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Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 27.06.1991
Aktenzeichen: C-344/89
Rechtsgebiete: EWGV, VO Nr. 574/72/EWG


Vorschriften:

EWGV Art. 177
VO Nr. 574/72/EWG Art. 51
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Macht der zur Gewährung von Leistungen bei Invalidität verpflichtete Träger von der in Artikel 51 Absatz 1 der Verordnung Nr. 574/72 vorgesehenen Möglichkeit Gebrauch, den in einem anderen Mitgliedstaat wohnenden Leistungsempfänger von einem Arzt seiner Wahl untersuchen zu lassen, so kann der Betroffene verpflichtet werden, sich in den Mitgliedstaat des zuständigen Trägers zu begeben, wenn dieser Träger die damit verbundenen Reise- und Aufenthaltskosten übernimmt und der Betroffene die Reise ohne Gefährdung seiner Gesundheit unternehmen kann.

Hat der Träger des Aufenthalts- oder Wohnorts des Betroffenen festgestellt, daß dieser nicht reisefähig ist, so hindert nichts den leistungspflichtigen Träger oder die für die ärztliche Kontrolle zuständige Stelle daran, diesen Sachverhalt an Ort und Stelle zu überprüfen.


URTEIL DES GERICHTSHOFES (DRITTE KAMMER) VOM 27. JUNI 1991. - MANUEL MARTINEZ VIDAL GEGEN GEMEENSCHAPPELIJKE MEDISCHE DIENST. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: ARRONDISSEMENTSRECHTBANK AMSTERDAM - NIEDERLANDE. - SOZIALE SICHERHEIT - FESTSTELLUNG DER ARBEITSUNFAEHIGKEIT. - RECHTSSACHE C-344/89.

Entscheidungsgründe:

1 Die Arrondissementsrechtbank Amsterdam hat mit Urteil vom 18. Oktober 1989, beim Gerichtshof eingegangen am 6. November 1989, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag zwei Fragen nach der Auslegung von Artikel 51 Absatz 1 der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 des Rates vom 21. März 1972 über die Durchführung der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und deren Familien, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (ABl. L 74, S. 1) zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Der Kläger ist ein spanischer Staatsangehöriger und arbeitete seit 1963 als Matrose im Dienst niederländischer Arbeitgeber. Nachdem er seine Arbeit am 27. April 1979 infolge einer Erkrankung aufgegeben hatte, kehrte er nach Spanien zurück, wo er an einer Diskushernie operiert wurde. In den Jahren 1980, 1982 und 1984 lieferte das Instituto Nacional de Seguridad Social (Staatliche Sozialversicherungsanstalt), das die ärztliche Kontrolle über den Kläger ausübte, dem zuständigen niederländischen Träger, dem Gemeenschappelijke Medische Dienst (Gemeinsamer Ärztlicher Dienst, im folgenden: GMD), Berichte über den Gesundheitszustand des Betroffenen. Mit Schreiben vom 17. April 1989 forderte der GMD den Kläger, der seit dem 25. April 1980 Empfänger einer Invaliditätsrente nach den niederländischen Rechtsvorschriften war, auf, sich in den Niederlanden einer Untersuchung zu unterziehen, die von zwei von dem genannten Träger ausgewählten Ärzten durchgeführt werden sollte.

3 Der Kläger erhob daraufhin gegen den GMD und die Bedrijfsvereniging voor de Koopvaardij (Berufsgenossenschaft für die Handelsschiffahrt, im folgenden: BVK) bei der Arrondissementsrechtbank Amsterdam Klage mit dem Antrag, für Recht zu erkennen, daß er nicht verpflichtet sei, zur Durchführung einer derartigen Untersuchung in die Niederlande zurückzukehren.

4 Vor diesem Hintergrund hat das nationale Gericht, nachdem es die Klage, soweit sie gegen die BVK gerichtet war, als unzulässig abgewiesen hatte, das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1) Können der Träger, der zur Gewährung der Leistungen bei Invalidität verpflichtet ist, oder die für die Durchführung der ärztlichen Kontrolle zuständige Stelle, wenn sie von der Befugnis nach Artikel 51 Absatz 1 der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 Gebrauch machen, die Kontrolluntersuchung des Empfängers von Leistungen bei Invalidität durch einen Arzt ihrer Wahl durchführen zu lassen, diesen Empfänger auffordern, sich von dem Mitgliedstaat, in dem er wohnt oder sich aufhält, zur Durchführung einer ärztlichen Untersuchung in den Mitgliedstaat zu begeben, in dem der leistungspflichtige Träger seinen Sitz hat, und ist der Empfänger verpflichtet, dieser Aufforderung Folge zu leisten?

2) a) Macht es für die Beantwortung der Fragen unter 1 einen Unterschied, ob feststeht, daß der Leistungsempfänger ohne Gefährdung seiner Gesundheit in der Lage ist, in den Mitgliedstaat zu reisen, in dem der leistungspflichtige Träger oder die für die Durchführung der ärztlichen Kontrolle zuständige Stelle ihren Sitz hat?

b) Ist es für die Beantwortung der Frage 2 a von Bedeutung, ob die Reisefähigkeit durch den Träger des Wohn- oder Aufenthaltsorts oder aber durch den leistungspflichtigen Träger oder die für die Durchführung der ärztlichen Kontrolle zuständige Stelle festgestellt worden ist?

5 Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts des Ausgangsverfahrens, der anwendbaren Rechtsvorschriften und der beim Gerichtshof eingereichten schriftlichen Erklärungen wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt wird im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.

6 Mit der ersten Frage und dem ersten Teil der zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im wesentlichen wissen, ob der Betroffene, wenn der zur Gewährung einer Leistung bei Invalidität verpflichtete Träger von der in Artikel 51 Absatz 1 der Verordnung Nr. 574/72 vorgesehenen Möglichkeit Gebrauch macht, den in einem anderen Mitgliedstaat wohnenden Leistungsempfänger durch einen Arzt seiner Wahl untersuchen zu lassen, dazu verpflichtet werden kann, sich in den Mitgliedstaat des zuständigen Trägers zu begeben, namentlich wenn feststeht, daß er in der Lage ist, die Reise ohne Gefährdung seiner Gesundheit durchzuführen.

7 Gemäß Artikel 51 Absatz 1 der Verordnung Nr. 574/72 erfolgt die verwaltungsmässige und ärztliche Kontrolle, wenn der Empfänger von Leistungen bei Invalidität sich im Gebiet eines anderen als des Mitgliedstaats, in dem der leistungspflichtige Träger seinen Sitz hat, aufhält oder dort wohnt, auf Verlangen dieses Trägers durch den Träger des Aufenthalts- oder Wohnorts des Leistungsempfängers entsprechend den vom letztgenannten Träger anzuwendenden Rechtsvorschriften. Der leistungspflichtige Träger behält jedoch die Möglichkeit, den Leistungsempfänger durch einen Arzt seiner Wahl untersuchen zu lassen.

8 Im Gegensatz zu Artikel 18 der Verordnung, wonach der Träger des Wohnorts bei Krankheit und Mutterschaft von sich aus eine verwaltungsmässige oder ärztliche Kontrolle durchführt, sieht Artikel 51 Absatz 1 eine solche Kontrolle somit nur auf Verlangen des zuständigen Trägers vor.

9 Dieser Unterschied, auf den das nationale Gericht aufmerksam gemacht hat, rechtfertigt es nicht, Artikel 51 Absatz 1 dahin auszulegen, daß der zuständige Träger bei Invalidität entweder den Träger des Wohnorts um die Durchführung der Kontrolle ersuchen oder diese selbst durchführen kann. Daß die Kontrolle in diesem Fall nur auf Verlangen des zuständigen Trägers durchgeführt wird, hat seinen Grund darin, daß ihre Durchführung nicht immer erforderlich ist. Falls sie stattfindet, wird sie vom Träger des Wohnorts durchgeführt. Der zuständige Träger kann allerdings, wenn er dies für nötig hält, eine zusätzliche Kontrolle vornehmen.

10 Der Ort, an dem die letztgenannte Kontrolle stattfinden muß, wird in Artikel 51 jedoch nicht festgelegt.

11 Zu der in Artikel 18 Absatz 5 im Fall von Krankheit und Mutterschaft vorgesehenen Kontrolle hat der Gerichtshof entschieden, daß es die Rücksichtnahme auf den Gesundheitszustand der betreffenden Person gebietet, daß der Betroffene nicht verpflichtet wird, in den Staat des zuständigen Trägers zurückzukehren, um sich dort einer ärztlichen Kontrolluntersuchung zu unterziehen (Urteil vom 12. März 1987 in der Rechtssache 22/86, Rindone, Slg. 1987, 1339, Randnr. 21).

12 Für diese Einschränkung der Kontrollbefugnisse des leistungspflichtigen Trägers besteht im Fall der Invalidität kein Grund.

13 Während nämlich der Betroffene bei einer Krankheit Gefahr läuft, daß der Heilungsprozeß durch die Reise ernsthaft gestört wird, kann ein solches Risiko bei einem Invaliden nicht unterstellt werden. Die Reisefähigkeit muß dann von Fall zu Fall beurteilt werden.

14 Darüber hinaus weisen die Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten im Bereich der Invalidität besonders ausgeprägte Unterschiede auf. Die notwendigen Untersuchungen zur Bestimmung des Invaliditätsgrades gemäß diesen Rechtsvorschriften erfordern die Mitwirkung verschiedener Fachleute, im Fall der Niederlande vor allem aus den Bereichen der Medizin, der Arbeitswissenschaft und des Rechts. Eine Reise all dieser Fachleute würde erhebliche Kosten verursachen, und es ist nicht sicher, daß sie im Aufenthalts- oder Wohnsitzstaat des Betroffenen alle zur Durchführung der Untersuchungen notwendigen Einrichtungen vorfinden würden.

15 Daraus ergibt sich, daß der Betroffene - falls sein Gesundheitszustand es erlaubt - verpflichtet ist, sich auf Verlangen des leistungspflichtigen Trägers in dessen Mitgliedstaat zu begeben, um sich dort einer Kontrolluntersuchung durch einen von diesem Träger ausgewählten Arzt zu unterziehen.

16 Allerdings würde der Zweck des Artikels 51, der darin besteht, die Empfänger der dort aufgeführten Leistungen soweit wie möglich gegen die mit derartigen Reisen verbundenen Unannehmlichkeiten zu schützen, verkannt, wenn die Betroffenen verpflichtet wären, die wegen ihres Wohnorts in einem anderen Mitgliedstaat im Zusammenhang mit der ärztlichen Kontrolle entstehenden Reise- und Aufenthaltskosten zu tragen.

17 Auf die erste Frage und den ersten Teil der zweiten Frage ist daher wie folgt zu antworten: Macht der zur Gewährung von Leistungen bei Invalidität verpflichtete Träger von der in Artikel 51 Absatz 1 der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 des Rates vom 21. März 1972 über die Durchführung der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und deren Familien, die innerhalb der

Gemeinschaft zu- und abwandern, vorgesehenen Möglichkeit Gebrauch, den in einem anderen Mitgliedstaat wohnenden Leistungsempfänger von einem Arzt seiner Wahl untersuchen zu lassen, so kann der Betroffene verpflichtet werden, sich in den Mitgliedstaat des zuständigen Trägers zu begeben, wenn dieser Träger die damit verbundenen Reise- und Aufenthaltskosten übernimmt und der Betroffene die Reise ohne Gefährdung seiner Gesundheit unternehmen kann.

18 Mit dem zweiten Teil der zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im wesentlichen wissen, ob der leistungspflichtige Träger oder die für die ärztliche Kontrolle zuständige Stelle an die Beurteilung der Reisefähigkeit des Betroffenen durch den Träger des Aufenthalts- oder Wohnorts gebunden ist.

19 Hierzu genügt der Hinweis, daß in dem Fall, in dem der Träger des Aufenthalts- oder Wohnorts des Betroffenen festgestellt hat, daß dieser nicht reisefähig ist, nichts den leistungspflichtigen Träger oder die für die ärztliche Kontrolle zuständige Stelle daran hindert, diesen Sachverhalt an Ort und Stelle zu überprüfen.

20 Auf den zweiten Teil der zweiten Frage ist somit zu antworten, daß in dem Fall, in dem der Träger des Aufenthalts- oder Wohnorts des Betroffenen festgestellt hat, daß dieser nicht reisefähig ist, nichts den leistungspflichtigen Träger oder die für die ärztliche Kontrolle zuständige Stelle daran hindert, diesen Sachverhalt an Ort und Stelle zu überprüfen.

Kostenentscheidung:

Kosten

21 Die Auslagen der deutschen, der spanischen und der niederländischen Regierung sowie der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die Erklärungen vor dem Gerichtshof abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)

auf die ihm von der Arrondissementsrechtbank Amsterdam mit Urteil vom 18. Oktober 1989 vorgelegten Fragen für Recht erkannt:

1) Macht der zur Gewährung von Leistungen bei Invalidität verpflichtete Träger von der in Artikel 51 Absatz 1 der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 des Rates vom 21. März 1972 über die Durchführung der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und deren Familien, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, vorgesehenen Möglichkeit Gebrauch, den in einem anderen Mitgliedstaat wohnenden Leistungsempfänger von einem Arzt seiner Wahl untersuchen zu lassen, so kann der Betroffene verpflichtet werden, sich in den Mitgliedstaat des zuständigen Trägers zu begeben, wenn dieser Träger die damit verbundenen Reise- und Aufenthaltskosten übernimmt und der Betroffene die Reise ohne Gefährdung seiner Gesundheit unternehmen kann.

2) Hat der Träger des Aufenthalts- oder Wohnorts des Betroffenen festgestellt, daß dieser nicht reisefähig ist, so hindert nichts den leistungspflichtigen Träger oder die für die ärztliche Kontrolle zuständige Stelle daran, diesen Sachverhalt an Ort und Stelle zu überprüfen.

Ende der Entscheidung

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