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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Beschluss verkündet am 31.01.1991
Aktenzeichen: C-345/90 P-R
Rechtsgebiete: EWG-Satzung, Verfahrensordnung


Vorschriften:

EWG-Satzung Art. 49
EWG-Satzung Art. 53
Verfahrensordnung Art. 83 § 2
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Im Rahmen der Prüfung eines Antrags auf Aussetzung der Durchführung eines Urteils des Gerichts, das mit einem Rechtsmittel beim Gerichtshof angefochten ist, ist die Notwendigkeit der beantragten Anordnung glaubhaft gemacht, wenn die mit dem Rechtsmittel beanstandete Begründung des Gerichts, aufgrund deren es zu seiner Entscheidung gelangte, Grundsatzfragen der Grenzen der richterlichen Kontrolle von Entscheidungen der Anstellungsbehörde aufwirft, die der Gerichtshof bisher nicht entschieden hat.

Die Notwendigkeit zu verhindern, daß dem Antragsteller ein schwerer und nicht wiedergutzumachender Schaden entsteht, ist gegeben, wenn das rechtsmittelführende Organ zeigt, daß die Durchführung des angefochtenen Urteils zu einer ernstlichen Störung der Arbeit seiner Dienststellen führen könnte, der gegenüber das Interesse des vor dem Gericht obsiegenden Klägers an der sofortigen Durchführung des Urteils zurücktreten muß.


BESCHLUSS DES PRAESIDENTEN DES GERICHTSHOFES VOM 31. JANUAR 1991. - EUROPAEISCHES PARLAMENT GEGEN JACK HANNING. - RECHTSMITTEL - AUSSETZUNG DES VOLLZUGS EINES URTEILS. - RECHTSSACHE C-345/90 P-R.

Entscheidungsgründe:

1 Das Parlament hat mit Rechtsmittelschrift, die am 23. November 1990 bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, gemäß Artikel 49 EWG-Satzung und den entsprechenden Bestimmungen der EGKS- und der EAG-Satzung des Gerichtshofes ein Rechtsmittel gegen das Urteil des Gerichts vom 20. September 1990 eingereicht, mit dem dieses die Entscheidung des Parlaments aufgehoben hatte, unter Übergehung der Ergebnisse des Auswahlverfahrens Nr. PE/41/A das Auswahlverfahren Nr. PE/41a/A zu eröffnen.

2 Das Parlament hat ausserdem mit gesondertem Schriftsatz, der am selben Tag bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, gemäß Artikel 53 EWG-Satzung und den entsprechenden Bestimmungen der EGKS- und der EAG-Satzung sowie gemäß Artikel 83 der Verfahrensordnung im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes beantragt, den Vollzug des genannten Urteils auszusetzen.

3 Der Kläger im Verfahren vor dem Gericht (Kläger) hat am 19. Dezember 1990 schriftlich zu dem Antrag Stellung genommen; die Beteiligten wurden am 14. Januar 1991 gehört.

4 Zunächst ist die Sachlage, die das Gericht zur Aufhebung der Entscheidung des Parlaments veranlasste, so, wie sie sich aus dem angefochtenen Urteil ergibt, kurz darzustellen.

5 Im Jahre 1986 führte das Parlament das allgemeine Auswahlverfahren Nr. PE/41/A aufgrund von Befähigungsnachweisen und Prüfungen zur Einstellung eines Abteilungsleiters der Laufbahn A 3 als Leiter des Informationsbüros des Parlaments in London durch.

6 Der Kläger bewarb sich in diesem Auswahlverfahren und wurde vom Prüfungsausschuß in die Eignungsliste aufgenommen. Er war der erste der vier Bewerber auf dieser Liste, die gemäß der Mitteilung betreffend die Veranstaltung eines Auswahlverfahrens höchstens vier Bewerber umfassen durfte.

7 Am 6. April 1988 teilte das Parlament dem Kläger jedoch mit, sein Präsident habe es aufgrund der Unregelmässigkeiten des Auswahlverfahrens für gut befunden, keine Ernennung vorzunehmen, sondern ein neues allgemeines Auswahlverfahren aufgrund von Befähigungsnachweisen und Prüfungen zu eröffnen.

8 Am 29. Juni 1988 erhob der Kläger Klage gegen diese Entscheidung. Zugleich beantragte er im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes, den Vollzug der streitigen Entscheidung auszusetzen, soweit durch sie ein neues Einstellungsverfahren anstelle des Auswahlverfahrens Nr. PE/41/A eröffnet wurde.

9 Mit Beschluß vom 11. Juli 1988 in der Rechtssache 176/88 R (Hanning/Parlament, Slg. 1988, 3915), der vor der Verweisung der Rechtssache an das Gericht erging, hat der Präsident der Dritten Kammer des Gerichtshofes den Antrag auf einstweilige Anordnung mit der Begründung zurückgewiesen, daß dem Kläger aus dem Vollzug der angefochtenen Entscheidung kein nicht wiedergutzumachender Schaden entstehen könne, da, falls er obsiegen sollte, die etwaige Ernennung eines anderen Bewerbers bei Abschluß des laufenden Verfahrens nichtig wäre und das erste Verfahren wieder seinen normalen Verlauf nähme, als wäre die streitige Entscheidung nicht ergangen.

10 Der Kläger bewarb sich auch in dem vom Parlament veranstalteten neuen allgemeinen Auswahlverfahren Nr. PE/41a/A und wurde vom Prüfungsausschuß dieses Auswahlverfahrens in die Eignungsliste aufgenommen. Er erreichte jedoch nach einem Bewerber, der am ersten Auswahlverfahren nicht teilgenommen hatte, nur den zweiten Platz unter vier Bewerbern.

11 Dieses Auswahlverfahren führte zur Ernennung des erstplazierten Bewerbers als Leiter des Informationsbüros des Parlaments in London.

12 In seinem Urteil legt das Gericht zunächst dar, die streitige Entscheidung sei so, wie sie dem Kläger mitgeteilt worden sei, unzureichend begründet, da sie keine Hinweise auf die Art der Unregelmässigkeiten des ersten Auswahlverfahrens enthalten habe.

13 Das Gericht legt weiter dar, nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes führe eine unzureichende Begründung nicht ohne weiteres zur Aufhebung der angefochtenen Handlung, wenn die vom beklagten Organ im Laufe des Verfahrens abgegebenen zusätzlichen Erklärungen es dem Richter ermöglichten festzustellen, daß die angezogene Begründung die fragliche Entscheidung rechtlich trage.

14 Nach den Erklärungen des Parlaments vor dem Gericht wurde die Entscheidung auf der Grundlage eines Gutachtens des Juristischen Dienstes des Parlaments erlassen.

15 In diesem Gutachten stellt der Juristische Dienst des Parlaments fest, daß zwei Bewerber, die auf der Eignungsliste den dritten und den vierten Platz einnahmen, zu Unrecht zum Auswahlverfahren zugelassen worden seien. Die beiden Bewerber, Beamte des Parlaments, hätten entgegen der Mitteilung des Auswahlverfahrens die erforderlichen Belege nicht beigefügt. Der Prüfungsausschuß habe ihre Bewerbungen zunächst zurückgewiesen, sie schließlich aber doch mit der irrigen Begründung zugelassen, daß ihre Personalakten, die von der Verwaltung des Parlaments geführt würden, den Anforderungen der Mitteilung des Auswahlverfahrens entsprächen.

16 Weiter wurden in dem Gutachten drei Beschwerden gegen den Ablauf des Auswahlverfahrens untersucht. Der Juristische Dienst kam zu dem Ergebnis, daß eine dieser Beschwerden, die ein wegen fehlender Belege nicht zum Auswahlverfahren zugelassener Bewerber erhoben habe, der sich über die Zulassung zweier anderer Bewerber in derselben Lage beschwert habe, zulässig sei und die Anstellungsbehörde zur Prüfung der Rechtmässigkeit des Verfahrens berechtige.

17 Der Juristische Dienst des Parlaments führte weiter die Rechtsprechung des Gerichtshofes (u. a. Urteil vom 23. Oktober 1986 in der Rechtssache 321/85, Schwiering/Rechnungshof, Slg. 1986, 3199) an, wonach die Anstellungsbehörde nicht an Entscheidungen des Prüfungsausschusses gebunden sei, deren Rechtswidrigkeit sich auf ihre eigenen Entscheidungen auswirken könne, und keinen Bewerber ernennen könne, wenn der Prüfungsausschuß ihrer Auffassung nach rechtswidrig einem oder mehreren Bewerbern die Zulassung zum Auswahlverfahren verweigert habe und dadurch das gesamte Auswahlverfahren fehlerhaft geworden sei.

18 Im Lichte dieser Rechtsprechung stellte der Juristische Dienst des Parlaments fest, daß im vorliegenden Fall ausser den vier in die Eignungsliste aufgenommenen Bewerbern ein fünfter Bewerber die Mindestpunktzahl für ein Bestehen des Auswahlverfahrens erlangt habe, daß die Anstellungsbehörde ihn aber nicht ernennen könne, da er nicht in die Eignungsliste aufgenommen worden sei, weil dort zu Unrecht zwei andere Bewerber aufgenommen worden seien. Daraus folgert der Juristische Dienst des Parlaments, daß die Anstellungsbehörde unter Übergehung der Ergebnisse des Auswahlverfahrens ein neues Auswahlverfahren einleiten könne.

19 In seinem Urteil bestätigte das Gericht das Gutachten insoweit, als es die Rechtswidrigkeit der Zulassung der beiden Bewerber betrifft, die die erforderlichen Belege nicht beigefügt hatten; insoweit sei es zu Unregelmässigkeiten im Auswahlverfahren gekommen.

20 Jedoch hätte der Juristische Dienst des Parlaments hinsichtlich der für zulässig gehaltenen Beschwerde zu dem Ergebnis kommen müssen, daß diese unbegründet sei. Der fragliche Bewerber, dessen Zulassung wegen fehlender Belege zu Recht zurückgewiesen worden sei, könne nämlich nicht mit der Begründung seine Zulassung verlangen, daß andere Bewerber vom Prüfungsausschuß zu Unrecht zugelassen worden seien. Die fragliche Beschwerde sei somit nicht geeignet, die angefochtene Entscheidung zu rechtfertigen.

21 Schließlich sei die vom Juristischen Dienst des Parlaments angezogene Rechtsprechung im vorliegenden Fall nicht einschlägig. Sie betreffe den Fall, daß die Unregelmässigkeit zum ungerechtfertigten Ausschluß von Bewerbern vom Auswahlverfahren führe, was unvermeidlich die Rechtswidrigkeit des gesamten Auswahlverfahrens zur Folge habe. Im vorliegenden Fall liege die Unregelmässigkeit jedoch in der rechtswidrigen Zulassung zweier Bewerber, so daß das Auswahlverfahren nur teilweise rechtswidrig sei. Die rechtswidrigen Teile des Auswahlverfahrens und der Eignungsliste könnten von den rechtmässigen Teilen geschieden werden, da die Beteiligung und die Einstufung der ordnungsgemäß zugelassenen Bewerber nicht von der rechtswidrigen Beteiligung der beiden zu Unrecht zugelassenen Bewerber beeinflusst würden.

22 Unter diesen Umständen hätte das Parlament nach Auffassung des Gerichts die Möglichkeit prüfen müssen, einen der beiden zu Recht in die Eignungsliste aufgenommenen Bewerber zu ernennen. Das Parlament

hätte weiter die Leistungen dieser beiden Bewerber mit der des fünften Bewerbers vergleichen müssen, der wegen der Unregelmässigkeiten des Auswahlverfahrens zu Unrecht nicht in die Eignungsliste aufgenommen worden sei. Nur wenn das Parlament zu Recht entschieden hätte, daß dienstliche Gründe die Ernennung des fünften Bewerbers rechtfertigten, der mangels Aufnahme in die Eignungsliste nicht habe ernannt werden können, hätte das Parlament die Ergebnisse des Auswahlverfahrens übergehen dürfen. Da das Parlament eine solche vergleichende Prüfung nicht vorgenommen habe, habe es seinen Entscheidungsspielraum nicht rechtmässig wahrgenommen; die angefochtene Entscheidung sei daher rechtsfehlerhaft.

23 Das Gericht kommt folglich zu dem Ergebnis, daß die vom Parlament im Laufe des Verfahrens vorgebrachte Begründung die streitige Entscheidung nicht rechtfertigen könne; diese sei daher aufzuheben.

24 Nach Artikel 53 EWG-Satzung und den entsprechenden Bestimmungen der EGKS- und der EAG-Satzung hat ein Rechtsmittel gegen eine Entscheidung des Gerichts unbeschadet der Artikel 185 und 186 EWG-Vertrag und der entsprechenden Bestimmungen des EGKS- und des EAG-Vertrags keine aufschiebende Wirkung.

25 Der Gerichtshof kann jedoch, wenn er dies den Umständen nach für nötig hält, die Durchführung des angefochtenen Urteils aussetzen.

26 Nach Artikel 83 § 2 der Verfahrensordnung ist die Aussetzung des Vollzugs nach den angezogenen Bestimmungen nur möglich, wenn Umstände vorliegen, aus denen sich die Dringlichkeit ergibt, und wenn die Notwendigkeit der beantragten Anordnung in tatsächlicher und

rechtlicher Hinsicht glaubhaft gemacht ist (fumus boni iuris). Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes ist die Dringlichkeit des Aussetzungsantrags danach zu beurteilen, ob die vorläufige Entscheidung notwendig ist, um zu verhindern, daß dem Antragsteller ein schwerer und nicht wiedergutzumachender Schaden entsteht.

27 Zu prüfen ist, ob dieser Tatbestand im vorliegenden Fall erfuellt ist.

28 Was zunächst den fumus boni iuris angeht, so macht das Parlament geltend, das Urteil des Gerichts verkenne Wesen und Aufgabe der Eignungsliste im Auswahlverfahren und verletze die Grundsätze, die das Verhalten der Anstellungsbehörde bei Einstellungen nach einem Auswahlverfahren beherrschten, insbesondere die Verpflichtung, die Korrektheit des Verfahrens zu überprüfen. Das Urteil verpflichte das Parlament, eine rechtswidrig zustande gekommene, verkürzte Eignungsliste zu verwenden, und beschränke damit den Entscheidungsspielraum der Anstellungsbehörde.

29 Beim derzeitigen Verfahrensstand genügt der Hinweis, daß die vorstehend in den Randnummern 21 und 22 wiedergegebene Begründung des Gerichts Grundsatzfragen der Grenzen der richterlichen Kontrolle von Entscheidungen der Anstellungsbehörde aufwirft, die der Gerichtshof bisher nicht entschieden hat.

30 Soweit das Rechtsmittel diese Begründung rügt, entbehrt es nicht offenkundig einer ernstlichen Grundlage; damit ist der fumus boni iuris gegeben.

31 Was die Dringlichkeit angeht, so macht das Parlament geltend, daß die Durchführung des Urteils des Gerichts die Aufhebung der

Ernennung des Bestplazierten des Auswahlverfahrens Nr. PE/41a/A mit sich bringe, der seit dem 16. Januar 1989 Leiter des Informationsbüros des Europäischen Parlaments in London sei. Diese Stelle bliebe daher für längere Zeit unbesetzt. Die Tätigkeit der Aussenstellen des Parlaments in den Hauptstädten der Gemeinschaft sei sehr wichtig; bleibe die Stelle des Leiters eines solchen Informationsbüros für längere Zeit unbesetzt, so sei das dem dienstlichen Interesse besonders abträglich.

32 Die Durchführung des Urteils des Gerichts verpflichtet das Parlament, die Ernennung im Anschluß an das Auswahlverfahren Nr. PE/41a/A aufzuheben. Es lässt sich nicht ausschließen, daß der Arbeit der Dienststellen des Parlaments entsprechend dessen Vorbringen ein schwerer und seiner Natur nach nicht wiedergutzumachender Schaden entstuende, wenn diese Stelle unbesetzt bliebe.

33 Selbst wenn die Fortführung des ersten Auswahlverfahrens es erlaubte, diese Stelle schnell durch die Ernennung eines der beiden Bestplazierten dieses Auswahlverfahrens zu besetzen, so könnte doch das Risiko, den Stelleninhaber im Anschluß an das Rechtsmittelverfahren erneut austauschen zu müssen, für das Parlament einen schweren und nicht wiedergutzumachenden Schaden darstellen. Das Interesse des Parlaments, ein solches Risiko zu vermeiden, und das Interesse des derzeitigen Stelleninhabers, der im Anschluß an ein unbeanstandetes Auswahlverfahren ernannt wurde, haben in diesem Fall Vorrang vor dem Interesse des vor dem Gericht obsiegenden Klägers daran, gegebenenfalls schnell, aber ohne Gewähr ernannt zu werden.

34 Daraus folgt, daß auch die Dringlichkeit gegeben ist.

35 Die Durchführung des angefochtenen Urteils ist daher auszusetzen.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER PRÄSIDENT

beschlossen:

1) Die Durchführung des Urteils des Gerichts erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften vom 20. September 1990 in der Rechtssache T-37/89, Jack Hanning gegen Europäisches Parlament, wird ausgesetzt.

2) Die Kostenentscheidung bleibt vorbehalten.

Luxemburg, den 31. Januar 1991.

Ende der Entscheidung

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