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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 09.11.2006
Aktenzeichen: C-344/05 P
Rechtsgebiete: Statut der Beamten der Europäischen Gemeinschaften


Vorschriften:

Statut der Beamten der Europäischen Gemeinschaften Art. 26 Abs. 1
Statut der Beamten der Europäischen Gemeinschaften Art. 26 Abs. 2
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

URTEIL DES GERICHTSHOFES (Zweite Kammer)

9. November 2006(*)

"Rechtsmittel - Beamter - Beurteilung der beruflichen Entwicklung - Beurteilungsjahr 2001/2002 - Verletzung der Verfahrensrechte - Artikel 26 Absatz 2 des Statuts"

Parteien:

In der Rechtssache C-344/05 P

betreffend ein Rechtsmittel nach Artikel 56 der Satzung des Gerichtshofes, eingereicht am 21. September 2005,

Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch L. Lozano Palacios und H. Kraemer als Bevollmächtigte, Zustellungsanschrift in Luxemburg,

Rechtsmittelführerin,

anderer Verfahrensbeteiligter:

Joël De Bry, Beamter der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, wohnhaft in Woluwé-St-Lambert (Belgien), vertreten durch S. Orlandi, avocat, Zustellungsanschrift in Luxemburg,

Kläger des ersten Rechtszugs,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten C. W. A. Timmermans, des Richters R. Schintgen, der Richterin R. Silva de Lapuerta sowie der Richter J. Klucka und L. Bay Larsen (Berichterstatter),

Generalanwalt: M. Poiares Maduro,

Kanzler: R. Grass,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 13. Juli 2006

folgendes

Urteil

Entscheidungsgründe:

1 Mit ihrem Rechtsmittel beantragt die Kommission der Europäischen Gemeinschaften die Aufhebung des Urteils des Gerichts erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften vom 12. Juli 2005 in der Rechtssache T-157/04 (De Bry/Kommission, nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, im Folgenden: angefochtenes Urteil), mit dem dieses die Entscheidung der Kommission vom 26. Mai 2003 (im Folgenden: streitige Entscheidung) aufgehoben hat, mit der die Beurteilung der beruflichen Entwicklung des klägerischen Beamten De Bry für den Zeitraum vom 1. Juli 2001 bis zum 31. Dezember 2002 endgültig erstellt wurde.

Rechtlicher Rahmen

2 Artikel 26 Absätze 1 und 2 des Statuts der Beamten der Europäischen Gemeinschaften in dessen maßgeblicher Fassung (im Folgenden: Statut) bestimmt:

"Die Personalakte des Beamten enthält:

a) sämtliche sein Dienstverhältnis betreffenden Schriftstücke sowie jede Beurteilung seiner Befähigung, Leistung und Führung;

b) die Stellungnahmen des Beamten zu den Vorgängen nach Buchstabe a).

Alle Schriftstücke sind in ein Verzeichnis aufzunehmen, fortlaufend zu nummerieren und lückenlos einzuordnen; das Organ darf Schriftstücke nach Buchstabe a) dem Beamten nur dann entgegenhalten oder gegen ihn verwerten, wenn sie ihm vor Aufnahme in die Personalakte mitgeteilt worden sind."

3 Artikel 43 des Statuts lautet:

"Über Befähigung, Leistung und dienstliche Führung aller Beamten - mit Ausnahme der Beamten der Besoldungsgruppe A 1 und A 2 - wird regelmäßig, mindestens aber alle zwei Jahre, unter den von den einzelnen Organen festgelegten Bedingungen (Art. 110) eine Beurteilung erstellt.

Diese Beurteilung wird dem Beamten bekannt gegeben. Er ist berechtigt, der Beurteilung alle Bemerkungen hinzuzufügen, die er für zweckdienlich hält."

4 Nach Artikel 110 Absätze 1 und 2 des Statuts werden die allgemeinen Durchführungsbestimmungen zum Statut von jedem Organ nach Anhörung seiner Personalvertretung und nach Stellungnahme des Statutsbeirats erlassen und sodann dem Personal zur Kenntnis gebracht.

5 Die Kommission erließ am 26. April 2002 einen Beschluss zur Annahme allgemeiner Durchführungsbestimmungen zu Artikel 43 des Statuts (im Folgenden: Durchführungsbeschluss zu Artikel 43 oder DB 43), mit dem sie ein neues Beurteilungssystem einführte.

6 Nach Artikel 1 des DB 43 ist jährlich eine Beurteilung der beruflichen Entwicklung zu erstellen.

7 Die Artikel 7 und 8 regeln das Beurteilungsverfahren. Nach einer Selbstbewertung durch den beurteilten Beamten und einem Gespräch zwischen diesem und dem Beurteilenden, seinem Referatsleiter, wird die Beurteilung der beruflichen Entwicklung vom Beurteilenden und dem gegenzeichnenden Beamten, der dessen Dienstvorgesetzter ist, erstellt, die sie dem Stelleninhaber übermitteln. Der beurteilte Beamte kann sodann ein Gespräch mit dem gegenzeichnenden Beamten beantragen, der berechtigt ist, die Beurteilung der beruflichen Entwicklung entweder zu ändern oder zu bestätigen. Die Beurteilung wird erneut dem Stelleninhaber übermittelt. Daraufhin kann der beurteilte Beamte den gegenzeichnenden Beamten ersuchen, den Paritätischen Evaluierungsausschuss (im Folgenden: Evaluierungsausschuss) anzurufen. Der Evaluierungsausschuss überprüft, ob bei der Beurteilung gerecht, objektiv und im Einklang mit den üblichen Beurteilungsmaßstäben vorgegangen wurde. Des Weiteren überprüft er, ob die Verfahren, insbesondere in Bezug auf die Gespräche und Fristen, ordnungsgemäß eingehalten wurden. Er gibt eine mit Gründen versehene Stellungnahme ab. Diese Stellungnahme, die dem beurteilten, dem beurteilenden und dem gegenzeichnenden Beamten mitgeteilt wird, wird dem Berufungsbeurteilenden, der der Dienstvorgesetzte des gegenzeichnenden Beamten ist, übermittelt, der die Beurteilung der beruflichen Entwicklung entweder bestätigt oder ändert, bevor er sie dem Stelleninhaber übermittelt. Weicht der Berufungsbeurteilende von den Empfehlungen in der Stellungnahme des Evaluierungsausschusses ab, muss er seine Entscheidung begründen.

8 Im Juli 2002 veröffentlichte die Kommission "Das System der Begleitung der beruflichen Entwicklung - Leitfaden" (im Folgenden: Beurteilungsleitfaden). Danach betrifft die Beurteilung der beruflichen Entwicklung die Befähigung, Leistung und dienstliche Führung jedes Beamten. Diesen drei Beurteilungskategorien sind verschiedene Benotungsmaßstäbe mit den Höchstpunktzahlen 6, 10 bzw. 4 zugewiesen.

Sachverhalt

9 Über den Kläger, einen dem Generalsekretariat der Kommission zugewiesenen Beamten der Besoldungsgruppe A 5, wurde am 18. Februar 2003 für den Zeitraum 1. Juli 2001 bis 31. Dezember 2002 eine Beurteilung der beruflichen Entwicklung erstellt.

10 Der Kläger beantragte gemäß dem Durchführungsbeschluss zu Artikel 43 eine Überprüfung seiner Beurteilung. Am 19. März 2003 wurden vom gegenzeichnenden Beamten einige Änderungen an den beschreibenden Bemerkungen vorgenommen, die erteilten Noten blieben aber unverändert.

11 Im Abschnitt "Dienstliche Führung" wurde folgende Bemerkung hinzugefügt:

"Herr De Bry ist stets bereit, seine Arbeit unter Einsatz von Überstunden unter der Woche oder am Wochenende abzuschließen. Mit dieser Bereitschaft außerhalb der regelmäßigen Dienstzeit geht jedoch eine häufige Missachtung dieser Dienstzeit einher."

12 Am 26. März 2003 beantragte der Kläger die Anrufung des Evaluierungsausschusses. Sein Rechtsbehelf wurde mit der streitigen Entscheidung des Berufungsbeurteilenden zurückgewiesen.

13 Mit Schreiben vom 26. August 2003 legte der Kläger Beschwerde nach Artikel 90 Absatz 2 des Statuts ein. Diese wurde von der Anstellungsbehörde am 6. Januar 2004 zurückgewiesen.

Klage beim Gericht und angefochtenes Urteil

14 Mit Klageschrift, die am 22. April 2004 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, erhob der Kläger Klage auf Aufhebung der streitigen Entscheidung.

15 Er stützte diese Klage im Wesentlichen auf vier Gründe:

- Verstoß gegen Artikel 14 des Statuts, wonach ein Beamter, der in Ausübung seines Amtes in einer Angelegenheit Stellung zu nehmen hat, an deren Behandlung oder Erledigung er ein persönliches Interesse hat, das seine Unabhängigkeit beeinträchtigen könnte, seiner Anstellungsbehörde hiervon Kenntnis geben muss;

- Verletzung der Begründungspflicht;

- fehlende Übereinstimmung zwischen bestimmten beschreibenden Bemerkungen und den entsprechend erteilten Noten;

- Verletzung der Verfahrensrechte.

16 Im Rahmen des vierten Klagegrundes machte der Kläger geltend, der Vorwurf der Missachtung der Dienstzeit hätte in der Beurteilung der beruflichen Entwicklung nur dann erhoben werden dürfen, wenn ihm vorher Gelegenheit gegeben worden wäre, zu diesem Vorwurf Stellung zu nehmen, was im vorliegenden Fall unterblieben sei. Er hätte wegen seiner angeblichen Unpünktlichkeit zeitnah ermahnt werden müssen, was es ihm ermöglicht hätte, seinen Standpunkt geltend zu machen.

17 Das Gericht forderte die Kommission auf, sich dazu zu äußern, welche Bedeutung Artikel 26 des Statuts und die Rechtsprechung, wonach diese Bestimmung die Wahrung der Verfahrensrechte des Beamten bezwecke, für das streitige Beurteilungsverfahren haben könnte.

18 Die Kommission antwortete, Artikel 26 des Statuts setze das Vorhandensein von "Schriftstücken" voraus und begründe keine Verpflichtung, solche Schriftstücke, insbesondere in Form von an den Beamten gerichteten schriftlichen Verwarnungen, zu erstellen.

19 In Randnummer 94 des angefochtenen Urteils hat das Gericht dem vierten Klagegrund stattgegeben, wobei es zum Vorwurf der Missachtung der Dienstzeiten feststellte, dass die Kommission die in Artikel 26 des Statuts garantierten Verfahrensrechte verletzt habe.

20 Folgerichtig hat es in den Randnummern 95 und 96 des angefochtenen Urteils auch dem dritten Klagegrund stattgegeben: Da die Feststellung mangelnder Pünktlichkeit rechtswidrig sei, müsse der entsprechende Vorwurf als nicht in der Beurteilung der beruflichen Entwicklung enthalten gelten, so dass die Note "ausreichend" und die Bemerkungen in der Rubrik "Dienstliche Führung" nicht zu vereinbaren seien.

21 Die übrigen Klagegründe hat das Gericht zurückgewiesen.

22 Schließlich hat es die streitige Entscheidung aufgehoben und der Kommission die Kosten auferlegt.

23 In Randnummer 83 des angefochtenen Urteils hat das Gericht festgestellt, die Wahrung der Verfahrensrechte des beurteilten Beamten verlange, dass tatsächliche Umstände wie diejenigen, um die es im Ausgangsverfahren gehe, dem Beamten nur entgegengehalten werden könnten, wenn sie in "Schriftstücken" im Sinne von Artikel 26 Absätze 1 und 2 des Statuts niedergelegt worden seien, die zuvor zu seiner Personalakte genommen oder ihm wenigstens zur Kenntnis gebracht worden seien.

24 In Randnummer 86 des angefochtenen Urteils hat das Gericht ausgeführt, die in Artikel 26 des Statuts garantierten Verfahrensrechte des Beamten seien nur dann nicht verletzt, wenn er durch eine schriftliche Verwarnung rechtzeitig, d. h. innerhalb angemessener Frist nach Eintritt des ihm zur Last gelegten Umstands, mit der Feststellung seiner Unpünktlichkeit konfrontiert werde, was ihn in die Lage versetze, seine Interessen insbesondere dadurch zu wahren, dass er entweder den Vorwurf entkräfte oder ihm Rechnung trage und seine dienstliche Führung verbessere, sei es auch nur im Interesse einer positiven Beurteilung.

25 Im Übrigen hat das Gericht in Randnummer 91 des angefochtenen Urteils festgestellt, dass die Beurteilenden in Absatz 3.1 des Beurteilungsleitfadens, den sich die Kommission selbst als Verhaltensregel auferlegt habe, angehalten würden, während des gesamten Beurteilungszeitraums auf Beispiele für Arbeiten zu achten, Kopien aufzubewahren oder sich Notizen zu machen. In derselben Randnummer hat das Gericht festgestellt, dass sich nach Absatz 3.2 des Beurteilungsleitfadens das Feedback auf konkrete Verhaltensformen beziehen solle und so schnell wie möglich nach Erledigung einer Aufgabe zu vermitteln sei.

Beim Gerichtshof gestellte Anträge der Parteien

26 Die Kommission beantragt,

- das angefochtene Urteil aufzuheben;

- den Rechtsstreit selbst zu entscheiden, ihren im ersten Rechtszug gestellten Anträgen stattzugeben und damit die Klage abzuweisen;

- hilfsweise, die Rechtssache an das Gericht zurückzuverweisen;

- dem Kläger die Kosten des Verfahrens einschließlich seiner eigenen Kosten im Verfahren vor dem Gericht aufzuerlegen.

27 Der Kläger beantragt,

- das Rechtsmittel als offensichtlich unbegründet zurückzuweisen;

- der Kommission die Kosten aufzuerlegen.

Zum Rechtsmittel

28 Die Kommission macht einen einzigen, in zwei Teile gegliederten Aufhebungsgrund geltend, den sie darauf stützt, dass das Gericht bei der Anwendung des Grundsatzes der Wahrung der Verfahrensrechte einerseits und des Artikels 26 Absatz 2 des Statuts andererseits einen Rechtsfehler begangen habe.

Vorbringen der Parteien

29 Im Rahmen des ersten Teils ihres Rechtsmittelgrundes macht die Kommission geltend, das Gericht habe die Tragweite des allgemeinen Grundsatzes der Wahrung der Verfahrensrechte verkannt.

30 Diese Rechte könnten nur in dem Verfahren, das zum Erlass einer beschwerenden Maßnahme führen könne, ausgeübt werden.

31 Sie begründeten keine Verpflichtung des Urhebers einer beschwerenden Maßnahme, vor Einleitung eines Verfahrens eine Verwarnung an den Betroffenen zu richten.

32 Im Rahmen des zweiten Teils ihres Rechtsmittelgrundes trägt die Kommission vor, die vom Gericht angenommene Verpflichtung, tatsächliche Umstände, die einem Beamten zur Last gelegt werden könnten, schriftlich niederzulegen, ergebe sich aus Artikel 26 Absatz 2 des Statuts nicht.

33 Diese Bestimmung setze das Vorhandensein von "Schriftstücken" im Sinne ihres Absatzes 1 Buchstabe a voraus. Sie begründe keine Verpflichtung zur Erstellung solcher Schriftstücke.

34 Der Kläger macht geltend, Artikel 26 des Statuts bezwecke, die Wahrung der Verfahrensrechte des Beamten sicherzustellen. Er solle verhindern, dass Entscheidungen der Anstellungsbehörde, die das Dienstverhältnis und die Laufbahn des beurteilten Beamten berührten, auf verhaltensbezügliche Tatsachen gestützt würden, die weder zu seiner Personalakte genommen noch ihm mitgeteilt worden seien.

35 Das Gericht habe daher die streitige Entscheidung im Einklang mit der ständigen Rechtsprechung zu Recht aufgehoben.

36 Es habe auch tatsächlich prüfen müssen, ob die Kommission bei der Erstellung der Beurteilung der beruflichen Entwicklung die sich insbesondere aus Absatz 3.1 des Beurteilungsleitfadens ergebenden internen Leitlinien angewandt habe, zu deren Beachtung sie verpflichtet gewesen sei.

Würdigung durch den Gerichtshof

37 Nach ständiger Rechtsprechung ist die Wahrung der Verfahrensrechte in einem Verfahren, das zu einer den Betroffenen beschwerenden Maßnahme führen kann, ein fundamentaler Grundsatz des Gemeinschaftsrechts und muss auch dann sichergestellt werden, wenn es keine einschlägigen Verfahrensregeln gibt (vgl. u. a. Urteile vom 10. Juli 1986 in der Rechtssache 234/84, Belgien/Kommission, Slg. 1986, 2263, Randnr. 27, und vom 5. Oktober 2000 in der Rechtssache C-288/96, Deutschland/Kommission, Slg. 2000, I-8237, Randnr. 99).

38 Dieser Grundsatz gebietet es, dass der Betroffene in die Lage versetzt wird, zu den Umständen sachgerecht Stellung zu nehmen, auf die in der zu erlassenden Maßnahme zu seinen Lasten abgestellt werden könnte (vgl. in diesem Sinn Urteile Belgien/Kommission, Randnr. 27 a. E., und vom 3. Oktober 2000 in der Rechtssache C-458/98 P, Industrie des poudres sphériques/Rat, Slg. 2000, I-8147, Randnr. 99).

39 Der fundamentale Grundsatz der Wahrung der Verfahrensrechte, bei dem es sich um eine Verfahrensgarantie handelt, verpflichtet jedoch im Bereich der Beurteilung des Personals der Europäischen Gemeinschaften nicht dazu, vor dem Verfahren, das zu einer Beurteilung führt, eine Verwarnung auszusprechen.

40 Dem steht Artikel 26 Absätze 1 und 2 des Statuts, wonach einem Beamten eine Beurteilung seiner Befähigung, Leistung oder Führung nur dann entgegengehalten werden kann, wenn sie ihm vor ihrer Aufnahme in seine Personalakte mitgeteilt worden ist, nicht entgegen.

41 Die entsprechenden Bestimmungen, deren Zweck es ist, die Wahrung der Verfahrensrechte des Beamten zu gewährleisten (vgl. u. a. Urteile vom 28. Juni 1972 in der Rechtssache 88/71, Brasseur/Parlament, Slg. 1972, 499, Randnr. 11, und vom 12. Februar 1987 in der Rechtssache 233/85, Bonino/Kommission, Slg. 1987, 739, Randnr. 11), betreffen nämlich bereits vorhandene Schriftstücke. Sie verbieten es, solche Schriftstücke im Beurteilungsverfahren gegen den beurteilten Beamten zu verwenden, wenn sie ihm nicht vor ihrer Aufnahme in seine Personalakte mitgeteilt wurden. Sie schreiben aber nicht vor, dass vorher Schriftstücke zu erstellen sind, in die alle Behauptungen von Tatsachen aufgenommen worden sind, die dem Betroffenen zur Last gelegt werden.

42 Wie der fundamentale Grundsatz selbst begründet also auch Artikel 26 des Statuts keine Verpflichtung zur vorherigen Verwarnung.

43 Der fundamentale Grundsatz der Wahrung der Verfahrensrechte muss es dem Betroffenen im Beurteilungsverfahren ermöglichen, sich gegen die Behauptung von Tatsachen, die ihm entgegengehalten werden, zu verteidigen. Dieser Zweck wird insbesondere durch Artikel 26 Absätze 1 und 2 des Statuts und den Durchführungsbeschluss zu Artikel 43 umgesetzt, dessen Bestimmungen, wie sich aus Randnummer 7 des vorliegenden Urteils ergibt, die Wahrung des Rechts auf Anhörung während des gesamten Verfahrens sicherstellen.

44 Es ist nicht Aufgabe des fundamentalen Grundsatzes der Wahrung der Verfahrensrechte, es dem Beamten auch zu ermöglichen, sein künftiges Verhalten anzupassen, um zu verhindern, dass erwiesene Tatsachen ihm tatsächlich entgegengehalten werden könnten. Wie der Generalanwalt in den Nummern 53 und 54 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, stellt die Verbesserung der dienstlichen Führung ein Ziel dar, das über die Wahrung der Verfahrensrechte hinausgeht; diesem Ziel dient nämlich in Wirklichkeit die Beurteilung selbst.

45 Das Gericht hat daher, als es in den Randnummern 83 und 86 des angefochtenen Urteils eine Verletzung der in Artikel 26 des Statuts garantierten Verfahrensrechte wegen fehlender vorheriger schriftlicher Verwarnung festgestellt hat, sowohl den fundamentalen Grundsatz der Wahrung der Verfahrensrechte als auch Artikel 26 des Statuts verkannt.

46 Die in Randnummer 91 des angefochtenen Urteils angeführten Gründe betreffend den Beurteilungsleitfaden, den sich die Kommission nach den Ausführungen des Gerichts selber als Verhaltensregel auferlegt hat, führen zu keinem anderen Ergebnis.

47 Denn in Kapitel 3 des Beurteilungsleitfadens wird zwar unter Hinweis auf "konkrete Verhaltensformen" zu einem "rechtzeitig[en] und regelmäßig[en] konstruktive[n] Feedback" geraten, das "so schnell wie möglich ... nach Erledigung der Aufgabe ... zu vermitteln [ist]", und die Beurteilenden werden dort aufgefordert, "auf Beispiele für ... Arbeiten [zu] achten, Kopien auf[zu]bewahren oder sich Notizen [zu] machen", doch heißt es darin auch, dass das Feedback "zum Beispiel durch formelle und informelle Überprüfungen oder im Einzelgespräch erfolgen [kann]". Somit wird dort nicht vorgeschrieben, den Betroffenen wegen jeder Tatsache, die ihm zum Vorwurf gereichen könnte, schriftlich zu verwarnen.

48 Schließlich ist festzustellen, dass das Gericht aufgrund der bei der Auslegung des fundamentalen Grundsatzes der Wahrung der Verteidigungsrechte einerseits und des Artikels 26 des Statuts andererseits begangenen Rechtsfehler in den Randnummern 95 und 96 des angefochtenen Urteils folgerichtig rechtsfehlerhaft angenommen hat, dass die Beurteilung der beruflichen Entwicklung inhaltlich fehlerhaft sei, und deshalb dem dritten Klagegrund stattgegeben hat (siehe Randnr. 20 des vorliegenden Urteils).

49 Daraus folgt, dass das angefochtene Urteil aufzuheben ist, soweit es die streitige Entscheidung wegen Verletzung der in Artikel 26 des Statuts garantierten Verfahrensrechte und folgerichtig wegen der Unvereinbarkeit bestimmter beschreibender Bemerkungen mit der entsprechenden Note im Zusammenhang mit dem Vorwurf der Missachtung der Dienstzeit aufgehoben hat.

Zu den Folgen der Aufhebung des angefochtenen Urteils

50 Nach Artikel 61 Absatz 1 der Satzung des Gerichtshofes kann der Gerichtshof, wenn er die Entscheidung des Gerichts aufhebt, den Rechtsstreit selbst endgültig entscheiden, wenn dieser zur Entscheidung reif ist.

51 So verhält es sich hier.

Zum Klagegrund der Verletzung der Verfahrensrechte

52 Aus den in den Randnummern 37 bis 44 des vorliegenden Urteils angeführten Gründen ist weder nach dem fundamentalen Grundsatz der Wahrung der Verfahrensrechte noch nach Artikel 26 Absätze 1 und 2 des Statuts die Berücksichtigung einer belastenden Tatsache in der Beurteilung eines Beamten nur zulässig, wenn der Beamte vor dem Beurteilungsverfahren schriftlich verwarnt und ihm diese Tatsache mitgeteilt worden ist.

53 Die Rüge des Klägers, die Kommission habe den Vorwurf der Missachtung der Dienstzeit in die Beurteilung seiner beruflichen Entwicklung aufgenommen, ohne ihn vor dem Beurteilungsverfahren verwarnt zu haben, hat daher keinen Erfolg.

54 Der Klagegrund einer Verletzung der Verfahrensrechte ist daher zurückzuweisen.

Zum Rechtsmittelgrund der Unvereinbarkeit bestimmter beschreibender Bemerkungen mit den entsprechenden Noten im Zusammenhang mit dem Vorwurf der Missachtung der Dienstzeit

55 Da die Feststellung der mangelnden Pünktlichkeit nicht für rechtswidrig erklärt worden ist, ist der auf dieser Feststellung beruhende Vorwurf zu Recht in die streitige Beurteilung der beruflichen Entwicklung aufgenommen worden.

56 Unter diesen Umständen ist die Note "ausreichend" mit den Bemerkungen in der Rubrik "Dienstliche Führung" vereinbar.

57 Infolgedessen ist auch der Klagegrund zurückzuweisen, mit dem die Unvereinbarkeit bestimmter beschreibender Bemerkungen mit den entsprechenden Noten im Zusammenhang mit dem Vorwurf der Missachtung der Dienstzeit geltend gemacht wird.

58 Nach alledem ist die Klage abzuweisen.

Kostenentscheidung:

Kosten

59 Nach Artikel 122 Absatz 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofes entscheidet der Gerichtshof über die Kosten, wenn das Rechtsmittel begründet ist und er selbst den Rechtsstreit endgültig entscheidet. Nach Artikel 69 § 2 der Verfahrensordnung, der gemäß Artikel 118 auf das Rechtsmittelverfahren entsprechend anwendbar ist, ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Nach Artikel 70 der Verfahrensordnung, der gemäß Artikel 122 Absatz 2 auch Anwendung findet, wenn ein Organ Rechtsmittel einlegt, tragen jedoch in den Streitsachen zwischen den Gemeinschaften und deren Bediensteten die Organe ihre Kosten selbst.

60 Im vorliegenden Fall ist der Kläger mit seinem Vorbringen unterlegen; die Kommission hat beantragt, ihm die Kosten aufzuerlegen. Nach den genannten Bestimmungen der Verfahrensordnung hat jede Partei in beiden Rechtszügen ihre eigenen Kosten zu tragen.

Tenor:

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt und entschieden:

1. Das Urteil des Gerichts erster Instanz vom 12. Juli 2005 in der Rechtssache T-157/04 (De Bry/Kommission) wird aufgehoben, soweit es die streitige Entscheidung wegen Verletzung der in Artikel 26 des Statuts garantierten Verfahrensrechte und folgerichtig wegen der Unvereinbarkeit bestimmter beschreibender Bemerkungen mit der entsprechenden Note im Zusammenhang mit dem Vorwurf der Missachtung der Dienstzeit aufgehoben hat.

2. Die Klage wird abgewiesen.

3. Jede Partei trägt in beiden Rechtszügen ihre eigenen Kosten.

Ende der Entscheidung

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