Judicialis Rechtsprechung

Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:

Zurück

Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 27.06.1990
Aktenzeichen: C-33/89
Rechtsgebiete: BAT, EWGVtr


Vorschriften:

BAT § 62 Abs. 1
EWGVtr Art. 119
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

1. Das dem Arbeitnehmer beim Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis gewährte Übergangsgeld stellt eine Art aufgeschobenes Entgelt dar, auf das der Arbeitnehmer aufgrund seines Arbeitsverhältnisses Anspruch hat, das ihm aber erst bei der Beendigung des Arbeitsverhältnisses gezahlt wird, um ihm die Anpassung an die dadurch entstandenen neuen Umstände zu erleichtern. Dieses Übergangsgeld fällt daher grundsätzlich unter den Begriff des Entgelts im Sinne des Artikels 119 EWG-Vertrag.

2. Artikel 119 EWG-Vertrag steht der Anwendung einer Bestimmung eines Tarifvertrags für den nationalen öffentlichen Dienst entgegen, die es den Arbeitgebern gestattet, Teilzeitbeschäftigte von der Zahlung eines Übergangsgeldes beim Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis auszunehmen, wenn sich herausstellt, daß erheblich weniger Männer als Frauen teilzeitbeschäftigt sind, es sei denn, der Arbeitgeber legt dar, daß diese Bestimmung durch objektive Faktoren gerechtfertigt ist, die nichts mit einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu tun haben.

3. Im Falle einer mittelbaren Diskriminierung durch eine Bestimmung eines Tarifvertrags haben die Angehörigen der benachteiligten Gruppe, sei es die der Männer oder der Frauen, entsprechend dem Umfang ihrer Beschäftigung Anspruch auf die gleiche Behandlung und auf Anwendung der gleichen Regelung wie die übrigen Arbeitnehmer, wobei diese Regelung, solange Artikel 119 EWG-Vertrag nicht ordnungsgemäß in das innerstaatliche Recht umgesetzt ist, daß einzig gültige Bezugssystem bleibt.


URTEIL DES GERICHTSHOFES (SECHSTE KAMMER) VOM 27. JUNI 1990. - MARIA KOWALSKA GEGEN FREIE UND HANSESTADT HAMBURG. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: ARBEITSGERICHT HAMBURG - DEUTSCHLAND. - SOZIALPOLITIK - UEBERGANGSGELD WEGEN AUSSCHREIDENS AUS DEM ARBEITSVERHAELTNIS - AUSSCHLUSS VON TEILZEITBESCHAEFTIGTEN - ARTIKEL 119 EWG-VERTRAG. - RECHTSSACHE C-33/89.

Entscheidungsgründe:

1 Das Arbeitsgericht Hamburg hat mit Beschluß vom 12. Dezember 1988, beim Gerichtshof eingegangen am 9. Februar 1989, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag zwei Fragen nach der Auslegung von Artikel 119 EWG-Vertrag und der Richtlinie 75/117/EWG des Rates vom 10. Februar 1975 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Anwendung des Grundsatzes des gleichen Entgelts für Männer und Frauen ( ABl. L 45, S. 19 ) zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Fragen stellen sich in einem Rechtsstreit zwischen der Klägerin Kowalska und ihrem ehemaligen Arbeitgeber, der Freien und Hansestadt Hamburg, über den Anspruch der Klägerin auf Übergangsgeld anläßlich ihres Ausscheidens aus dem Berufsleben.

3 Aus den Akten ergibt sich, daß für das fragliche Arbeitsverhältnis der Bundesangestelltentarifvertrag ( BAT ) galt. Gemäß § 62 BAT haben vollbeschäftigte Arbeitnehmer, die die Voraussetzungen hierfür erfuellen, am Tage der Beendigung des Arbeitsverhältnisses Anspruch auf ein Übergangsgeld.

4 Unter Berufung auf diese Vorschrift versagte die Beklagte der Klägerin die Zahlung des Übergangsgelds mit der Begründung, sie sei teilzeitbeschäftigt gewesen.

5 Die Klägerin sah darin eine gesetzwidrige mittelbare Diskriminierung und erhob beim Arbeitsgericht Hamburg Klage. Nach Auffassung des vorlegenden Gerichts wirft diese Klage Fragen nach der Auslegung der Artikel 117 und 119 EWG-Vertrag sowie der Richtlinie 75/117 auf. Es hat daher das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt :

"1 ) Liegt ein Verstoß gegen Artikel 119 des EWG-Vertrags von 1957 in der Form der 'mittelbaren Diskriminierung von Frauen' vor, wenn ein Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst der Bundesrepublik Deutschland ein Übergangsgeld in Höhe von bis zu vier Monatsgehältern, dessen historische Grundlage im Beamtenrecht liegt, bei unverschuldetem Ausscheiden aus dem Angestelltenverhältnis ( insbesondere bei Erreichen der Altersgrenze, entsprechender Pensionierung, Arbeitsunfähigkeit oder wesentlicher Herabsetzung der Arbeitsfähigkeit ) vorsieht, jedoch Angestellte, mit denen nicht die volle regelmässige Arbeitszeit ( 38 Stunden pro Woche ) vereinbart worden ist, von der Zahlung dieses Übergangsgeldes ausnimmt, und der Anteil der teilzeitbeschäftigten Frauen an der Gesamtzahl der teilzeitbeschäftigten Angestellten, die unter den Tarifvertrag fallen, erheblich grösser ist als der Frauenanteil an der Gesamtzahl der unter den Tarifvertrag fallenden vollzeitbeschäftigten Angestellten?

2 ) Für den Fall der Bejahung der Frage 1 : Gebieten Artikel 119 in Verbindung mit Artikel 117 des EWG-Vertrages und/oder die Regelung der Richtlinie 75/117/EWG des Rates, daß den Teilzeitbeschäftigten entgegen der Regelung im Tarifvertrag ein ( dem Verhältnis des Umfangs ihrer Beschäftigung entsprechender ) Anspruch auf das Übergangsgeld zusteht, oder scheitert ein derartiger Anspruch an der Regelungsautonomie der Tarifvertragsparteien?"

6 Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts des Ausgangsverfahrens, der fraglichen gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften, des Verfahrensablaufs und der beim Gerichtshof eingereichten schriftlichen Erklärungen wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt wird im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.

Zur ersten Frage

7 Die erste Frage des vorlegenden Gerichts geht dahin, ob Artikel 119 EWG-Vertrag der Regelung eines Tarifvertrags für den öffentlichen Dienst entgegensteht, nach der die Arbeitgeber nur vollzeitbeschäftigten Arbeitnehmern ein Übergangsgeld beim Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis zahlen, wenn zur Gruppe der Teilzeitbeschäftigten weit mehr Frauen als Männer gehören.

8 Zur Beantwortung dieser Frage ist zunächst zu prüfen, ob das den Arbeitnehmern beim Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis gewährte Übergangsgeld in den Anwendungsbereich von Artikel 119 EWG-Vertrag fällt.

9 Wie der Gerichtshof entschieden hat, umfasst der Begriff des Entgelts im Sinne von Artikel 119 Absatz 2 alle gegenwärtigen oder künftigen in bar oder in Sachleistungen gezahlten Vergütungen, vorausgesetzt, daß sie der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer wenigstens mittelbar aufgrund des Dienstverhältnisses zahlt ( vgl. zuletzt das Urteil vom 17. Mai 1990 in der Rechtssache C-262/88, Barber/Guardian Royal Exchange Assurance Group, Slg. 1990, I-0000, Randnr. 12 ). Demnach schließt der Umstand, daß bestimmte Leistungen nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses erbracht werden, ihren Entgeltcharakter im Sinne des Artikels 119 EWG-Vertrag nicht aus.

10 Das dem Arbeitnehmer beim Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis gewährte Übergangsgeld stellt eine Art aufgeschobenes Entgelt dar, auf das der Arbeitnehmer aufgrund seines Arbeitsverhältnisses Anspruch hat, das ihm aber erst bei der Beendigung des Arbeitsverhältnisses gezahlt wird, um ihm die Anpassung an die dadurch entstandenen neuen Umstände zu erleichtern ( vgl. ebenso das Urteil vom 17. Mai 1990 in der Rechtssache C-262/88, a. a. O.).

11 Hieraus folgt, daß ein dem Arbeitnehmer beim Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis gewährtes Übergangsgeld grundsätzlich unter den Begriff des Entgelts im Sinne des Artikels 119 EWG-Vertrag fällt.

12 Da Artikel 119 zwingenden Charakter hat, ist das Verbot der diskriminierenden Ungleichbehandlung von männlichen und weiblichen Arbeitnehmern nicht nur für die Behörden verbindlich, sondern es erstreckt sich auch auf alle Tarifverträge, die die abhängige Erwerbstätigkeit kollektiv regeln, und auf alle Verträge zwischen Privatpersonen ( vgl. das Urteil vom 8. April 1976 in der Rechtssache 43/75, Defrenne, Slg. 1976, 455, Randnr. 39 ).

13 Aus den Akten ergibt sich, daß das Übergangsgeld beim Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis nach der einschlägigen Bestimmung des Tarifvertrags nur vollzeitbeschäftigten Arbeitnehmern zusteht. Ein Tarifvertrag wie der hier in Rede stehende, der es den Arbeitgebern gestattet, zwischen zwei Gruppen von Arbeitnehmern - denjenigen, die eine bestimmte Mindestzahl von Arbeitsstunden pro Woche oder pro Monat leisten, und denen, die bei gleicher Arbeit diese Mindeststundenzahl nicht erreichen - einen Unterschied beim Gesamtentgelt aufrechtzuerhalten, führt jedoch faktisch zu einer Diskriminierung der weiblichen Arbeitnehmer im Verhältnis zu den männlichen, wenn sich herausstellt, daß prozentual erheblich weniger Männer als Frauen teilzeitbeschäftigt sind. Ein derartiger Tarifvertrag muß grundsätzlich als Artikel 119 EWG-Vertrag zuwiderlaufend angesehen werden. Anders wäre dies nur, wenn die unterschiedliche Behandlung der beiden Arbeitnehmergruppen durch objektive Faktoren gerechtfertigt ist, die nichts mit einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu tun haben ( vgl. das Urteil vom 13. Mai 1986 in der Rechtssache 170/84, Bilka-Kaufhaus, Slg. 1986, 1607 ).

14 Im Verfahren hat die Stadt Hamburg im wesentlichen geltend gemacht, die Teilzeitbeschäftigten kämen für ihren Unterhalt und den Unterhalt ihrer Familien nicht ausschließlich mit ihrem Arbeitsentgelt auf und demgemäß bestehe für den Arbeitgeber keine Verpflichtung zu einer vorübergehenden Unterstützung Teilzeitbeschäftigter.

15 Es ist Sache des vorlegenden Gerichts - das allein für die Beurteilung des Sachverhalts zuständig ist - festzustellen, ob und inwieweit eine tarifvertragliche Bestimmung, die unterschiedslos für alle Arbeitnehmer gilt, im Ergebnis die Frauen jedoch stärker trifft als die Männer, durch objektive Gründe gerechtfertigt ist, die nichts mit einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu tun haben.

16 Auf die erste Frage des vorlegenden Gerichts ist somit zu antworten, daß Artikel 119 EWG-Vertrag dahin auszulegen ist, daß er der Anwendung einer Bestimmung eines Tarifvertrags für den nationalen öffentlichen Dienst entgegensteht, die es den Arbeitgebern gestattet, Teilzeitbeschäftigte von der Zahlung eines Übergangsgeldes beim Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis auszunehmen, wenn sich herausstellt, daß prozentual erheblich weniger Männer als Frauen teilzeitbeschäftigt sind, es sei denn, der Arbeitgeber legt dar, daß diese Bestimmung durch objektive Faktoren gerechtfertigt ist, die nichts mit einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu tun haben.

Zur zweiten Frage

17 Gegenstand der zweiten Frage sind die Folgen, die sich - insbesondere im Hinblick auf die Regelungsautonomie der Tarifvertragsparteien - ergäben, wenn das vorlegende Gericht die Unvereinbarkeit einer Bestimmung wie der vorliegenden Tarifvertragsklausel mit Artikel 119 EWG-Vertrag feststellte.

18 Wie der Gerichtshof im Urteil vom 8. April 1976 in der Rechtssache 43/75, a. a. O., entschieden hat, ist Artikel 119 EWG-Vertrag hinreichend bestimmt, so daß ein Betroffener vor einem innerstaatlichen Gericht unter Berufung auf diese Bestimmung verlangen kann, daß das Gericht nationale Rechtsvorschriften, einschließlich tarifvertraglicher Regelungen, die mit Artikel 119 unvereinbar sind, ausser Anwendung lässt.

19 Aus dem Urteil vom 13. Dezember 1989 in der Rechtssache C-102/88 ( Ruzius-Wilbrink, Slg. 1989, 4311 ) ergibt sich, daß in einem Fall mittelbarer Diskriminierung die Angehörigen der benachteiligten Gruppe, sei es die der Männer oder der Frauen, entsprechend dem Umfang ihrer Beschäftigung Anspruch auf Anwendung der gleichen Regelung wie die übrigen Arbeitnehmer haben. Dies gilt auch für diskriminierende Regelungen in Tarifverträgen.

20 Somit ist auf die zweite Frage zu antworten, daß im Falle einer mittelbaren Diskriminierung durch eine Bestimmung eines Tarifvertrags die Angehörigen der dadurch benachteiligten Gruppe entsprechend dem Umfang ihrer Beschäftigung Anspruch auf die gleiche Behandlung und auf Anwendung der gleichen Regelung wie die übrigen Arbeitnehmer haben, wobei diese Regelung, solange Artikel 119 EWG-Vertrag nicht ordnungsgemäß in das innerstaatliche Recht umgesetzt ist, das einzig gültige Bezugssystem bleibt.

Kostenentscheidung:

Kosten

21 Die Auslagen der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die Erklärungen beim Gerichtshof eingereicht hat, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF ( Sechste Kammer )

auf die ihm vom Arbeitsgericht Hamburg mit Beschluß vom 7. Februar 1989 vorgelegten Fragen für Recht erkannt :

1 ) Artikel 119 EWG-Vertrag ist dahin auszulegen, daß er der Anwendung einer Bestimmung eines Tarifvertrags für den nationalen öffentlichen Dienst entgegensteht, die es den Arbeitgebern gestattet, Teilzeitbeschäftigte von der Zahlung eines Übergangsgeldes beim Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis auszunehmen, wenn sich herausstellt, daß prozentual erheblich weniger Männer als Frauen teilzeitbeschäftigt sind, es sei denn, der Arbeitgeber legt dar, daß diese Bestimmung durch objektive Faktoren gerechtfertigt ist, die nichts mit einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu tun haben.

2 ) Im Falle einer mittelbaren Diskriminierung durch eine Bestimmung eines Tarifvertrags haben die Angehörigen der dadurch benachteiligten Gruppe entsprechend dem Umfang ihrer Beschäftigung Anspruch auf die gleiche Behandlung und auf Anwendung der gleichen Regelung wie die übrigen Arbeitnehmer, wobei diese Regelung, solange Artikel 119 EWG-Vertrag nicht ordnungsgemäß in das innerstaatliche Recht umgesetzt ist, das einzig gültige Bezugssystem bleibt.

Ende der Entscheidung

Zurück