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Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 25.05.1993
Aktenzeichen: C-334/91
Rechtsgebiete: EWGV, VO Nr. 2950/83/EWG


Vorschriften:

EWGV Art. 173
VO Nr. 2950/83/EWG Art. 5
VO Nr. 2950/83/EWG Art. 7
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Im Rahmen des Verfahrens zur Gewährung von Zuschüssen zur Finanzierung von Maßnahmen der beruflichen Bildung und Berufsberatung in den Mitgliedstaaten durch den Europäischen Sozialfonds ist der betreffende Mitgliedstaat der einzige Ansprechpartner des Fonds; er ist haftbar insofern, als er die sachliche und rechnerische Richtigkeit der in den Zahlungsanträgen des Begünstigten enthaltenen Angaben bescheinigt, und kann sogar verpflichtet sein, den ordnungsgemässen Abschluß der finanzierten Maßnahmen zu gewährleisten. Angesichts der zentralen Stellung des betreffenden Mitgliedstaats und der Bedeutung der Verantwortung, die dieser bei der Vorlage und Kontrolle der Finanzierung der Bildungsmaßnahmen übernimmt, stellt die ihm durch Artikel 6 Absatz 1 der Verordnung Nr. 2950/83 eröffnete Möglichkeit, vor Erlaß einer endgültigen Kürzungsentscheidung eine Stellungnahme abzugeben, ein wesentliches Formerfordernis dar, dessen Nichtbeachtung zur Nichtigkeit der Kürzungsentscheidung führt.


URTEIL DES GERICHTSHOFES (SECHSTE KAMMER) VOM 25. MAI 1993. - INNOVATION ET RECONVERSION INDUSTRIELLE ASBL GEGEN KOMMISSION DER EUROPAEISCHEN GEMEINSCHAFTEN. - EUROPAEISCHER SOZIALFONDS - ANTRAG AUF NICHTIGERKLAERUNG DER KUERZUNG EINES URSPRUENGLICH GEWAEHRTEN ZUSCHUSSES. - RECHTSSACHE C-334/91.

Entscheidungsgründe:

1 Die Gesellschaft ohne Gewinnzweck Innovation et Reconversion Industrielle hat mit Klageschrift, die am 27. Dezember 1991 bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, gemäß Artikel 173 Absatz 2 EWG-Vertrag Klage erhoben auf Nichtigerklärung der im Schreiben vom 6. November 1991 enthaltenen Entscheidung der Kommission, mit der der Zuschuß, den der Europäische Sozialfonds (im folgenden: Fonds) für ein für Rechnung der Klägerin vorgeschlagenes Bildungsvorhaben mit dem Aktenzeichen Nr. 85/0209/B6 genehmigt hatte, gekürzt wurde.

2 Nach Artikel 1 Absatz 2 Buchstabe a des Beschlusses 83/516/EWG des Rates vom 17. Oktober 1983 über die Aufgaben des Europäischen Sozialfonds (ABl. L 289, S. 38) beteiligt sich dieser u. a. an der Finanzierung von Maßnahmen der beruflichen Bildung und Berufsberatung.

3 Die innerstaatliche öffentlich-rechtliche Körperschaft, die die Mitfinanzierung des Vorhabens gewährleistet, reicht den Zuschussantrag im Namen des betroffenen Mitgliedstaats und für Rechnung des Kostenträgers des Vorhabens beim Fonds ein.

4 Gemäß Artikel 5 der Verordnung (EWG) Nr. 2950/83 des Rates vom 17. Oktober 1983 zur Anwendung des Beschlusses 83/516 (ABl. L 289, S. 1, im folgenden: Verordnung) hat die Genehmigung eines Finanzierungsantrags durch den Fonds die Zahlung eines Vorschusses auf den gewährten Zuschuß zur Folge.

5 Nach Artikel 5 Absatz 4 dieser Verordnung enthalten Anträge auf Restzahlung einen ins einzelne gehenden Bericht über den Inhalt, die Ergebnisse und die finanziellen Einzelheiten der Maßnahme. Der Mitgliedstaat bestätigt, daß die im Antrag enthaltenen Aufgaben sachlich und rechnerisch richtig sind.

6 Gemäß Artikel 7 Absatz 1 der Verordnung kann die Kommission die Verwendung der Zuschüsse an Ort und Stelle prüfen. Nach Absatz 3 dieses Artikels sorgt der betroffene Mitgliedstaat dafür, daß die Kommission Zugang zu den Unterlagen hat, die ihr erlauben, Ziel und Inhalt der Aufträge sowie den Ablauf, die Finanzierung und die Ergebnisse der Maßnahmen zu beurteilen, und hält die Belege der vorgenannten Bestätigung für die Kommission bereit.

7 Wird der Zuschuß des Fonds nicht unter den Bedingungen der Entscheidung über die Genehmigung verwandt, kann ihn die Kommission gemäß Artikel 6 Absatz 1 der Verordnung aussetzen, kürzen oder streichen, nachdem sie dem betroffenen Mitgliedstaat Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben hat. Nach Artikel 6 Absatz 2 ist ein Betrag, der nicht unter den in der Entscheidung über die Genehmigung festgelegten Bedingungen verwendet wurde, zu erstatten; der betroffene Mitgliedstaat haftet subsidiär für die ohne Rechtsgrund empfangenen Beträge, die für Maßnahmen gezahlt wurden, für die die Gewährleistung nach Artikel 2 Absatz 2 des Beschlusses 83/516 gilt.

8 Im vorliegenden Falle stellte das belgische Ministerium für Beschäftigung und Arbeit (im folgenden: Ministerium) am 7. März 1985 im Namen Belgiens und für Rechnung der Klägerin beim Fonds einen Zuschussantrag für eine Maßnahme zur Ausbildung von Unternehmerkandidaten zur Gründung und Leitung kleiner und mittlerer Unternehmen.

9 Mit Entscheidung vom 19. Juni 1985 genehmigte die Kommission den Zuschussantrag unter dem Aktenzeichen 85/0209/B6 für einen Zeitraum von zwei Jahren in Höhe von 27 381 000 BFR für die Ausbildung von 196 Personen. Diese Entscheidung wurde dem Ministerium übermittelt und sodann von diesem der Klägerin zur Kenntnis gebracht. Ein Vorschuß in Höhe von 30 % des genehmigten Betrages, nämlich 8 214 300 BFR, wurde am 10. Juli 1985 überwiesen.

10 Am 16. Juni 1987 beantragte die Klägerin die Zahlung des Restbetrags, wobei sie den veranschlagten Gesamtbetrag auf 14 783 755 BFR herabsetzte.

11 Mit Schreiben vom 28. November 1987 ersuchte die Kommission die belgischen Behörden um Informationen betreffend den allgemeinen Nachweis der Ausgaben und bestimmte von der Klägerin geltend gemachten Beträge. Die belgischen Behörden übermittelten der Kommission am 9. Dezember 1987 die insoweit von der Klägerin erteilten Auskünfte.

12 Am 17. März 1989 nahmen die Dienststellen der Kommission im Beisein von Vertretern der belgischen Behörden eine Prüfung des Vorhabens der Klägerin an Ort und Stelle vor.

13 Später richtete die Kommission das Schreiben vom 6. November 1991 an das Ministerium, das von diesem am 15. November 1991 der Klägerin übermittelt wurde; danach betrug der geänderte Zuschuß des Fonds nur noch 25/197 des im Antrag auf Restzahlung enthaltenen Betrages, also 1 833 588 BFR; dies wurde damit begründet, daß die 172 Personen, die weniger als 100 Stunden Ausbildung und Anleitung erhalten hätten, nicht als ausgebildet gelten könnten. Die Kommission wies darauf hin, daß nach Abzug des dem Kostenträger überwiesenen Vorschusses 6 380 712 BFR an die Kommission zurückzuzahlen seien.

14 In Beantwortung der vom Bevollmächtigten der Klägerin am 2. Dezember 1991 gestellten Frage, ob der betroffene Mitgliedstaat gemäß Artikel 6 Absatz 1 der Verordnung die Möglichkeit zur Stellungnahme gehabt habe, erklärte das Ministerium am 8. Dezember 1991, daß die am 17. März 1989 an Ort und Stelle vorgenommene Überprüfung "höchstwahrscheinlich" der Klägerin und den Dienststellen der Kommission Gelegenheit geboten habe, in Gegenwart der Vertreter des Ministeriums Informationen über dieses Dossier auszutauschen.

15 Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts, des Verfahrensablaufs und des Parteivorbringens wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt ist im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erforderte.

16 Zur Begründung ihrer Nichtigkeitsklage macht die Klägerin in erster Linie geltend, daß die im Schreiben der Kommission vom 6. November 1991 enthaltene Entscheidung insofern gegen Artikel 6 Absatz 1 der Verordnung verstossen habe, als die Kommission entgegen dieser Bestimmung dem betroffenen Mitgliedstaat keine Gelegenheit gegeben habe, vor dem Erlaß der streitigen Entscheidung Stellung zu nehmen.

17 Nach Ansicht der Kommission stellt das Schreiben vom 6. November 1991 keine Entscheidung dar, sondern lediglich die Übermittlung der Ergebnisse der Prüfung des Antrags auf Restzahlung an die belgischen Behörden. Diese hätten dann gemäß dem vorgenannten Artikel 6 Absatz 1, der kein formelles Anhörungsverfahren verlange, vor dem Erlaß der endgültigen Entscheidung Stellung nehmen können.

18 Dem Vorbringen der Kommission kann nicht gefolgt werden.

19 Zum einen besteht das Wesen der in diesem Schreiben enthaltenen Handlung darin, daß der der Klägerin zunächst gewährte Finanzzuschuß endgültig gekürzt und ihr darüber hinaus die Rückzahlung eines Teils des überwiesenen Zuschusses aufgegeben wird. Diese Handlung entfaltet mithin Rechtswirkungen in der Weise, daß sie durch eine ausgeprägte Änderung der Rechtsstellung der Klägerin in deren Interessen eingreift.

20 Zum anderen geht aus dem Dossier nicht hervor, daß die belgischen Behörden Gelegenheit gehabt hätten, gemäß den Bedingungen des Artikels 6 Absatz 1 Stellung zu nehmen.

21 Selbst wenn die Überprüfung, die die Dienststellen der Kommission an Ort und Stelle in Gegenwart von Vertretern der nationalen Behörden vorgenommen haben, Gelegenheit geboten hätte, Information über das Dossier der Klägerin auszutauschen, ist nicht erwiesen, daß sie es den nationalen Behörden ermöglicht hätte, vor der Entscheidung über die Kürzung des Zuschusses sowohl zum Grundsatz als auch zur Höhe der von der Kommission beabsichtigten Kürzung gehört zu werden.

22 Aus dem vom Finanzdienst der Kommission erstellten vertraulichen Bericht geht nämlich hervor, daß dieser Dienst erst nach der Überprüfung beabsichtigte, der Generaldirektion "Beschäftigung, Arbeitsbeziehungen und soziale Angelegenheiten" vorzuschlagen, die Beteiligung des Fonds auf den in der angefochtenen Kürzungsentscheidung letztlich festgelegten Betrag herabzusetzen und den darüber hinausgehenden Betrag zurückzufordern.

23 Im übrigen ist durch keinerlei Unterlagen belegt, daß die belgischen Behörden im Rahmen eines Schriftwechsels vor Erlaß der streitigen Kürzungsentscheidung eine spezifische Stellungnahme zu diesem Betrag abgeben konnten.

24 Nach ständiger Rechtsprechung ist jedoch der Mitgliedstaat der einzige Ansprechpartner des Fonds (vgl. Urteil vom 15. März 1984 in der Rechtssache 310/81, EISS/Kommission, Slg. 1984, 1341, Randnr. 15) und übernimmt insoweit selbst die Verantwortung, als er die sachliche und rechnerische Richtigkeit der in den Anträgen auf Restzahlung enthaltenen Angaben bestätigt und sogar gehalten sein kann, die ordnungsgemässe Durchführung der Bildungsmaßnahmen zu gewährleisten.

25 Angesichts der zentralen Stellung des Mitgliedstaats und der Bedeutung seiner Verantwortung bei der Vorlage und Prüfung der Finanzierung der Bildungsmaßnahmen stellt die ihm eröffnete Möglichkeit, vor Erlaß einer endgültigen Kürzungsentscheidung eine Stellungnahme abzugeben, ein wesentliches Formerfordernis dar, dessen Nichtbeachtung zur Nichtigkeit der angefochtenen Entscheidung führt (vgl. Urteile vom 7. Mai 1991 in der Rechtssache C-291/89, Interhôtel/Kommission, Slg. 1991, I-2257, Randnr. 17, und in der Rechtssache C-304/89, Oliveira/Kommission, Slg. 1991, I-2283, Randnr. 21, sowie vom 4. Juni 1992 in der Rechtssache C-157/90, Infortec/Kommission, Slg. 1992, I-3525, Randnr. 20).

26 Demgemäß ist die streitige Kürzungsentscheidung für nichtig zu erklären, ohne daß die übrigen von der Klägerin geltend gemachten Klagegründe geprüft zu werden brauchen.

Kostenentscheidung:

Kosten

27 Nach Artikel 69 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Kommission mit ihrem Vorbringen unterlegen ist, sind ihr die Kosten aufzuerlegen.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)

für Recht erkannt und entschieden:

1) Die Entscheidung der Kommission, mit der der Zuschuß des Europäischen Sozialfonds im Rahmen des Zuschussantrags Nr. 85/0209/B6 auf 1 833 588 BFR gekürzt wurde, wird für nichtig erklärt.

2) Die Kommission trägt die Kosten des Verfahrens.

Ende der Entscheidung

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