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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 27.10.1993
Aktenzeichen: C-338/91
Rechtsgebiete: Richtlinie 79/7/EWG, AAW


Vorschriften:

Richtlinie 79/7/EWG Art. 4 Abs. 1
AAW Art. 32 Abs. 1 Buchst. b
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

1. Das Gemeinschaftsrecht steht der Anwendung einer nationalen Rechtsvorschrift nicht entgegen, nach der eine Leistung bei Erwerbsunfähigkeit frühestens von einem ein Jahr vor der Anstellung liegenden Zeitpunkt an gewährt werden kann, wenn ein einzelner sich auf die Rechte beruft, die ihm aufgrund von Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie 79/7 betreffend das Verbot von Diskriminierungen aufgrund des Geschlechts im Bereich der sozialen Sicherheit vom 23. Dezember 1984 an unmittelbar zustehen, und der betroffene Mitgliedstaat diese Bestimmung im Zeitpunkt der Antragstellung noch nicht ordnungsgemäß in sein innerstaatliches Recht umgesetzt hat.

Eine nationale Vorschrift, die die Rückwirkung von Anträgen auf Gewährung einer Leistung bei Erwerbsunfähigkeit begrenzt, ist nämlich nicht darauf gerichtet, das Recht der einzelnen, sich vor einem nationalen Gericht gegenüber einem säumigen Mitgliedstaat auf die Richtlinie 79/7 zu berufen, zu beeinträchtigen, sondern sie entspricht zum einen den Erfordernissen einer ordnungsgemässen Verwaltung, insbesondere was die Möglichkeit angeht, zu überprüfen, ob der Betroffene die Voraussetzungen für den Leistungsanspruch erfuellte, und den Grad der Erwerbsunfähigkeit festzusetzen, der sich im übrigen im Laufe der Zeit ändern kann, und zum anderen der Notwendigkeit, das finanzielle Gleichgewicht eines Systems zu erhalten, in dem die Anträge, die von den Versicherten im Laufe eines Jahres eingereicht werden, grundsätzlich durch die während desselben Jahres erhobenen Beiträge gedeckt sein müssen.

2. Ein Mitgliedstaat darf eine Vorschrift, die nach ihrem Wortlaut zwischen Frauen und Männern im Sinne von Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie 79/7 diskriminiert, nicht beibehalten. Wenn eine solche Vorschrift jedoch nach nationaler ständiger Rechtsprechung trotz ihres Wortlauts ohne Unterschied auf Frauen und auf Männer in der gleichen Lage angewandt wird, steht nichts dem entgegen, daß ein nationales Gericht in bei ihm anhängigen Verfahren diese Vorschrift im Rahmen einer solchen Rechtsprechung, die es ihm ermöglicht, die volle Wirksamkeit des Artikels 4 Absatz 1 zu gewährleisten, weiter anwendet, solange der Mitgliedstat die zu ihrer vollständigen Umsetzung erforderlichen gesetzgeberischen Maßnahmen noch nicht erlassen hat.

Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie verwehrt es einem nationalen Gericht nicht, eine Rechtsvorschrift anzuwenden, die nur Frauen als Folge der Gewährung einer Witwenrente eine Leistung bei Erwerbsunfähigkeit entzieht, sofern diese Vorschrift nach nationaler ständiger Rechtsprechung sowohl auf erwerbsunfähige Witwen als auch auf erwerbsunfähige Witwer angewendet wird.


URTEIL DES GERICHTSHOFES VOM 27. OKTOBER 1993. - H. STEENHORST-NEERINGS GEGEN BESTUUR VAN DE BEDRIJFSVERENIGING VOOR DETAILHANDEL, AMBACHTEN EN HUISVROUWEN. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: RAAD VAN BEROEP'S-HERTOGENBOSCH - NIEDERLANDE. - GLEICHBEHANDLUNG VON MAENNERN UND FRAUEN - SOZIALE SICHERHEIT - EINSCHRAENKUNG DER RUECKWIRKUNG EINES ANTRAGS AUF EINE LEISTUNG - UEBERGANG VON EINER LEISTUNG WEGEN ERWERBSUNFAEHIGKEIT AUF EINE LEISTUNG FUER HINTERBLIEBENE. - RECHTSSACHE C-338/91.

Entscheidungsgründe:

1 Der Raad van Beroep Herzogenbusch (Niederlande) hat mit Beschluß vom 17. Dezember 1991, beim Gerichtshof eingegangen am 30. Dezember 1991, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag zwei Fragen nach der Auslegung des Artikels 4 Absatz 1 der Richtlinie 79/7/EWG des Rates vom 19. Dezember 1978 zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit (ABl. 1979, L 6, S. 24) zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Fragen stellen sich in einem Rechtsstreit zwischen der niederländischen Staatsangehörigen H. Steenhorst-Neerings (Klägerin) und dem Bestuur van de Bedrijfsvereniging voor Detailhandel, Ambachten en Huisvrouwen (Direktion der Berufsgenossenschaft für Einzelhandel, Handwerker und Hausfrauen; Beklagte).

3 In den Niederlanden bestand nach der Algemene Arbeidsongeschiktheidswet (Allgemeines Erwerbsunfähigkeitsgesetz; im folgenden: AAW) für Männer und für unverheiratete Frauen nach Ablauf des ersten Jahres der Erwerbsunfähigkeit ein Leistungsanspruch bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres.

4 Die Wet invoering gelijke uitkeringsrechten voor mannen en vrouwen (Gesetz vom 20. Dezember 1979 zur Einführung gleicher Leistungsansprüche für Männer und Frauen, Stb. 1979, 708) begründete diesen Anspruch auch für verheiratete Frauen mit Ausnahme derjenigen Frauen, deren Erwerbsunfähigkeit vor dem 1. Oktober 1975 eingetreten war.

5 Mit mehreren Urteilen vom 5. Januar 1988 entschied der Centrale Raad van Beroep, daß dieser Ausschluß eine mit Artikel 26 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte vom 19. Dezember 1966 (Treaties Series, Bd. 999, S. 171) unvereinbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts darstelle, da sie nur für verheiratete Frauen gelte. Er folgerte daraus, daß auch verheiratete Frauen, deren Arbeitsunfähigkeit vor dem 1. Oktober 1975 eingetreten war, seit dem 1. Januar 1980, dem Tag des Inkrafttretens des Gesetzes vom 20. Dezember 1979, Anspruch auf eine Leistung aufgrund der AAW hätten.

6 Gemäß Artikel 25 Absatz 2 AAW kann die Gewährung der Leistung wegen Erwerbsunfähigkeit frühestens ein Jahr vor dem Tag beginnen, an dem der Antrag gestellt wird oder die Leistung von Amts wegen zuerkannt wird, es sei denn, die zuständige Berufsgenossenschaft lässt in besonderen Fällen eine Ausnahme zu.

7 Ferner bestimmt Artikel 32 Absatz 1 Buchstabe b AAW:

"Die Gewährung der Leistung bei Erwerbsunfähigkeit wird eingestellt, wenn

...

b) eine Frau, der sie zuerkannt wurde, Anspruch auf eine Witwenrente oder eine befristete Leistung für Witwen nach der Algemene Weduwen- en Wezenwet erwirbt."

8 Die Algemene Weduwen- en Wezenwet (Allgemeines Witwen- und Waisengesetz, im folgenden: AAW) räumt der Witwe eines Versicherten unter bestimmten Voraussetzungen bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres einen Anspruch auf eine Witwenrente ein.

9 Die am 13. August 1925 geborene Klägerin erhielt seit 1963 eine Invaliditätsrente nach der seinerzeit geltenden Invaliditeitswet (Invaliditätsgesetz). Nach den genannten Urteilen des Centrale Raad van Beroep vom 5. Januar 1988 stellte sie am 17. Mai 1988 bei der Beklagten einen Antrag auf Gewährung einer Leistung nach der AWW.

10 Mit Bescheid vom 9. November 1989 gewährte die Beklagte die beantragte Leistung auf der Grundlage einer Erwerbsunfähigkeit von 80 bis 100 % mit Wirkung vom 17. Mai 1987, d. h. gemäß Artikel 25 Absatz 2 AWW dem ein Jahr vor Antragstellung liegenden Tag. Mit demselben Bescheid stellte sie die Gewährung dieser Leistung mit Wirkung vom 1. Juli 1989 mit der Begründung ein, daß die Klägerin von diesem Zeitpunkt an eine Witwenrente nach der AWW erhalte.

11 Die Klägerin erhob beim Raad van Beroep Herzogenbusch Klage gegen diesen Bescheid; dieses Gericht ist der Auffassung, der Rechtsstreit werfe Fragen nach der Auslegung des Gemeinschaftsrechts auf, und hat beschlossen, dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1) Verlangt das Gemeinschaftsrecht, daß vor dem 1. Oktober 1975 erwerbsunfähig gewordenen verheirateten Frauen rückwirkend ab 23. Dezember 1984 (dem Zeitpunkt, in dem die Frist für die Umsetzung der EWG-Richtlinie 79/7 abgelaufen war) eine Leistung nach der AWW zuerkannt wird, wenn diese Frauen aus Gründen, die im Vorlagebeschluß ausgeführt sind, erst nach dem 5. Januar 1988 (dem Zeitpunkt des Erlasses der die Gleichbehandlung von Männern und Frauen betreffenden Urteile des Centrale Raad van Beroep) einen Antrag Gewährung einer solchen Leistung gestellt haben?

2) Ist eine Bestimmung des nationalen Rechts wie Artikel 32 Absatz 1 Buchstabe b AWW mit Artikel 4 Absatz 1 der EWG-Richtlinie 79/7 vereinbar, wenn diese nationale Bestimmung (frühestens ab 1. Dezember 1987) zwar tatsächlich sowohl auf erwerbsunfähige Witwen als auch auf erwerbsunfähige Witwer angewandt wird, ihrem Wortlaut nach jedoch ausschließlich für erwerbsunfähige Witwen gilt?

12 Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts, des Verfahrensablaufs und der beim Gerichtshof eingereichten schriftlichen Erklärungen wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt wird im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.

13 Zur ersten Frage

Die erste Frage des vorlegenden Gerichts geht dahin, ob eine nationale Rechtsvorschrift gegen Gemeinschaftsrecht verstösst, nach dem eine Leistung bei Erwerbsunfähigkeit frühestens von einem ein Jahr vor der Antragstellung liegenden Zeitpunkt an gewährt wird, wenn ein einzelner sich auf die Rechte beruft, die ihm aufgrund von Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie 79/7 ab dem 23. Dezember 1984 unmittelbar zustehen, und der betroffene Mitgliedstaat diese Bestimmung im Zeitpunkt der Antragstellung noch nicht ordnungsgemäß in sein innerstaatliches Recht umgesetzt hat.

14 Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie 79/7 verwehrt es einem Mitgliedstaat, nach dem 23. Dezember 1984, dem Tag, an dem die Frist für die Umsetzung der Richtlinie abgelaufen ist, Ungleichbehandlungen fortbestehen zu lassen, die darauf zurückzuführen sind, daß die Voraussetzungen für das Entstehen des Leistungsanspruchs vor diesem Datum galten (Urteil vom 8. März 1988 in der Rechtssache 80/87, Dik u. a., Slg. 1988, 1601). Solange die Richtlinie nicht durchgeführt ist, kann diese Bestimmung von einem einzelnen von diesem Zeitpunkt an mit dem Ziel in Anspruch genommen werden, die Anwendung aller mit der Richtlinie unvereinbaren innerstaatlichen Vorschriften auszuschließen (Urteil vom 4. Dezember 1986 in der Rechtssache 71/85, Federatie Nederlandse Vakbeweging, Slg. 1986, 3855).

15 Das Recht, eine Leistung bei Erwerbsunfähigkeit unter den gleichen Voraussetzungen wie Männer zu fordern, das die verheirateten Frauen aus der unmittelbaren Wirkung des Artikels 4 Absatz 1 der Richtlinie 79/7 herleiten, ist nach den durch die nationalen Vorschriften bestehenden Modalitäten auszuüben, sofern ° wie sich aus der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofes ergibt °, diese Modalitäten nicht ungünstiger sind als für gleichartige Klagen, die das innerstaatliche Recht betreffen, und nicht so ausgestaltet sind, daß sie die Ausübung der Rechte, die die Gemeinschaftsrechtsordnung einräumt, praktisch unmöglich machen (vgl. in diesem Sinne insbesondere das Urteil vom 25. Juli 1991 in der Rechtssache C-208/90, Emmott, Slg. 1991, I-4269, Randnr. 16).

16 Die nationale Vorschrift, die die Rückwirkung eines Antrags auf Gewährung einer Leistung bei Erwerbsunfähigkeit begrenzt, erfuellt diese beiden Voraussetzungen.

17 Die Kommission leitet aus dem Urteil Emmott (Randnrn. 21°23) ab, daß die Fristen, innerhalb deren die einzelnen ihre Rechte geltend machen müssten, ihnen erst dann entgegengehalten werden könnten, wenn ein Mitgliedstaat die Bestimmungen einer Richtlinie ordnungsgemäß umgesetzt habe; dies müsse auch für den vorliegenden Fall gelten.

18 Dem ist nicht zu folgen.

19 Zwar hat der Gerichtshof im Urteil Emmott entschieden, daß die einzelnen, solange eine Richtlinie nicht ordnungsgemäß in nationales Recht umgesetzt worden sei, nicht in der Lage seien, in vollem Umfang von ihren Rechten Kenntnis zu erlangen, und daß sich der säumige Mitgliedstaat daher bis zum Zeitpunkt dieser Umsetzung nicht auf die Verspätung einer Klage berufen könne, die ein einzelner zum Schutz der ihm durch diese Richtlinie verliehenen Rechte erhoben habe, so daß eine Klagefrist des nationalen Rechts erst zu diesem Zeitpunkt beginnen könne. Der dem Urteil Emmott zugrunde liegende Sachverhalt unterscheidet sich jedoch deutlich von dem des Ausgangsverfahrens.

20 In der Rechtssache Emmott hatte die Klägerin nach dem Urteil des Gerichtshofes vom 24. März 1987 in der Rechtssache 286/85 (McDermott und Cotter, Slg. 1987, 1453) das Recht geltend gemacht, daß auf sie gemäß Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie 79/7 vom 23. Dezember 1984 an für Leistungen bei Invalidität die gleiche Regelung angewendet werde wie auf Männer, die sich in der gleichen Lage befinden. Die betroffenen nationalen Stellen hatten danach eine Entscheidung über diesen Antrag mit der Begründung abgelehnt, daß die Richtlinie 79/7 noch Gegenstand eines Rechtsstreits vor einem nationalen Gericht sei. Schließlich wurde der Klägerin, obwohl die Richtlinie 79/7 noch nicht ordnungsgemäß in innerstaatliches Recht umgesetzt worden war, entgegengehalten, die Frist für die Erhebung ihrer Klage auf Feststellung, daß die nationalen Stellen ihrem Antrag hätten stattgeben müssen, sei abgelaufen.

21 Die innerstaatliche Rechtsvorschrift, die Gegenstand der vorliegenden Vorabentscheidungsfrage ist, beeinträchtigt anders als die Rechtsvorschrift, durch die die Klagefrist festgelegt wird, das Recht der einzelnen, sich vor einem nationalen Gericht gegenüber einem säumigen Mitgliedstaat auf die Richtlinie 79/7 zu berufen, als solches nicht. Sie beschränkt lediglich die Rückwirkung der gestellten Anträge auf Gewährung der in Rede stehenden Leistung.

22 Sodann entspricht der sich aus dem Ablauf der Klagefristen ergebende Ausschluß des Klagerechts dem Ziel, zu vermeiden, daß die Rechtmässigkeit von Verwaltungsentscheidungen auf unbestimmte Zeit in Frage gestellt wird. Aus dem Urteil Emmott ergibt sich aber, daß dieses Ziel nicht dem Schutz der Rechte vorgeht, die ein einzelner aus der unmittelbaren Wirkung der Bestimmungen einer Richtlinie herleitet, solange der säumige Staat, von dem diese Entscheidungen ausgehen, diese Bestimmungen in seiner innerstaatlichen Rechtsordnung nicht ordnungsgemäß umgesetzt hat.

23 Die Vorschrift, die die Rückwirkung von Anträgen auf Gewährung einer Leistung bei Erwerbsunfähigkeit begrenzt, verfolgt aber ein ganz anderes Ziel als eine Vorschrift, die eine Ausschlußfrist für eine Klage bestimmt. Wie die niederländische Regierung und die Beklagte in ihren schriftlichen Erklärungen ausgeführt haben, entspricht eine solche Vorschrift, die sich auch in anderen niederländischen Sozialversicherungsgesetzen findet, den Erfordernissen einer ordnungsgemässen Verwaltung, insbesondere was die Möglichkeit angeht, zu überprüfen, ob der Betroffene die Voraussetzungen für den Leistungsanspruch erfuellte, und den Grad der Erwerbsunfähigkeit festzusetzen, der sich im übrigen im Laufe der Zeit ändern kann. Sie entspricht auch der Notwendigkeit, das finanzielle Gleichgewicht eines Systems zu erhalten, in dem die Anträge, die von den Versicherten im Laufe eines Jahres eingereicht werden, grundsätzlich durch die während desselben Jahres erhobenen Beiträge gedeckt sein müssen.

24 Auf die erste Frage ist daher zu antworten, daß die Anwendung einer nationalen Rechtsvorschrift, nach der eine Leistung bei Erwerbsunfähigkeit frühestens von einem ein Jahr vor der Antragstellung liegenden Zeitpunkt an gewährt werden kann, wenn ein einzelner sich auf die Rechte beruft, die ihm aufgrund von Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie 79/7 vom 23. Dezember 1984 an unmittelbar zustehen, und der betroffene Mitgliedstaat diese Bestimmung im Zeitpunkt der Antragstellung noch nicht ordnungsgemäß in sein innerstaatliches Recht umgesetzt hat, nicht gegen Gemeinschaftsrecht verstösst.

Zur zweiten Frage

25 Nach ständiger Rechtsprechung ist es nicht Sache des Gerichtshofes, über die Vereinbarkeit einer nationalen Regelung mit dem Gemeinschaftsrecht zu entscheiden; er ist jedoch befugt, dem nationalen Gericht alle Hinweise zur Auslegung dieses Rechts zu geben, die es diesem ermöglichen, bei der Entscheidung des bei ihm anhängigen Verfahrens die Frage der Vereinbarkeit zu beurteilen (vgl. u. a. Urteil vom 18. Juni 1991 in der Rechtssache C-369/89, Piageme, Slg. 1991, I-2971, Randnr. 7).

26 Die zweite Frage ist daher dahin zu verstehen, ob Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie 79/7 es einem nationalen Gericht verwehrt, eine Rechtsvorschrift anzuwenden, die nur Frauen als Folge der Gewährung einer Witwenrente die Leistung bei Erwerbsunfähigkeit entzieht, sofern diese Vorschrift nach nationaler ständiger Rechtsprechung sowohl auf erwerbsunfähige Witwen als auch auf erwerbsunfähige Witwer angewandt wird.

27 Die niederländische Regierung und die Beklagte tragen vor, die Richtlinie 79/7 gelte nach Artikel 3 Absatz 2 nicht für Regelungen betreffend Leistungen für Hinterbliebene; man müsse sich daher fragen, ob eine Vorschrift wie Artikel 32 Absatz 1 Buchstabe b AWW, die das Zusammentreffen einer Leistung bei Erwerbsunfähigkeit mit einer Leistung für Hinterbliebene regele, in den Anwendungsbereich der Richtlinie falle.

28 Artikel 32 Absatz 1 Buchstabe b AAW betrifft die Entziehung einer Leistung bei Erwerbsunfähigkeit; auf derartige Leistungen findet die Richtlinie 79/7 nach Artikel 3 Absatz 1 Buchstabe a Anwendung. Dem steht nicht entgegen, daß die Entziehung der Leistung als Folge der Gewährung einer Leistung erfolgt, die nicht in den Anwendungsbereich der Richtlinie 79/7 fällt, im vorliegenden Fall einer Leistung für Hinterbliebene.

29 Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie 79/7 verbietet jede Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, was insbesondere die Bedingungen für den Zugang zu den gesetzlichen Systemen angeht, zu denen das System zum Schutz gegen das Risiko der Invalidität gehört.

30 Nach dieser Bestimmung haben die Frauen das Recht, unter denselben Bedingungen eine Leistung bei Erwerbsunfähigkeit zu fordern.

31 Eine nationale Regelung, die den Frauen das Recht vorenthält, eine Leistung zu beanspruchen, die Männer in der gleichen Lage weiterhin erhalten, stellt daher eine Diskriminierung im Sinne der Richtlinie 79/7 dar.

32 Schließlich hat jeder Mitgliedstaat nach ständiger Rechtsprechung die Richtlinien in einer Weise durchzuführen, die den Erfordernissen der Rechtssicherheit voll entspricht und bei der die Bestimmungen der Richtlinien in zwingende nationale Vorschriften umgesetzt werden (vgl. Urteil vom 2. Dezember 1986 in der Rechtssache 239/85, Kommission/Belgien, Slg. 1986, 3645, Randnr. 7).

33 Daraus folgt, daß ein Mitgliedstaat eine Vorschrift, die nach ihrem Wortlaut zwischen Frauen und Männern im Sinne von Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie 79/7 diskriminiert, nicht beibehalten darf.

34 Wenn eine solche Vorschrift jedoch nach nationaler ständiger Rechtsprechung trotz ihres Wortlauts ohne Unterschied auf Frauen und auf Männer in der gleichen Lage angewandt wird, steht dem nichts entgegen, daß ein nationales Gericht in bei ihm anhängigen Verfahren diese Vorschrift im Rahmen einer solchen Rechtsprechung, die es ihm ermöglicht, die volle Wirksamkeit des Artikels 4 Absatz 1 der Richtlinie 79/7 zu gewährleisten, weiter anwendet, solange der Mitgliedstaat die zu ihrer vollständigen Umsetzung erforderlichen gesetzgeberischen Maßnahmen noch nicht erlassen hat.

35 Auf die zweite Frage ist daher zu antworten, daß Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie es einem nationalen Gericht nicht verwehrt, eine Rechtsvorschrift anzuwenden, die nur Frauen als Folge der Gewährung einer Witwenrente eine Leistung bei Erwerbsunfähigkeit entzieht, sofern diese Vorschrift nach nationaler ständiger Rechtsprechung sowohl auf erwerbsunfähige Witwen als auch auf erwerbsunfähige Witwer angewendet wird.

Kostenentscheidung:

Kosten

36 Die Auslagen der niederländischen Regierung und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

auf die ihm vom Raad van Beroep te 's-Hertogenbusch (Niederlande) mit Beschluß vom 17. Dezember 1991 vorgelegten Fragen für Recht erkannt:

1) Die Anwendung einer nationalen Rechtsvorschrift, nach der eine Leistung bei Erwerbsunfähigkeit frühestens von einem ein Jahr vor der Antragstellung liegenden Zeitpunkt an gewährt werden kann, wenn ein einzelner sich auf die Rechte beruft, die ihm aufgrund von Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie 79/7/EWG des Rates vom 19. Dezember 1978 zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit vom 23. Dezember 1984 an unmittelbar zustehen, und der betroffene Mitgliedstaat diese Bestimmung im Zeitpunkt der Antragstellung noch nicht ordnungsgemäß in seiner innerstaatlichen Rechtsordnung umgesetzt hat, verstösst nicht gegen Gemeinschaftsrecht.

2) Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie 79/7 verwehrt es einem nationalen Gericht nicht, eine Rechtsvorschrift anzuwenden, die nur Frauen als Folge der Gewährung einer Witwenrente eine Leistung bei Erwerbsunfähigkeit entzieht, sofern diese Vorschrift nach nationaler ständiger Rechtsprechung sowohl auf erwerbsunfähige Witwen als auch auf erwerbsunfähige Witwer angewendet wird.

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