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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 28.03.1996
Aktenzeichen: C-318/94
Rechtsgebiete:


Vorschriften:

Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Die in Artikel 9 Buchstabe d der Richtlinie 71/305 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge in ihrer ursprünglichen Fassung, später in Artikel 5 Absatz 3 Buchstabe c der durch die Richtlinie 89/440 geänderten Fassung dieser Richtlinie vorgesehene Möglichkeit, den Auftrag nicht im Ausschreibungsverfahren, sondern im Verhandlungsverfahren zu vergeben, hängt davon ab, daß kumulativ drei Voraussetzungen erfuellt sind, u. a. daß ein unvorhersehbares Ereignis vorliegt. Ist eine dieser Voraussetzungen nicht gegeben, ist die Anwendung des Verhandlungsverfahrens nicht gerechtfertigt.

Erhebt eine Behörde eines Mitgliedstaats, die in einem nach den nationalen Rechtsvorschriften vorgesehenen Verfahren zur Genehmigung öffentlicher Bauvorhaben ihre Zustimmung zu einem bestimmten Vorhaben erteilen muß, bis zum Ablauf der Einwendungsfrist Einwendungen aus Gründen, zu deren Geltendmachung sie berechtigt ist, stellt dies kein unvorhersehbares Ereignis dar.

Daher verstösst ein Mitgliedstaat gegen seine Pflichten aus der Richtlinie, wenn die zuständigen Behörden wegen der Verzögerung, die durch die Weigerung einer Behörde, den ursprünglich geplanten Bauvorhaben zuzustimmen, eingetreten ist, von einer Vergabe im offenen Verfahren absehen und einen Teilauftrag im Verhandlungsverfahren ohne vorherige Vergabebekanntmachung vergeben.


Urteil des Gerichtshofes (Fünfte Kammer) vom 28. März 1996. - Kommission der Europäischen Gemeinschaften gegen Bundesrepublik Deutschland. - Vertragsverletzungsverfahren - Öffentliche Bauaufträge - Keine Veröffentlichung der Bekanntmachung eines Auftrags. - Rechtssache C-318/94.

Entscheidungsgründe:

1 Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften hat mit Klageschrift, die am 6. Dezember 1994 bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, gemäß Artikel 169 EG-Vertrag Klage auf Feststellung erhoben, daß die Bundesrepublik Deutschland dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus der Richtlinie 71/305/EWG des Rates vom 26. Juli 1971 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge (ABl. L 185, S. 5) in der Fassung der Richtlinie 89/440/EWG des Rates vom 18. Juli 1989 (ABl. L 210, S. 1; nachstehend: Richtlinie) verstossen hat, daß das Wasser- und Schiffahrtsamt Emden einen öffentlichen Bauauftrag betreffend die Ausbaggerung der Unterems von Papenburg nach Oldersum im Rahmen eines Verhandlungsverfahrens ohne vorherige Veröffentlichung einer Vergabebekanntmachung im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften vergeben hat.

2 Im September 1989 wurde auf Antrag der Stadt Papenburg der Ausbau der Unterems für 6,80 m tiefgehende Schiffe der sogenannten Panamaklasse in Aussicht genommen. Diese Vertiefung war für die Region von grosser wirtschaftlicher Bedeutung. Darüber hinaus verpflichtete sich im Laufe des Jahres 1990 die Meyer-Werft, der grösste Arbeitgeber in dem Raum, spätestens bis zum 18. Februar 1992 ein Schiff dieser Klasse zu liefern. Für den Fall der Nichteinhaltung dieses Termins wurde eine Vertragsstrafe von 80 000 USD pro Tag vorgesehen. Die Lieferung dieses Schiffes zu diesem Zeitpunkt war nur nach Durchführung der Ausbauarbeiten möglich.

3 Nach deutschem Recht musste für die Vertiefung der Unterems ein Planfeststellungsverfahren durchgeführt werden, das insbesondere die Zustimmung der Bezirksregierung Weser-Ems zu dem Vorhaben erforderlich machte. Als Termin für den Abschluß des Verfahrens war Ende Mai 1991 vorgesehen. Zu dieser Zeit teilte die Bezirksregierung Weser-Ems, die bis dahin keine Einwände erhoben hatte, mit, daß sie einer Feststellung des Plans aus ökologischen Gründen nicht zustimmen könne. Es wurde daher beschlossen, das Planfeststellungsverfahren nur für den Teil des Vorhabens weiterzuführen, der die vorübergehende Vertiefung für die Überführung des von der Meyer-Werft gebauten Schiffes betraf. Der Feststellungsbeschluß für diesen Teilplan wurde am 15. August 1991 bestandskräftig.

4 Das Wasser- und Schiffahrtsamt Emden, das die Arbeiten im offenen Verfahren vergeben wollte, hatte am 15. April 1991 eine Anzeige zur Vorinformation über die geplanten Baumaßnahmen versandt, die im Supplement zum Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften vom 20. April 1991 veröffentlicht wurde.

5 Angesichts der späten Planfeststellung beschloß das Wasser- und Schiffahrtsamt Emden, von der Durchführung des offenen Verfahrens abzusehen und den Auftrag im Wege des Verhandlungsverfahrens ohne vorherige Vergabebekanntmachung zu vergeben, was am 15. August 1991 geschah.

6 Mit Schreiben vom 12. November 1991 leitete die Kommission gegen die Bundesrepublik Deutschland gemäß Artikel 169 EG-Vertrag wegen Verstosses gegen die Verfahrensvorschriften für die Auftragsvergabe ein Vertragsverletzungsverfahren ein. Sie legte dar, daß die Wahl des Verhandlungsverfahrens im vorliegenden Fall nicht durch Artikel 5 Absatz 3 Buchstabe c der Richtlinie gerechtfertigt sei. In einer Mitteilung vom 6. März 1992 bestritt die Bundesregierung diesen Vorwurf.

7 Die Kommission wiederholte in ihrer mit Gründen versehenen Stellungnahme vom 27. April 1993 ihren Standpunkt und forderte die Bundesregierung auf, binnen zwei Monaten nach Bekanntgabe dieser Stellungnahme alle Maßnahmen zu ergreifen, um der Stellungnahme nachzukommen, insbesondere den fraglichen Auftrag sowie jeden weiteren unter den gleichen Bedingungen vergebenen Auftrag auszusetzen.

8 In ihrer Mitteilung vom 28. September 1993 bekräftigte die Bundesregierung, daß die Baumaßnahme zwingend am 18. Februar 1992, dem Termin für die Lieferung des Schiffes, habe abgeschlossen sein müssen. Dazu habe spätestens Mitte August 1991 mit ihr begonnen werden müssen. Wegen der Schwierigkeiten beim Planfeststellungsverfahren habe man nicht auf das offene Verfahren, zurückgreifen können, das mindestens 72 Tage gedauert hätte.

9 Da diese Antwort die Kommission nicht zufriedenstellte, hat sie die vorliegende Klage erhoben.

10 Es ist zu prüfen, ob die Bundesrepublik Deutschland den betreffenden Auftrag nach Artikel 5 Absatz 3 Buchstabe c der Richtlinie im Wege des Verhandlungsverfahrens ohne vorherige Vergabebekanntmachung vergeben konnte. Die genannte Bestimmung lautet:

"Die öffentlichen Auftraggeber können in den folgenden Fällen Bauaufträge im Verhandlungsverfahren ohne vorherige Vergabebekanntmachung vergeben:

....

c) soweit dies unbedingt erforderlich ist, wenn dringliche, zwingende Gründe im Zusammenhang mit Ereignissen, die die betreffenden öffentlichen Auftraggeber nicht voraussehen konnten, es nicht zulassen, die in den offenen, den nichtoffenen oder den Verhandlungsverfahren gemäß Absatz 2 vorgeschriebenen Fristen einzuhalten. Die angeführten Umstände zur Begründung der zwingenden Dringlichkeit dürfen auf keinen Fall den öffentlichen Auftraggebern zuzuschreiben sein;

..."

11 Die Richtlinie 71/305 sah vor ihrer Änderung durch die Richtlinie 89/440 in ihrem Artikel 9 vor:

"Die öffentlichen Auftraggeber können Bauaufträge, ohne die Vorschriften dieser Richtlinie ° ausgenommen Artikel 10 ° anzuwenden, in folgenden Fällen vergeben:

...

d) soweit dies unbedingt erforderlich ist, wenn dringliche, zwingende Gründe im Zusammenhang mit Ereignissen, die der öffentliche Auftraggeber nicht voraussehen konnte, es nicht zulassen, die in anderen Verfahren vorgeschriebenen Fristen einzuhalten."

12 Soweit in Artikel 5 Absatz 3 Buchstabe c der Richtlinie der Wortlaut des früheren Artikels 9 Buchstabe d übernommen worden ist, ist er in gleicher Weise auszulegen.

13 Demnach ist Artikel 9 der Richtlinie 71/305, der Ausnahmen von den Vorschriften zulässt, die die Wirksamkeit der durch den EG-Vertrag im Bereich der öffentlichen Bauaufträge eingeräumten Rechte gewährleisten sollen, eng auszulegen; die Beweislast dafür, daß die aussergewöhnlichen Umstände, die die Ausnahme rechtfertigen, tatsächlich vorliegen, obliegt demjenigen, der sich auf sie berufen will (Urteil vom 18. Mai 1995 in der Rechtssache C-57/94, Kommission/Italien, Slg. 1995, I-1249, Randnr. 23).

14 Ausserdem greift die in Artikel 9 Buchstabe d der Richtlinie 71/305 geregelte Ausnahme, nämlich die Befreiung von der Pflicht zur Veröffentlichung einer Bekanntmachung über die Ausschreibung, nur ein, wenn kumulativ drei Voraussetzungen erfuellt sind, wenn nämlich ein unvorhersehbares Ereignis vorliegt, dringliche und zwingende Gründe gegeben sind, die die Einhaltung der in anderen Verfahren vorgeschriebenen Fristen nicht zulassen, und schließlich ein Kausalzusammenhang zwischen dem unvorhersehbaren Ereignis und den sich daraus ergebenden dringlichen, zwingenden Gründen besteht (Urteil vom 2. August 1993 in der Rechtssache C-107/92, Kommission/Italien, Slg. 1993, I-4655, Randnr. 12). Ist eine dieser Voraussetzungen nicht gegeben, ist die Anwendung des Verhandlungsverfahrens nicht gerechtfertigt.

15 Nach Ansicht der Bundesregierung bestand das für die öffentlichen Auftraggeber unvorhersehbare Ereignis darin, daß die Bezirksregierung Weser-Ems nach dem Erörterungstermin ihre Zustimmung völlig unerwartet verweigerte.

16 Dieses Vorbringen ist zurückzuweisen.

17 Um den betroffenen öffentlichen und privaten Belangen in einem Verfahren zur Genehmigung öffentlicher Bauvorhaben Gehör zu geben, können die Mitgliedstaaten natürlichen oder juristischen Personen, deren Belange von einem Vorhaben berührt werden, bestimmte Rechte einräumen, die die zuständigen Behörden beachten müssen.

18 Daher ist es in einem Planfeststellungsverfahren vorhersehbar, daß eine Behörde, deren Zustimmung zu einem Vorhaben erforderlich ist, bis zum Ablauf der Einwendungsfrist Einwendungen aus Gründen erhebt, zu deren Geltendmachung sie berechtigt ist.

19 Infolgedessen stellt die Weigerung der Bezirksregierung Weser-Ems, der geplanten Ausbaggerung der Unterems zuzustimmen, die die zuständigen Behörden zur Abänderung des Vorhabens zwang, kein für die öffentlichen Auftraggeber unvorhersehbares Ereignis im Sinne des Artikels 5 Absatz 3 Buchstabe c der Richtlinie dar.

20 Ohne daß zu prüfen wäre, ob die weiteren Voraussetzungen für eine Ausnahme im vorliegenden Fall gegeben sind, ist somit festzustellen, daß die Bundesrepublik Deutschland dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus der Richtlinie 71/305/EWG des Rates vom 26. Juli 1971 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge in der Fassung der Richtlinie 89/440/EWG des Rates vom 18. Juli 1989 verstossen hat, daß das Wasser- und Schiffahrtsamt Emden einen öffentlichen Bauauftrag betreffend die Ausbaggerung der Unterems von Papenburg nach Oldersum im Rahmen eines Verhandlungsverfahrens ohne vorherige Veröffentlichung einer Vergabebekanntmachung im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften vergeben hat.

Kostenentscheidung:

Kosten

21 Gemäß Artikel 69 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Bundesrepublik Deutschland mit ihrem Vorbringen unterlegen ist, sind ihr die Kosten aufzuerlegen.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)

für Recht erkannt und entschieden:

1. Die Bundesrepublik Deutschland hat dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus der Richtlinie 71/305/EWG des Rates vom 26. Juli 1971 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge in der Fassung der Richtlinie 89/440/EWG des Rates vom 18. Juli 1989 verstossen, daß das Wasser- und Schiffahrtsamt Emden einen öffentlichen Bauauftrag betreffend die Ausbaggerung der Unterems von Papenburg nach Oldersum im Rahmen eines Verhandlungsverfahrens ohne vorherige Veröffentlichung einer Vergabebekanntmachung im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften vergeben hat.

2. Die Bundesrepublik Deutschland trägt die Kosten des Verfahrens.

Ende der Entscheidung

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