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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 07.06.2007
Aktenzeichen: C-335/05
Rechtsgebiete: EG, Dreizehnte Richtlinie 86/560/EWG


Vorschriften:

EG Art. 234
Dreizehnte Richtlinie 86/560/EWG Art. 2 Abs. 2
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)

7. Juni 2007

"Dreizehnte Mehrwertsteuerrichtlinie - Art. 2 Abs. 2 - GATS - Meistbegünstigungsklausel - Auslegung des abgeleiteten Gemeinschaftsrechts im Hinblick auf die von der Gemeinschaft geschlossenen völkerrechtlichen Verträge"

Parteien:

In der Rechtssache C-335/05

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 234 EG, eingereicht vom Finanzgericht Köln (Deutschland) mit Entscheidung vom 24. August 2005, beim Gerichtshof eingegangen am 15. September 2005, in dem Verfahren

Rízení Letového Provozu CR, s. p.

gegen

Bundesamt für Finanzen

erlässt

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten P. Jann sowie der Richter R. Schintgen (Berichterstatter), A. Tizzano, M. Ilesic und E. Levits,

Generalanwalt: P. Mengozzi,

Kanzler: R. Grass,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

- der zyprischen Regierung, vertreten durch E. Simeonidou als Bevollmächtigte,

- der polnischen Regierung, vertreten durch J. Pietras als Bevollmächtigten,

- der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch D. Triantafyllou als Bevollmächtigten,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 15. Februar 2007

folgendes

Urteil

Entscheidungsgründe:

1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 2 Abs. 2 der Dreizehnten Richtlinie 86/560/EWG des Rates vom 17. November 1986 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern - Verfahren der Erstattung der Mehrwertsteuer an nicht im Gebiet der Gemeinschaft ansässige Steuerpflichtige (ABl. L 326, S. 40, im Folgenden: Dreizehnte Richtlinie).

2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Gesellschaft tschechischen Rechts Rízení Letového Provozu CR, s. p. (im Folgenden: RLP) und dem in Deutschland für die Erhebung der Mehrwertsteuer zuständigen Bundesamt für Finanzen über die Vergütung von Mehrwertsteuer, die RLP in Deutschland entrichtet hat.

Rechtlicher Rahmen

Völkerrechtliche Verträge

3 Mit seinem Beschluss 94/800/EG vom 22. Dezember 1994 über den Abschluss der Übereinkünfte im Rahmen der multilateralen Verhandlungen der Uruguay-Runde (1986-1994) im Namen der Europäischen Gemeinschaft in Bezug auf die in ihre Zuständigkeiten fallenden Bereiche (ABl. L 336, S. 1) genehmigte der Rat der Europäischen Union das Übereinkommen zur Errichtung der Welthandelsorganisation sowie die Übereinkünfte in den Anhängen 1, 2 und 3 dieses Übereinkommens, zu denen das Allgemeine Übereinkommen über den Handel mit Dienstleistungen (General Agreement on Trade in Services, im Folgenden: GATS) gehört.

4 Art. II Abs. 1 GATS bestimmt:

"Jedes Mitglied gewährt hinsichtlich aller Maßnahmen, die unter dieses Übereinkommen fallen, den Dienstleistungen und Dienstleistungserbringern eines anderen Mitglieds sofort und bedingungslos eine Behandlung, die nicht weniger günstig ist als diejenige, die es den gleichen Dienstleistungen oder Dienstleistungserbringern eines anderen Landes gewährt."

Gemeinschaftsrecht

5 Der zweite Erwägungsgrund der Dreizehnten Richtlinie lautet:

"Eine harmonische Entwicklung der Handelsbeziehungen zwischen der Gemeinschaft und den Drittländern sollte dadurch gewährleistet werden, dass man sich an der Richtlinie 79/1072/EWG ausrichtet und dabei den unterschiedlichen Verhältnissen in den Drittländern Rechnung trägt."

6 Art. 2 der Dreizehnten Richtlinie bestimmt:

"(1) Unbeschadet der Artikel 3 und 4 erstattet jeder Mitgliedstaat einem Steuerpflichtigen, der nicht im Gebiet der Gemeinschaft ansässig ist, unter den nachstehend festgelegten Bedingungen die Mehrwertsteuer, mit der die ihm von anderen Steuerpflichtigen im Inland erbrachten Dienstleistungen oder gelieferten beweglichen Gegenstände belastet wurden oder mit der die Einfuhr von Gegenständen ins Inland belastet wurde, soweit diese Gegenstände und Dienstleistungen für Zwecke der in Artikel 17 Absatz 3 Buchstaben a) und b) der Richtlinie 77/388/EWG bezeichneten Umsätze oder der in Artikel 1 Nummer 1 Buchstabe b) der vorliegenden Richtlinie bezeichneten Dienstleistungen verwendet werden.

(2) Die Mitgliedstaaten können die Erstattung nach Absatz 1 von der Gewährung vergleichbarer Vorteile im Bereich der Umsatzsteuern durch die Drittländer abhängig machen.

(3) Die Mitgliedstaaten können die Benennung eines steuerlichen Vertreters verlangen."

Nationales Recht

7 § 18 Abs. 9 Satz 6 des Umsatzsteuergesetzes 1999 (BGBl. I 1999, S. 1270, im Folgenden: UStG) sieht vor:

"Einem Unternehmer, der nicht im Gemeinschaftsgebiet ansässig ist, wird die Vorsteuer nur vergütet, wenn in dem Land, in dem der Unternehmer seinen Sitz hat, keine Umsatzsteuer oder ähnliche Steuer erhoben oder im Fall der Erhebung im Inland ansässigen Unternehmern vergütet wird."

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

8 RLP ist ein in der Tschechischen Republik ansässiges Dienstleistungsunternehmen, das im Bereich der Flugsicherung tätig ist. Ihre Tätigkeit ist zwar auf das Gebiet der Tschechischen Republik beschränkt, doch wird sie nicht nur von tschechischen, sondern auch von deutschen Staatsbürgern in Anspruch genommen. Außerdem bietet sie Flugtrainings an, die in der Tschechischen Republik durchgeführt werden. Im Rahmen der entsprechenden Kurse griff sie allerdings auf Trainings am Flugsimulator und andere Schulungen in Deutschland zurück. Da in diesem Mitgliedstaat für die fraglichen Leistungen Mehrwertsteuer erhoben worden war, beantragte RLP die Vergütung der entsprechenden Steuer für das Jahr 2002.

9 Das Bundesamt für Finanzen lehnte diesen Antrag mit der Begründung ab, dass die Voraussetzungen für die Anwendung von § 18 Abs. 9 Satz 6 UStG - genauer gesagt: das Gegenseitigkeitserfordernis - nicht erfüllt seien.

10 Nachdem auch der gegen diesen Bescheid eingelegte Einspruch zurückgewiesen worden war, erhob RLP Klage beim Finanzgericht Köln.

11 Das vorlegende Gericht führt aus, dass die Tschechische Republik im maßgeblichen Zeitraum eine Umsatzsteuer erhoben habe, aber weder einen Abzug der Vorsteuer noch ihre Vergütung an ausländische Unternehmer vorgesehen habe. Daher fragt sich das Gericht, ob die Klägerin des Ausgangsverfahrens nicht im Licht von Art. II Abs. 1 GATS von der Umsatzsteuer befreit sein müsse. Dazu weist es darauf hin, dass es sich beim GATS um einen völkerrechtlichen Vertrag handele, der nur zwischen den Mitgliedern Rechte und Pflichten begründe. Im Fall eines Verstoßes gegen eine Verpflichtung aus dem GATS sei allein die im Rahmen der Welthandelsorganisation getroffene Vereinbarung über Regeln und Verfahren zur Beilegung von Streitigkeiten anzuwenden.

12 Allerdings sei nach Art. 300 Abs. 7 EG ein Übereinkommen wie das GATS für die Organe der Gemeinschaft und die Mitgliedstaaten verbindlich und bilde einen integrierenden Bestandteil der Gemeinschaftsrechtsordnung. Daher sei das sekundäre Gemeinschaftsrecht im Licht dieses Übereinkommens und insbesondere der in seinem Art. II Abs. 1 enthaltenen Meistbegünstigungsklausel auszulegen.

13 Da das Finanzgericht Köln der Ansicht ist, dass die Entscheidung über den Ausgangsrechtsstreit von der Vereinbarkeit des UStG mit Art. 2 Abs. 2 der Dreizehnten Richtlinie abhängt, und Zweifel daran hat, wie diese Bestimmung im Hinblick auf das GATS genau auszulegen ist, hat es beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Ist Art. 2 Abs. 2 der Dreizehnten Richtlinie einschränkend dahin gehend auszulegen, dass die dort den Mitgliedstaaten eingeräumte Möglichkeit, die Mehrwertsteuererstattung von der Gewährung vergleichbarer Vorteile im Bereich der Umsatzsteuern durch Drittländer abhängig zu machen, sich nicht auf solche Staaten bezieht, die sich als Vertragsparteien des GATS (BGBl. II 1994, 1473, 1643) auf dessen Meistbegünstigungsklausel (Art. II Abs. 1 GATS) berufen können?

Zur Vorlagefrage

14 Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 2 Abs. 2 der Dreizehnten Richtlinie dahin gehend auszulegen ist, dass der dort verwendete Begriff "Drittländer" auch solche Drittländer umfasst, die sich auf die Meistbegünstigungsklausel nach Art. II Abs. 1 GATS berufen können.

15 Dazu ist festzustellen, dass sich Art. 2 Abs. 2 der Dreizehnten Richtlinie, wie der Generalanwalt in Nr. 59 seiner Schlussanträge dargelegt hat, ebenso wie die anderen Bestimmungen der Richtlinie eindeutig auf alle Drittländer ohne jeden Unterschied bezieht.

16 Was den Einfluss betrifft, den ein völkerrechtlicher Vertrag wie das GATS, zu dessen Vertragsparteien die Gemeinschaft gehört, auf die Auslegung einer Bestimmung des abgeleiteten Gemeinschaftsrechts haben kann, so gebietet es der Vorrang der von der Gemeinschaft geschlossenen völkerrechtlichen Verträge vor den Bestimmungen des abgeleiteten Gemeinschaftsrechts nach ständiger Rechtsprechung, diese Bestimmungen nach Möglichkeit in Übereinstimmung mit den genannten Verträgen auszulegen (Urteile vom 10. September 1996, Kommission/Deutschland, C-61/94, Slg. 1996, I-3989, Randnr. 52, vom 1. April 2004, Bellio F.lli, C-286/02, Slg. 2004, I-3465, Randnr. 33, vom 12. Januar 2006, Algemene Scheeps Agentuur Dordrecht, C-311/04, Slg. 2006, I-609, Randnr. 25, und vom 8. März 2007, Thomson und Vestel France, C-447/05 und C-448/05, Slg. 2007, I-0000, Randnr. 30).

17 Im vorliegenden Fall genügt jedoch die Feststellung, dass Art. 2 Abs. 2 der Dreizehnten Richtlinie mit der Bestimmung, dass die Mitgliedstaaten die Erstattung nach Abs. 1 desselben Artikels von der Gewährung vergleichbarer Vorteile durch die Drittländer abhängig machen können, den Mitgliedstaaten keine Verpflichtung auferlegt, sondern ihnen nur eine bloße Möglichkeit eröffnet und sie in keiner Weise daran hindert, den Verpflichtungen nachzukommen, die sie gegebenenfalls in einem völkerrechtlichen Vertrag wie dem GATS eingegangen sind.

18 Denn da Art. 2 Abs. 2 der Dreizehnten Richtlinie jedem Mitgliedstaat für die einzelnen Drittländer die Entscheidung darüber überlässt, ob jeweils ein Gegenseitigkeitserfordernis vorzusehen ist oder nicht, erlaubt er es den Mitgliedstaaten, ihre Gesetzgebung in dem Maße, in dem diese Entscheidungsfreiheit durch mit bestimmten Drittländern geschlossene Verträge beschränkt wird, an die entsprechenden Verträge anzupassen.

19 Das Erfordernis, das abgeleitete Gemeinschaftsrecht nach Möglichkeit in Übereinstimmung mit den von der Gemeinschaft geschlossenen völkerrechtlichen Verträgen auszulegen, gebietet es daher nicht, dass der Begriff "Drittländer" in Art. 2 Abs. 2 der Dreizehnten Richtlinie dahin gehend ausgelegt wird, dass er auf Drittländer beschränkt ist, die sich nicht auf die Meistbegünstigungsklausel nach Art. II Abs. 1 GATS berufen können.

20 Allerdings lässt Art. 2 Abs. 2 der Dreizehnten Richtlinie auch die Befugnis und die Verantwortung der Mitgliedstaaten unberührt, ihren Verpflichtungen aus völkerrechtlichen Verträgen wie dem GATS nachzukommen.

21 Nach alledem ist auf die vorgelegte Frage zu antworten, dass Art. 2 Abs. 2 der Dreizehnten Richtlinie dahin gehend auszulegen ist, dass der dort verwendete Begriff "Drittländer" alle Drittländer umfasst und dass diese Bestimmung die Befugnis und die Verantwortung der Mitgliedstaaten unberührt lässt, ihren Verpflichtungen aus völkerrechtlichen Verträgen wie dem GATS nachzukommen.

Kostenentscheidung:

Kosten

22 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Tenor:

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:

Art. 2 Abs. 2 der Dreizehnten Richtlinie 86/560/EWG des Rates vom 17. November 1986 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern - Verfahren der Erstattung der Mehrwertsteuer an nicht im Gebiet der Gemeinschaft ansässige Steuerpflichtige - ist dahin auszulegen, dass der dort verwendete Begriff "Drittländer" alle Drittländer umfasst und dass diese Bestimmung die Befugnis und die Verantwortung der Mitgliedstaaten unberührt lässt, ihren Verpflichtungen aus völkerrechtlichen Verträgen wie dem Allgemeinen Übereinkommen über den Handel mit Dienstleistungen nachzukommen.



Ende der Entscheidung

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