auf solche angewandt worden, die einen textilwirtschaftlichen Verwendungszweck haben. Insofern sei insbesondere der Wortlaut der Beihilfendisziplin vom 19. Juli 1977, in dem nicht nach dem Verwendungszweck der Fasern unterschieden werde, von Bedeutung wie auch das Memorandum von 1978, mit dem die Kommission klargestellt habe, daß sich der Geltungsbereich der Beihilfendisziplin auf Acryl-, Polyester- und Polyamidfasern mit textilwirtschaftlichem und mit industriellem Verwendungszweck erstrecke.

39 In der Klagebeantwortung und in der mündlichen Verhandlung hat die Kommission ausgeführt, die Beihilfendisziplin sei geschaffen worden, um eine Zunahme der Produktion auf Gebieten zu verhindern, auf denen es bereits eine Überproduktion und zu grosse Produktionskapazitäten gegeben habe. Letzteres sei aber nur bei Kunstfasern mit textilwirtschaftlichem Verwendungszweck der Fall gewesen. Die Kommission hat aber auch anerkannt, sie habe anfangs deutlich gemacht, daß sich der Geltungsbereich der Beihilfendisziplin auf Acryl-, Polyester- und Polyamidfasern mit textilwirtschaftlichem wie mit industriellem Verwendungszweck erstrecke. In der mündlichen Verhandlung hat die Kommission in Anbetracht des Wortlauts des Memorandums von 1978 ausserdem eingeräumt, daß zu dieser Zeit die Beihilfendisziplin für alle Arten von Fasern gegolten habe.

40 Es steht also fest, daß im Jahr 1977, als die Beihilfendisziplin in Kraft getreten ist, ihr Geltungsbereich alle Arten von Kunstfasern erfasste, also auch diejenigen mit einem industriellen Verwendungszweck.

41 Danach bleibt zu prüfen, ob der Geltungsbereich der Beihilfendisziplin später geändert worden ist, so daß die Fasern mit industriellem Verwendungszweck zu der Zeit ausgeschlossen waren, in der sich der Sachverhalt des vorliegenden Verfahrens abspielte.

42 Hierzu hat die Kommission ausgeführt, die Beihilfendisziplin sei durch eine Entscheidung von Juni 1988 geändert worden, mit der sie die Gewährung einer Beihilfe an einen deutschen Hersteller von Kunstfasern, nämlich die Gesellschaft Faserwerk Bottrop zur Errichtung einer neuen Produktionseinheit für sehr feine Titerfasern und Faserverbundstoffe aus Polypropylen und Polyäthylen genehmigt habe. Die Entscheidung sei getroffen worden, weil die genannte Produktionseinheit den herkömmlichen Textil- und Bekleidungssektor, für den nach Ansicht der Kommission die Beihilfendisziplin allein gegolten habe, nicht habe versorgen können. Diese Entscheidung stelle eine stillschweigende Änderung der Beihilfendisziplin dar, und sie habe in der Folgezeit im Hinblick auf den Grundsatz der Gleichbehandlung berücksichtigt werden müssen. Ausserdem habe das CIRFS von dieser stillschweigenden Änderung Kenntnis genommen, denn es habe insbesondere in bezug auf eine Erneuerung der Beihilfendisziplin im Jahre 1989 den Wunsch geäussert, sie auf hochfeste Garne, d. h. auf Fasern mit industriellem Verwendungszweck, zu erstrecken.

43 Dem kann nicht gefolgt werden.

44 Eine Handlung mit allgemeiner Tragweite kann nicht stillschweigend durch eine individuelle Entscheidung geändert werden.

45 Ferner kann die Wiederholung einer unzutreffenden Auslegung eines Aktes weder unter Berufung auf den Grundsatz der Gleichbehandlung noch unter Hinweis auf den Schutz berechtigten Vertrauens gerechtfertigt werden.

46 Schließlich kann auch der Umstand, daß das CIRFS den Wunsch geäussert hat, den Geltungsbereich der Beihilfendisziplin auf hochfeste Garne zu erstrecken, auf die Auslegung dieser Handlung, die objektiv sein muß, keinen Einfluß haben.

47 Demnach ist festzustellen, daß der Geltungsbereich der Beihilfendisziplin nicht durch die Entscheidung Bottrop oder die Art und Weise geändert worden ist, in der das CIRFS darauf reagiert hat.

48 Die französische Regierung hat ebenfalls geltend gemacht, der Geltungsbereich der Beihilfendisziplin sei nach ihrer Festlegung und vor der Gewährung der streitigen Beihilfe geändert worden. Die Kommission habe nämlich in ihrem Schreiben vom 7. Juli 1987 über die Verlängerung der Beihilfendisziplin für die Jahre 1987 bis 1989 darauf hingewiesen, daß "die Gemeinschaftsnachfrage nach synthetischen Fasern und Garnen für eine Verwendung in Textilien in der nächsten Zukunft bestenfalls stagniert..." Daraus folge, daß die französische Regierung bis zum Inkrafttreten der im Schreiben vom 6. Juni 1989 enthaltenen Bestimmungen, die Fasern mit industriellem Verwendungszweck zweifellos erfasst hätten, habe annehmen können, die Beihilfendisziplin beziehe sich nicht auf die streitige Beihilfe.

49 Dieser Ansicht ist nicht zu folgen.

50 In Anbetracht der Tatsache, daß die Beihilfendisziplin seit 1977 auf den Bereich der Kunstfasern mit textilwirtschaftlichem und mit industriellem Verwendungszweck angewandt worden ist, kann nicht angenommen werden, daß ihr Geltungsbereich durch eine in einem Schreiben enthaltene, sich auf die wirtschaftliche Lage dieses Sektors beziehende Betrachtung hätte eingeschränkt werden können.

51 Daher ist festzustellen, daß die Beihilfendisziplin für den Bereich der Kunstfasern mit industriellem Verwendungszweck gilt und auf diesen Bereich immer angewandt worden ist. Daraus folgt, daß für die streitige Beihilfe die Verpflichtung zur vorherigen Anmeldung gegolten hat und daß es insoweit nicht notwendig ist, den Zeitpunkt genau zu bestimmen, zu dem die fragliche Beihilfe gewährt worden ist.

52 Nach alledem ist die dem CIRFS mit Schreiben der Kommission vom 1. August 1990 mitgeteilte Entscheidung für nichtig zu erklären, in der es die Kommission abgelehnt hat, ein Verfahren gemäß Artikel 93 Absatz 2 des Vertrages in bezug auf die Beihilfe zu eröffnen, die dem Unternehmen Allied Signal von der Französischen Republik für die Errichtung eines Werks zur Herstellung von Polyesterfasern in der Region von Longwy gewährt worden ist.

Kostenentscheidung:

Kosten

53 Gemäß Artikel 69 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Kommission mit ihrem Vorbringen unterlegen ist, sind ihr die Kosten aufzuerlegen. Dies gilt jedoch nicht für die Kosten des Verfahrens der einstweiligen Anordnung, die die Kläger zu tragen haben.

54 Gemäß Artikel 69 § 4 Absätze 1 und 2 tragen die Französische Republik einerseits sowie Allied Signal und Allied Fibres Europe andererseits ihre eigenen Kosten.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)

für Recht erkannt und entschieden:

1) Die dem CIRFS mit Schreiben vom 1. August 1990 mitgeteilte Entscheidung, mit der es die Kommission abgelehnt hat, ein Verfahren gemäß Artikel 93 Absatz 2 EWG-Vertrag in bezug auf eine der Gesellschaft Allied Signal von der Französischen Republik gewährte Beihilfe einzuleiten, wird für nichtig erklärt.

2) Die Kommission trägt die Kosten des Verfahrens mit Ausnahme der Kosten des Verfahrens der einstweiligen Anordnung, die von den Klägern zu tragen sind. Die Streithelferinnen tragen ihre eigenen Kosten.

Ende der Entscheidung

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