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Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 15.05.1991
Aktenzeichen: C-328/89
Rechtsgebiete: EWGV, VO Nr. 222/77/EWG


Vorschriften:

EWGV Art. 177
EWGV Art. 9
EWGV Art. 10
VO Nr. 222/77/EWG Art. 35
VO Nr. 222/77/EWG Art. 27
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Nach Artikel 35 Absatz 2 der Verordnung Nr. 222/77 über das gemeinschaftliche Versandverfahren in seiner vor der Änderung durch die Verordnung Nr. 3813/81 geltenden Fassung wurde der Sicherungsgeber von seinen Verpflichtungen befreit, wenn er nach Ablauf einer festgesetzten Frist nicht von der Abgangszollstelle über die Nichterledigung des Versandscheins T1 unterrichtet worden war. In dieser Fassung war diese Bestimmung so auszulegen, daß die Befugnis dazu, den Sicherungsgeber über die Nichterledigung des Versandscheins T1 zu unterrichten, ausschließlich der Abgangszollstelle zustand.


URTEIL DES GERICHTSHOFES (VIERTE KAMMER) VOM 15. MAI 1991. - BERNER ALLGEMEINE VERSICHERUNGSGESELLSCHAFT GEGEN AMMINISTRAZIONE DELLE FINANZE DELLO STATO. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: CORTE SUPREMA DI CASSAZIONE - ITALIEN. - GEMEINSCHAFTLICHES VERSANDVERFAHREN - FREIGABE DER KAUTION. - RECHTSSACHE C-328/89.

Entscheidungsgründe:

1 Die Corte suprema di cassazione hat mit Beschluß vom 19. Dezember 1988, beim Gerichtshof eingegangen am 24. Oktober 1989, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag eine Frage nach der Auslegung von Artikel 35 der Verordnung (EWG) Nr. 222/77 des Rates vom 13. Dezember 1976 über das gemeinschaftliche Versandverfahren (ABl. 1977 L 38, S. 1) zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Frage stellt sich in einem Rechtsstreit zwischen der schweizerischen Berner Allgemeinen Versicherungsgesellschaft (Klägerin) und der italienischen Amministrazione delle finanze dello Stato (staatliche Finanzverwaltung), in dem es um Verpflichtungen aus einer von der Klägerin nach Artikel 27 der Verordnung Nr. 222/77 geleisteten Sicherheit geht.

3 Die Verordnung Nr. 222/77 des Rates, die die kodifizierte Fassung des gemeinschaftlichen Versandverfahrens enthält, das ursprünglich mit der Verordnung (EWG) Nr. 542/69 des Rates vom 18. März 1969 (ABl. L 77, S. 1) eingeführt worden war, sieht für Waren, die nicht die Voraussetzungen der Artikel 9 und 10 EWG-Vertrag erfuellen, die Regelung des "externen gemeinschaftlichen Versandverfahrens" nach Abschnitt II, Artikel 12 bis 38, der Verordnung vor.

4 Nach Artikel 12 der Verordnung sind Waren, die in dem genannten Verfahren befördert werden sollen, mit einem Vordruck T1 zum Versand anzumelden. Diese Anmeldung ist von demjenigen, der die Abfertigung zum externen gemeinschaftlichen Versandverfahren beantragt und der nach Artikel 13 als Hauptverpflichteter bezeichnet wird, zu unterzeichnen und der Abgangszollstelle vorzulegen. Unter Abgangszollstelle ist nach Artikel 11 Buchstabe c die Zollstelle zu verstehen, bei der das gemeinschaftliche Versandverfahren beginnt. Nach Artikel 17 trägt die Abgangszollstelle unter anderem die Versandanmeldung T1 ein und bestimmt die Frist, innerhalb deren die Waren der Bestimmungszollstelle zu gestellen sind.

5 Nach Artikel 27 der Verordnung hat

"... der Hauptverpflichtete eine Sicherheit zu leisten, damit die Erhebung der Zölle und anderen Abgaben sichergestellt wird, die ein Mitgliedstaat für die Waren beanspruchen könnte, die sein Gebiet beim gemeinschaftlichen Gesamtverfahren berühren" und die "in einer selbstschuldnerischen Bürgschaft einer natürlichen oder juristischen dritten Person... besteht".

6 Artikel 35 der Verordnung Nr. 222/77 lautet:

"Der Sicherungsgeber ist von seinen Verpflichtungen gegenüber den Mitgliedstaaten, deren Gebiet bei der Beförderung im gemeinschaftlichen Versandverfahren berührt wurde, befreit, wenn der Versandschein T1 bei der Abgangszollstelle erledigt worden ist.

Der Sicherungsgeber ist auch nach Ablauf einer Frist von zwölf Monaten, vom Zeitpunkt der Registrierung des Versandpapiers T1 an gerechnet, von seinen Verpflichtungen befreit, wenn er von der Abgangszollstelle nicht über die Nichterledigung des Versandscheins T1 unterrichtet worden ist."

7 Aufgrund der Änderungen, die an der Verordnung Nr. 222/77 durch die am 1. Januar 1983 in Kraft getretene Verordnung (EWG) Nr. 3813/81 des Rates vom 15. Dezember 1981 (ABl. L 383, S. 28) vorgenommen wurden, wurde Artikel 35 Absatz 2 durch folgende Bestimmung ersetzt:

"Der Sicherungsgeber ist auch nach Ablauf einer Frist von zwölf Monaten, vom Zeitpunkt der Registrierung des Versandpapiers T1 an gerechnet, von seinen Verpflichtungen befreit, wenn er von den zuständigen Zollbehörden des Abgangsmitgliedsstaats nicht über die Nichterledigung des Versandscheins T1 unterrichtet worden ist."

8 Nach dem zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Schweizerischen Eidgenossenschaft geschlossenen Abkommen [Verordnung (EWG) Nr. 2812/72 des Rates vom 21. November 1972 (ABl. L 294, S. 1)], das sich seit dem 1. Januar 1974 in Kraft befindet (Bekanntmachung veröffentlicht in ABl. 1973 L 334, S. 13), gelten die Bestimmungen über das gemeinschaftliche Versandverfahren für Waren, die zwischen zwei in der Gemeinschaft gelegenen Orten über schweizerisches Gebiet befördert werden, und zwar sowohl bei unmittelbarem Versand, mit oder ohne Umladung in der Schweiz, als auch beim Weiterversand von der Schweiz aus, gegebenenfalls nach Lagerung in einem Zollager. Diese Bestimmungen können auch auf andere Warenbeförderungen angewandt werden, die sowohl das Gebiet der Gemeinschaft als auch das der Schweiz berühren.

9 Nach den Akten stellte das schweizerische Zollamt Locarno-Cadenazzo (Abgangszollstelle) im Oktober 1978 zwei Versandpapiere T1 für Waren aus, die dazu bestimmt waren, in Belgien zum freien Verkehr abgefertigt zu werden. Die fraglichen Waren wurden jedoch vorschriftswidrig in Italien zum freien Verkehr abgefertigt.

10 Die Klägerin, die die Bürgschaft nach der dargestellten Regelung übernommen hatte, wurde von der schweizerischen Zollverwaltung im Juli 1979 von der Nichterledigung der genannten Versandpapiere T1 unterrichtet.

11 Im Januar 1982 erließ das Zollamt Como gegen die Sicherungsgeberin einen Zahlungsbescheid über 6 250 000 LIT wegen Nichterledigung der Versandpapiere T1. Die Klägerin erhob gegen diesen Bescheid Klage beim Tribunale Mailand; zur Begründung machte sie insbesondere geltend, daß sie entgegen Artikel 35 der Verordnung Nr. 222/77 in seiner damals geltenden Fassung nicht von der Abgangszollstelle über die Nichterledigung unterrichtet worden sei. Die Amministrazione delle finanze dello Stato machte demgegenüber geltend, daß die Sicherungsgeberin innerhalb der vorgeschriebenen Frist von einer zuständigen schweizerischen Stelle über die Nichterledigung unterrichtet worden sei.

12 Dieser Rechtsstreit ist vor die Corte suprema di cassazione gelangt, die zur Auslegung von Artikel 35 Absatz 2 der Verordnung Nr. 222/77 ausgeführt hat, daß die neue Fassung dieser Bestimmung, die nach Erledigung des dem Rechtsstreit zugrundeliegenden Sachverhalts in Kraft getreten sei und die allgemein "von den zuständigen Zollbehörden des Abgangsstaats" und nicht mehr von der "Abgangszollstelle" spreche, entweder als Klarstellung der ursprünglichen Fassung oder im Gegenteil als Änderung angesehen werden könne.

13 Die Corte suprema di cassazione hat daher das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Ist Artikel 35 der Verordnung (EWG) Nr. 222/77 des Rates vom 13. Dezember 1976 über das gemeinschaftliche Versandverfahren - der in seiner ursprünglichen Fassung bestimmt, daß der Sicherungsgeber von seinen Verpflichtungen befreit ist, wenn er nach Ablauf einer Frist von zwölf Monaten, vom Zeitpunkt der Registrierung des Versandpapiers T1 an gerechnet, von der Abgangszollstelle nicht über die Nichterledigung des Versandscheins T1 unterrichtet worden ist - so auszulegen, daß zur Vornahme dieser Unterrichtung ausschließlich die Abgangszollstelle befugt ist, oder so, daß diese Befugnis auch der Stelle zusteht, die - nach der innerstaatlichen Rechtsordnung - der Abgangszollstelle im Verwaltungsaufbau übergeordnet ist und an deren Statt eine solche Handlung vornehmen kann?

14 Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts des Ausgangsverfahrens, des rechtlichen Rahmens und der beim Gerichtshof eingereichten schriftlichen Erklärungen wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt ist im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.

15 Die Klägerin und die Kommission führen aus, nach der im maßgebenden Zeitpunkt geltenden Fassung von Artikel 35 der Verordnung Nr. 222/77 trete die Haftung der Sicherungsgeberin nur dann ein, wenn sie durch die Abgangszollstelle von der Nichterledigung des Versandpapiers T1 unterrichtet worden sei. Der Ausdruck Abgangszollstelle habe genau den Sinn, der in Artikel 11 Buchstabe c definiert sei, und sei somit hinreichend deutlich, um keiner Klarstellung zu bedürfen. Daher bestätige die mit Wirkung vom 1. Januar 1983 vorgenommene Änderung der fraglichen Bestimmung, daß diese in ihrer ursprünglichen Fassung einen engeren Sinn gehabt habe.

16 Die italienische Regierung macht hingegen geltend, daß der Zweck der fraglichen Bestimmung darin bestehe, daß der Sicherungsgeber mit Sicherheit und innerhalb der vorgeschriebenen Frist vom Schicksal seiner Bürgschaftsverpflichtung unterrichtet werde. Der Sicherungsgeber könne keine berechtigten Zweifel an der Richtigkeit dieser Unterrichtung haben, wenn diese von der der Abgangszollstelle im Verwaltungsaufbau übergeordneten Stelle stamme. Die rein grammatikalische Auslegung der fraglichen Bestimmung müsse deshalb hinter deren logischer Auslegung zurücktreten. Mit der Änderung sei daher eine Klarstellung bezweckt worden.

17 Diesem Vorbringen kann nicht gefolgt werden.

18 Wie der Gerichtshof nämlich in seinem Urteil vom 18. Februar 1982 in der Rechtssache 277/80 (SIC, Slg. 1982, 629) entschieden hat, bezweckt die fragliche Bestimmung, Personen, die eine Bürgschaft für Versandverfahren übernommen haben, Rechtssicherheit insbesondere dadurch zu gewährleisten, daß sie nach Ablauf eines Zeitraums von zwölf Monaten deren Befreiung vorsieht, sofern sie nicht über die Nichterledigung des Versandpapiers T1 unterrichtet worden sind.

19 Daher haben auf der Grundlage dieses Erfordernisses der Rechtssicherheit Personen, die eine Bürgschaft für Versandverfahren übernommen haben und dabei in keiner unmittelbaren Beziehung zu diesen Verfahren stehen, das Recht, eindeutig diejenigen Voraussetzungen zu erfahren, unter denen ihre Haftung ausgelöst wird. Jede Unsicherheit in bezug auf diese Voraussetzungen kann nämlich die mit der Sicherheitsleistung verbundenen Kosten erhöhen und würde daher gegen die Ziele der Regelung des Versandverfahrens verstossen.

20 Eine der Aufgaben der Abgangszollstelle nach der im maßgebenden Zeitraum geltenden Fassung des Artikels 35 der Verordnung Nr. 222/77 bestand gerade in der Unterrichtung des Sicherungsgebers von der Nichterledigung des Versandpapiers T1, so daß dieser erwarten durfte, daß eine solche Unterrichtung ausschließlich durch die Abgangszollstelle und nicht durch eine andere Behörde erfolgte, selbst wenn diese im Verwaltungsaufbau der Abgangszollstelle übergeordnet war. Dies ist die einzige Lösung, die den Erfordernissen der Rechtssicherheit genügen kann.

21 Da die Verpflichtung des Sicherungsgebers, Zölle und andere Abgaben zu zahlen, die bei einem Rechtsverstoß oder einer rechtswidrigen Handlungsweise im Zusammenhang mit dem Versandverfahren fällig werden, als eine Art Sanktion angesehen werden kann, ist darauf hinzuweisen, daß nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes eine Sanktion, selbst wenn sie keinen strafrechtlichen Charakter besitzt, nur dann verhängt werden darf, wenn sie auf einer klaren und unzweideutigen Rechtsgrundlage beruht (Urteil vom 25. September 1984 in der Rechtssache 117/83, Könecke, Slg. 1984, 3291).

22 Unter Berücksichtigung dieser Erwägungen darf von dem Begriff der Abgangszollstelle, wie er im Wortlaut der fraglichen Bestimmungen klar und deutlich bezeichnet ist, nicht abgewichen werden.

23 Diese Auslegung wird durch die Änderung der fraglichen Bestimmung durch die Verordnung Nr. 3813/81 bestätigt, die eine sachliche Änderung, nicht aber eine Klarstellung der vorher geltenden Fassung darstellt, wie aus der ersten Begründungserwägung der Änderungsverordnung hervorgeht, wonach es "aufgrund der mehrjährigen Erfahrung mit der Anwendung des gemeinschaftlichen Versandverfahrens... möglich [erscheint], einige der im Rahmen dieses Verfahrens zu erfuellenden Förmlichkeiten zu erleichtern".

24 Daher ist auf die Frage des nationalen Gerichts zu antworten, daß Artikel 35 der Verordnung Nr. 222/77 in seiner vor der Änderung durch die Verordnung Nr. 3813/81 geltenden Fassung so auszulegen ist, daß die Befugnis dazu, den Sicherungsgeber über die Nichterledigung des Versandscheins T1 zu unterrichten, ausschließlich der Abgangszollstelle zustand.

Kostenentscheidung:

Kosten

25 Die Auslagen der italienischen Regierung und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem nationalen Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)

auf die ihm von der Corte suprema di cassazione mit Beschluß vom 19. Dezember 1988 vorgelegte Frage für Recht erkannt:

Artikel 35 der Verordnung (EWG) Nr. 222/77 des Rates vom 13. Dezember 1976 über das gemeinschaftliche Versandverfahren in seiner vor der Änderung durch die Verordnung (EWG) Nr. 3813/81 des Rates vom 15. Dezember 1981 geltenden Fassung ist so auszulegen, daß die Befugnis dazu, den Sicherungsgeber über die Nichterledigung des Versandscheins T1 zu unterrichten, ausschließlich der Abgangszollstelle zustand.

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