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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 19.11.1998
Aktenzeichen: C-316/97 P
Rechtsgebiete: EG-Satzung


Vorschriften:

EG-Satzung Art. 49
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

1 Die Verwaltungsbeschwerde stellt zwar eine unerläßliche Voraussetzung für die Erhebung einer Klage gegen eine Maßnahme dar, die eine dem Statut unterliegende Person beschwert, soll jedoch den möglichen Rechtsstreit nicht streng und endgültig begrenzen, solange nur die in diesem Stadium gestellten Anträge weder den Grund noch den Gegenstand der Beschwerde ändern. Dies ist bei einer Anfechtungsklage gegen die Entscheidungen, die zu der Beschwerde geführt hatten, der Fall, bei der die zur Begründung des Aufhebungsantrags angeführten Klagegründe in engem Zusammenhang mit den in der Beschwerde erhobenen Rügen stehen.

2 Die in Artikel 25 Absatz 2 des Statuts vorgeschriebene Begründung einer beschwerenden Entscheidung soll es dem Gemeinschaftsrichter ermöglichen, ihre Rechtmässigkeit zu überprüfen, und dem Betroffenen ausreichende Hinweise für die Feststellung geben, ob die Entscheidung in der Sache begründet ist. Das Begründungserfordernis ist nach den Umständen des Einzelfalls, insbesondere nach dem Inhalt des Rechtsakts und der Art der angeführten Gründe, zu beurteilen.

Sofern in der betreffenden Entscheidung im Anschluß an eine ärztliche Kontrolluntersuchung festgestellt wird, daß das Fernbleiben eines Beamten vom Dienst unbefugt sei, und sie sich ausdrücklich auf die Beurteilung des Vertrauensarztes bezieht, daß der Beamte schon am Tag nach der Untersuchung fähig gewesen sei, den Dienst wiederaufzunehmen, ohne daß der Beamte dem Folge geleistet habe, ist es nicht erforderlich, daß das Gemeinschaftsorgan den Inhalt der medizinischen Beurteilungen, die der Vertrauensarzt nach der bei dem Beamten zu Hause vorgenommenen Untersuchung abgegeben hat, von Amts wegen dieser Entscheidung beifügt oder in ihrer Begründung wiedergibt. Da diese Beurteilungen nämlich möglicherweise unter die ärztliche Schweigepflicht fallen oder vertraulich zu behandeln sind, ist es Sache des Betroffenen oder die seines behandelnden Arztes, bei dem Organ gegebenenfalls zu beantragen, ihm diese Beurteilungen mitzuteilen.


Urteil des Gerichtshofes (Erste Kammer) vom 19. November 1998. - Europäisches Parlament gegen Giuliana Gaspari. - Rechtsmittel - Beamte - Krankheitsurlaub - Ärztliches Zeugnis - Ärztliche Kontrolluntersuchung - Dem ärztlichen Zeugnis widersprechende Ergebnisse - Begründungspflicht - Verteidigungsrechte. - Rechtssache C-316/97 P.

Entscheidungsgründe:

1 Das Europäische Parlament hat mit Rechtsmittelschrift, die am 12. September 1997 bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, gemäß Artikel 49 der EG-Satzung des Gerichtshofes ein Rechtsmittel gegen das Urteil des Gerichts erster Instanz vom 10. Juli 1997 in der Rechtssache T-36/96 (Gaspari/Parlament, Slg. ÖD 1997, II-595; im folgenden: angefochtenes Urteil) eingelegt, mit dem das Gericht die Entscheidung vom 22. Mai 1995, mit der das Parlament das Fernbleiben von Frau Gaspari vom Dienst am 5. Mai 1995 als unbefugt angesehen und einen Tag auf ihren Jahresurlaub angerechnet hat, und die Entscheidung vom 9. August 1995, mit der das Parlament diese Entscheidung bestätigt hat, aufgehoben hat.

2 Das Gericht hat im angefochtenen Urteil folgende Feststellungen getroffen:

"1 Die Klägerin, eine Beamtin der Besoldungsgruppe B 2 des Parlaments, die der Generaldirektion Parlamentarische Kanzlei (GD 1) in Luxemburg zugewiesen ist, übersandte dem Beklagten ein Zeugnis ihres behandelnden Arztes vom 3. Mai 1995, in dem sie von Mittwoch, dem 3. Mai, bis Freitag, dem 5. Mai 1995, für dienstunfähig erklärt wurde.

2 Am 4. Mai 1995 begab sich Dr. Broutchoux, der Vertrauensarzt des beklagten Gemeinschaftsorgans in Luxemburg, zum Zweck einer Kontrolluntersuchung in die Wohnung der Klägerin.

3 Nach Abschluß dieser Untersuchung teilte er ihr mit, daß sie seiner Auffassung nach fähig sei, ihren Dienst am folgenden Tag, also Freitag, dem 5. Mai 1995, wiederaufzunehmen.

4 Der Beklagte trägt vor, der Vertrauensarzt habe vergeblich versucht, den behandelnden Arzt der Klägerin nach seiner Kontrolluntersuchung telefonisch zu erreichen. Die Klägerin bestreitet dies und behauptet, nach dieser Untersuchung ihren behandelnden Arzt selbst angerufen zu haben.

5 Sie nahm ihren Dienst erst am Montag, dem 8. Mai 1995, wieder auf.

6 Am selben Tag beschwerte sie sich in einem Schreiben an den Generaldirektor für Personal, Haushalt und Finanzen des beklagten Organs über das Verhalten des Vertrauensarztes ihr gegenüber.

7 Der Leiter der Personalabteilung des beklagten Organs teilte ihr mit Schreiben vom 22. Mai 1995 (im folgenden: angefochtene Entscheidung) mit, daß ihr Fernbleiben vom Dienst am 5. Mai 1995 als unbefugt anzusehen sei, da der Vertrauensarzt ihr mitgeteilt habe, daß sie fähig sei, ihren Dienst an diesem Tag wiederaufzunehmen, und daß dieser Tag der Abwesenheit gemäß Artikel 60 des Statuts der Beamten der Europäischen Gemeinschaften (im folgenden: Statut) auf ihren Jahresurlaub angerechnet werde.

8 Mit Schreiben vom 9. August 1995 bestätigte er diese Entscheidung."

3 Artikel 59 Absatz 1 Unterabsätze 1 und 2 des Statuts lautet:

"Weist ein Beamter nach, daß er wegen Erkrankung oder infolge eines Unfalls seinen Dienst nicht ausüben kann, so erhält er Krankheitsurlaub.

Er hat sein Organ unverzueglich von seiner Dienstunfähigkeit zu unterrichten und dabei seinen Aufenthaltsort anzugeben. Vom vierten Tag seines Fernbleibens vom Dienst an hat er ein ärztliches Zeugnis vorzulegen. Er kann jeder ärztlichen Kontrolle unterstellt werden, die von dem Organ eingerichtet wird."

4 Artikel 60 des Statuts bestimmt:

"Der Beamte darf dem Dienst ausser bei Krankheit oder Unfall nicht ohne vorherige Zustimmung seines Vorgesetzten fernbleiben. Unbeschadet der etwaigen disziplinarrechtlichen Folgen wird jedes unbefugte Fernbleiben vom Dienst, das ordnungsgemäß festgestellt worden ist, auf den Jahresurlaub des Beamten angerechnet. Ist der Jahresurlaub des Beamten verbraucht, so verwirkt er für die entsprechende Zeit den Anspruch auf seine Dienstbezuege."

5 Frau Gaspari legte am 21. August 1995 gegen die Entscheidung vom 22. Mai 1995 Beschwerde ein, wobei sie geltend machte, daß sie mit ihrem Fernbleiben vom Dienst am Freitag, dem 5. Mai 1995, nur gewissenhaft die Anweisungen ihres Arztes befolgt habe und daß die Stellungnahme des Vertrauensarztes (den ihr behandelnder Arzt "gerne kennenlernen würde") haltlos sei, da er sie nie zuvor gesehen und Methoden angewandt habe, die sie als "voreingenommen" bezeichnete.

6 Das Parlament wies die Beschwerde mit Entscheidung vom 13. Dezember 1995 zurück.

7 Unter diesen Umständen hat Frau Gaspari mit Klageschrift, die am 14. März 1996 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, Klage erhoben gegen die Entscheidungen vom 22. Mai und 9. August 1995, mit denen das Parlament ihr Fernbleiben vom Dienst am 5. Mai 1995 als unbefugt angesehen und einen Tag auf ihren Jahresurlaub angerechnet hat.

Das angefochtene Urteil

8 Frau Gaspari hat ihre Klage auf drei Gründe gestützt, mit denen sie einen Verstoß gegen Artikel 25 des Statuts, einen Verstoß gegen Artikel 59 des Statuts und einen offensichtlichen Beurteilungsfehler geltend gemacht hat.

9 Artikel 25 Absatz 2 des Statuts bestimmt:

"Jede Verfügung auf Grund des Statuts ist dem betroffenen Beamten unverzueglich schriftlich mitzuteilen. Jede beschwerende Verfügung muß mit Gründen versehen sein."

10 Das Gericht hat jedoch festgestellt, daß das Vorbringen von Frau Gaspari zum ersten Klagegrund in Wirklichkeit darauf abziele, auch eine Verletzung ihrer Verteidigungsrechte darzutun, da ihr behandelnder Arzt, obwohl sie dies beantragt habe, nicht den Bericht des Vertrauensarztes erhalten habe, auf den sich die angefochtene Entscheidung stütze; daher hat das Gericht diesen Klagegrund in der Weise umgedeutet, daß mit ihm nicht nur ein Verstoß gegen die Begründungspflicht, sondern auch eine Verletzung der Verteidigungsrechte geltend gemacht werde (Randnr. 19 des angefochtenen Urteils).

11 Nur der in dieser Weise ergänzte erste Klagegrund ist vom Gericht geprüft worden.

12 Dazu hat das Gericht die Auffassung vertreten, daß die beschwerende Maßnahme zwar nicht der vom Vertrauensarzt im Anschluß an die Kontrolluntersuchung erstellte Bericht, sondern die Verwaltungsentscheidung sei, in der das Fernbleiben vom Dienst als unbefugt angesehen und auf ihren Jahresurlaub angerechnet worden sei, daß aber,

"da... die Feststellung, daß es sich um ein unerlaubtes Fernbleiben handelt, auf den Ergebnissen der in Artikel 59 Absatz 1 Unterabsatz 2 des Statuts genannten ärztlichen Kontrolle beruht,... der Bericht des Vertrauensarztes die einzige Grundlage für die betreffende Verwaltungsentscheidung [bildet]. Eine solche Entscheidung ist nur begründet, wenn sie sich logischerweise aus der Schlußfolgerung des Vertrauensarztes ergibt, daß der betreffende Beamte während seiner Abwesenheit dienstfähig war. Diese Schlußfolgerung muß sich ihrerseits logischerweise aus den Feststellungen ergeben, die bei der Kontrolluntersuchung getroffen worden sind" (Randnr. 27).

13 Das Gericht hat daraus gefolgert, daß

"der Beamte auf seinen Antrag von dem Bericht des Vertrauensarztes Kenntnis nehmen können muß, um in der Lage zu sein, die Gründe für die Verwaltungsentscheidung zu erkennen und so deren Begründetheit zutreffend zu beurteilen" (Randnr. 28).

14 Das Gericht hat weiter ausgeführt:

"30 Im vorliegenden Fall wurde der Bericht des Vertrauensarztes nicht der Klägerin oder ihrem behandelnden Arzt übermittelt, obwohl die Klägerin dies in ihrer Beschwerde beantragt hatte. Da die Begründung der angefochtenen Entscheidung in einem blossen Hinweis auf die Feststellung bestand, daß der Vertrauensarzt die Klägerin unterrichtet habe, daß sie seiner Auffassung nach fähig sei, ihren Dienst am 5. Mai 1995 wiederaufzunehmen, und daß sie ihren Dienst tatsächlich erst am 8. Mai 1995 wiederaufgenommen habe, war sie unter diesen Umständen rein formal und reichte daher nicht aus, um es der Klägerin zu ermöglichen, ihre sachliche Richtigkeit zu beurteilen.

31 Daraus folgt, daß der Klägerin trotz entsprechender Anträge zu keinem Zeitpunkt während des vorprozessualen Verfahrens Gelegenheit gegeben worden ist, unmittelbar oder mittelbar durch ihren behandelnden Arzt die genauen medizinischen Gründe zu erfahren, auf die die ihr gegenüber erlassene Entscheidung gestützt war; folglich war es ihr auch nicht möglich, zu den Feststellungen und Schlußfolgerungen des Vertrauensarztes Stellung zu nehmen und gegebenenfalls deren Begründetheit in Zweifel zu ziehen.

32 Der Grundsatz der Beachtung der Verteidigungsrechte stellt einen fundamentalen Grundsatz des Gemeinschaftsrechts dar, der in allen gegen eine Person eingeleiteten Verfahren, die zur Vornahme einer diese Person beschwerenden Handlung führen können, auch dann gewahrt werden muß, wenn eine Regelung für das betreffende Verfahren fehlt.

33 Angewandt auf das Verfahren der ärztlichen Kontrolle nach Artikel 59 Absatz 1 Unterabsatz 2 des Statuts, verlangt dieser Grundsatz, daß der Betroffene, der gegebenenfalls von seinem behandelnden Arzt unterstützt wird, in der Lage ist, zu den Ergebnissen der ärztlichen Kontrolluntersuchung in zweckdienlicher Weise Stellung zu nehmen und eventuell ihre Begründetheit in Zweifel zu ziehen [vgl. Urteil vom 6. Mai 1997 in der Rechtssache T-169/95, Quijano/Kommission, Slg. ÖD 1997, II-273, Randnr. 44]. Da der Betroffene jedoch die Begründetheit derartiger Schlußfolgerungen nicht in zweckdienlicher Weise in Zweifel ziehen kann, ohne von den ärztlichen Feststellungen, auf denen sie beruhen, Kenntnis genommen zu haben, verlangt der genannte Grundsatz, daß dem Betroffenen Gelegenheit gegeben wird, zu dem gesamten Bericht des Vertrauensarztes Stellung zu nehmen.

34 Im vorliegenden Fall kann nicht ausgeschlossen werden, daß der Beklagte eine andere als die angefochtene Entscheidung erlassen hätte, wenn die Klägerin zu dem Bericht des Vertrauensarztes hätte Stellung nehmen können. Deshalb ist die Rüge der Verletzung der Verteidigungsrechte der Klägerin begründet.

35 Aus alledem folgt, daß der erste Anfechtungsgrund durchgreift, da die Entscheidung fehlerhaft begründet ist und die Verteidigungsrechte der Klägerin verletzt wurden."

Das Rechtsmittel

15 Das Parlament stützt sein Rechtsmittel auf vier Gründe.

16 Mit seinem ersten Rechtsmittelgrund wirft das Parlament dem Gericht vor, daß es nicht die Klage wegen fehlender Übereinstimmung zwischen den in der Beschwerde und den in der Klageschrift geltend gemachten Gründen als unzulässig abgewiesen habe.

17 Insoweit genügt der Hinweis, daß nach ständiger Rechtsprechung die Verwaltungsbeschwerde zwar eine unerläßliche Voraussetzung für die Erhebung einer Klage gegen eine Maßnahme darstellt, die eine dem Statut unterliegende Person beschwert, daß sie den möglichen Rechtsstreit jedoch nicht streng und endgültig begrenzen soll, solange nur die in diesem Stadium gestellten Anträge weder den Grund noch den Gegenstand der Beschwerde ändern (vgl. insbesondere Urteil vom 20. März 1984 in den Rechtssachen 75/82 und 117/82, Razzouk und Beydoun/Kommission, Slg. 1984, 1509, Randnr. 9).

18 Im vorliegenden Fall war die beim Gericht erhobene Klage gegen die Entscheidungen gerichtet, die zu der Beschwerde geführt hatten, und die zur Begründung des Aufhebungsantrags angeführten Klagegründe standen in engem Zusammenhang mit den in der Beschwerde erhobenen Rügen, die in Randnummer 5 des vorliegenden Urteils zusammengefasst sind.

19 Der erste Rechtsmittelgrund ist daher als unbegründet zurückzuweisen.

20 Mit seinem dritten Rechtsmittelgrund wirft das Parlament dem Gericht vor, gegen Artikel 48 § 2 seiner Verfahrensordnung verstossen zu haben, indem es den Klagegrund der Verletzung der Verteidigungsrechte berücksichtigt habe, auf den sich Frau Gaspari erst in der Erwiderung berufen habe.

21 Das Gericht hat in Randnummer 19 des angefochtenen Urteils festgestellt, daß "ungeachtet der Überschrift des ersten Klagegrundes, die sich ausschließlich auf Artikel 25 des Statuts bezieht", das Vorbringen von Frau Gaspari zu diesem Klagegrund "in Wirklichkeit darauf abzielt, auch eine Verletzung ihrer Verteidigungsrechte darzutun, da ihr behandelnder Arzt, obwohl sie dies beantragt habe, nicht den Bericht des Vertrauensarztes erhalten habe, auf den sich die angefochtene Entscheidung stützt". Es handelt sich daher nicht um ein neues Angriffsmittel, sondern um eine Umdeutung, die das Gericht zu Recht vorgenommen hat.

22 Der dritte Rechtsmittelgrund ist somit als unbegründet zurückzuweisen.

23 Mit seinem zweiten und seinem vierten Rechtsmittelgrund, die gemeinsam zu behandeln sind, wirft das Parlament dem Gericht vor, es habe einen Rechtsfehler begangen, als es angenommen habe, daß die Entscheidung vom 22. Mai 1995 fehlerhaft begründet sei und das Parlament die Verteidigungsrechte von Frau Gaspari verletzt habe.

24 Das Parlament trägt vor, die streitige Entscheidung beziehe sich ausdrücklich auf das Ergebnis der gemäß Artikel 59 Absatz 1 des Statuts am 4. Mai 1995 bei Frau Gaspari zu Hause durchgeführten ärztlichen Kontrolluntersuchung. Die Entscheidung sei daher durch die Beurteilung des Vertrauensarztes motiviert, daß Frau Gaspari fähig gewesen sei, ihren Dienst wiederaufzunehmen; diese Beurteilung sei Frau Gaspari schon mit Abschluß der ärztlichen Kontrolluntersuchung bekannt gewesen.

25 Hinzu komme, daß die Verwaltung bezueglich der Maßnahmen, die aufgrund des Ergebnisses einer bei einem Beamten zu Hause durchgeführten ärztlichen Kontrolle zu ergreifen seien, über kein Ermessen verfüge: Sie könne nur das Ergebnis zur Kenntnis nehmen und die im Statut vorgesehenen Verwaltungsentscheidungen erlassen; nach dem Statut habe keine Abstimmung mit dem behandelnden Arzt des Beamten stattzufinden, und im Fall der Beanstandung sei in diesem Bereich auch keine Einsetzung eines Ärzteausschusses vorgesehen. Der Beamte, der das ungünstige Ergebnis der ärztlichen Kontrolle beanstande, habe nur die Möglichkeit, eine neue ärztliche Untersuchung zu beantragen oder ein weiteres Zeugnis des behandelnden Arztes oder eines anderen Arztes vorzulegen, der die Diagnose des behandelnden Arztes bestätige. Im vorliegenden Fall habe Frau Gaspari keinen dieser Schritte unternommen, sondern sich darauf beschränkt, die ärztlichen Beurteilungen zu beanstanden, ohne sich dabei auf Beweise zu stützen.

26 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes soll die in Artikel 25 Absatz 2 des Statuts vorgeschriebene Begründung einer beschwerenden Entscheidung es dem Gemeinschaftsrichter ermöglichen, ihre Rechtmässigkeit zu überprüfen, und dem Betroffenen ausreichende Hinweise für die Feststellung geben, ob die Entscheidung in der Sache begründet ist (vgl. u. a. Urteile vom 26. November 1981 in der Rechtssache 195/80, Michel/Parlament, Slg. 1981, 2861, Randnr. 22, und vom 20. November 1997 in der Rechtssache C-188/96 P, Kommission/V, Slg. 1997, I-6561, Randnr. 26). Das Begründungserfordernis ist nach den Umständen des Einzelfalls, insbesondere nach dem Inhalt des Rechtsakts und der Art der angeführten Gründe, zu beurteilen (vgl. Urteil vom 2. April 1998 in der Rechtssache C-367/95, Kommission/Sytraval und Brink's France, Slg. 1998, I-1719, Randnr. 63).

27 Sofern in der betreffenden Entscheidung im Anschluß an eine ärztliche Kontrolluntersuchung festgestellt wird, daß das Fernbleiben eines Beamten vom Dienst unbefugt sei, und sie sich ausdrücklich auf die Beurteilung des Vertrauensarztes bezieht, daß der Beamte schon am Tag nach der Untersuchung fähig gewesen sei, den Dienst wiederaufzunehmen, ohne daß der Beamte dem Folge geleistet habe, ist es nicht erforderlich, daß das Gemeinschaftsorgan den Inhalt der medizinischen Beurteilungen, die der Vertrauensarzt nach der bei dem Beamten zu Hause vorgenommenen Untersuchung abgegeben hat, von Amts wegen dieser Entscheidung beifügt oder in ihrer Begründung wiedergibt.

28 Da diese Beurteilungen nämlich möglicherweise unter die ärztliche Schweigepflicht fallen oder vertraulich zu behandeln sind, ist es, wenn der Betroffene die Schlußfolgerung des Vertrauensarztes beanstandet, seine Sache oder die seines behandelnden Arztes, bei dem Organ zu beantragen, ihm die medizinischen Beurteilungen des Vertrauensarztes mitzuteilen oder durch seinen ärztlichen Dienst mitteilen zu lassen.

29 Teilt das Organ diese Beurteilungen auf einen solchen Antrag hin jedoch nicht mit, so kann nicht ausgeschlossen werden, daß diese unterbliebene Mitteilung bei dem Beamten Zweifel an der Begründetheit der Entscheidung wecken. Im vorliegenden Fall ist aber, wie sich aus dem vom Gericht festgestellten Sachverhalt ergibt, die Übermittlung des Berichtes des Vertrauensarztes tatsächlich während des gerichtlichen Verfahrens (obgleich von Frau Gaspari in der Verwaltungsbeschwerde beantragt) erfolgt, was dem Gericht seine Kontrolle der Rechtmässigkeit der streitigen Entscheidung und Frau Gaspari die Prüfung der Begründetheit dieser Entscheidung erleichtert hat. In Anbetracht der vorstehenden Ausführungen genügen diese Umstände nicht für die Annahme, daß die Knappheit der Begründung der streitigen Entscheidung, die während des gerichtlichen Verfahrens in dieser Weise ergänzt worden ist, die Aufhebung der Entscheidung rechtfertigt.

30 Daraus folgt, daß das Gericht einen Rechtsfehler begangen hat, als es davon ausgegangen ist, daß die angefochtenen Entscheidungen fehlerhaft begründet seien.

31 Ebensowenig konnte das Gericht davon ausgehen, daß das Parlament mit dem Erlaß der streitigen Entscheidung die Verteidigungsrechte von Frau Gaspari verletzt habe.

32 Daher ist das angefochtene Urteil aufzuheben, da das Gericht mit der Annahme, daß die angefochtene Entscheidung fehlerhaft begründet sei und das Parlament die Verteidigungsrechte von Frau Gaspari verletzt habe, einen Rechtsfehler begangen hat.

Zu den Kosten im ersten Rechtszug

33 Bei der Entscheidung über die Kosten im ersten Rechtszug sind die vorstehenden Erwägungen bezueglich der knappen Begründung der angefochtenen Entscheidung zu berücksichtigen (vgl. Urteile vom 30. Mai 1984 in der Rechtssache 111/83, Picciolo/Parlament, Slg. 1984, 2323, Randnr. 30, und vom 8. März 1988 in den Rechtssachen 64/86, 71/86 bis 73/86 und 78/86, Sergio u. a./Kommission, Slg. 1988, 1399, Randnrn. 56 und 57).

34 Unabhängig von der Rechtmässigkeit des Inhalts der Entscheidung kann man es Frau Gaspari nicht verübeln, daß sie das Gericht angerufen hat, um deren Rechtmässigkeit überprüfen zu lassen. Daher ist die Entscheidung des Gerichts aufrechtzuerhalten, dem Parlament die gesamten erstinstanzlichen Kosten aufzuerlegen.

35 Diese Erwägung kann selbstverständlich nicht die Kosten des vorliegenden Verfahrens betreffen, über die noch zu befinden ist.

Zur Zurückverweisung der Sache an das Gericht

36 Artikel 54 Absatz 1 der EG-Satzung des Gerichtshofes lautet:

"Ist das Rechtsmittel begründet, so hebt der Gerichtshof die Entscheidung des Gerichts auf. Er kann sodann den Rechtsstreit selbst endgültig entscheiden, wenn dieser zur Entscheidung reif ist, oder die Sache zur Entscheidung an das Gericht zurückverweisen."

37 Im vorliegenden Fall kann der Gerichtshof die Sache nicht selbst entscheiden, da nicht ausgeschlossen ist, daß die Würdigung der anderen im ersten Rechtszug geltend gemachten Klagegründe zusätzliche Tatsachenfeststellungen voraussetzt. Die Sache ist daher an das Gericht zurückzuverweisen, damit es unter Prüfung der anderen von Frau Gaspari im ersten Rechtszug vorgetragenen Klagegründe entscheidet.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

(Erste Kammer)

für Recht erkannt und entschieden:

1. Das Urteil des Gerichts erster Instanz vom 10. Juli 1997 in der Rechtssache T-36/96 (Gaspari/Parlament) wird aufgehoben, soweit es die Entscheidung vom 22. Mai 1995, mit der das Parlament das Fernbleiben von Frau Gaspari vom Dienst am 5. Mai 1995 als unbefugt angesehen und einen Tag auf ihren Jahresurlaub angerechnet hat, und die Entscheidung vom 9. August 1995, mit der das Parlament diese Entscheidung bestätigt hat, wegen Verletzung der Begründungspflicht und der Verteidigungsrechte aufgehoben hat.

2. Die Sache wird zur Entscheidung über die anderen von Frau Gaspari im ersten Rechtszug vorgetragenen Klagegründe an das Gericht erster Instanz zurückverwiesen.

3. Die Kostenentscheidung bleibt vorbehalten.

Ende der Entscheidung

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