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Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 09.03.2000
Aktenzeichen: C-355/98
Rechtsgebiete: EG-Vertrag


Vorschriften:

EG-Vertrag Art. 169
EG-Vertrag Art. 55 Abs. 1
EG-Vertrag Art. 66
EG-Vertrag Art. 56
EG-Vertrag Art. 59
EG-Vertrag Art. 48
EG-Vertrag Art. 52
EG-Vertrag Art. 56 Abs. 1
EG-Vertrag Art. 60
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

1 Im Rahmen eines Verfahrens nach Artikel 169 EG-Vertrag (jetzt Artikel 226 EG) ist das Vorliegen einer Vertragsverletzung anhand der Lage zu beurteilen, in der sich der Mitgliedstaat bei Ablauf der Frist befand, die in der mit Gründen versehenen Stellungnahme gesetzt wurde; später eingetretene Veränderungen können vom Gerichtshof nicht berücksichtigt werden. (vgl. Randnr. 22)

2 Die in Artikel 55 Absatz 1 EG-Vertrag (jetzt Artikel 45 Absatz 1 EG) - gegebenenfalls in Verbindung mit Artikel 66 EG-Vertrag (jetzt Artikel 55 EG) - vorgesehene Ausnahmeregelung vom Grundprinzip der Niederlassungsfreiheit muß sich auf Tätigkeiten beschränken, die als solche eine unmittelbare und spezifische Teilnahme an der Ausübung öffentlicher Gewalt darstellen. Dies ist bei der Tätigkeit der Bewachungs- oder Sicherheitsunternehmen und der internen Bewachungsdienste nicht der Fall. (vgl. Randnrn. 24-26)

3 Ein Mitgliedstaat, der ein Bewachungsunternehmen verpflichtet, seine Betriebsniederlassung in seinem Hoheitsgebiet zu haben, und damit die Erbringung von Dienstleistungen in diesem Hoheitsgebiet durch in anderen Mitgliedstaaten niedergelassene Unternehmen unmöglich macht, verstößt gegen seine Verpflichtungen aus Artikel 59 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 49 EG). Ein solches Erfordernis kann nicht durch Gründe der öffentlichen Ordnung und der öffentlichen Sicherheit gerechtfertigt werden. Das Recht der Mitgliedstaaten, den freien Verkehr von Dienstleistungen aus diesen Gründen einzuschränken, bezweckt nämlich nicht, Wirtschaftsbereiche wie den der privaten Sicherheitsdienste hinsichtlich des Zugangs zu einer Beschäftigung von der Anwendung des Grundsatzes des freien Verkehrs auszunehmen, sondern soll den Mitgliedstaaten die Möglichkeit verschaffen, solchen Personen die Einreise oder den Aufenthalt im Staatsgebiet zu verwehren, deren Einreise oder Aufenthalt in diesem Staatsgebiet für sich allein genommen eine Gefahr für die öffentliche Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit darstellt. (vgl. Randnrn. 27-29, 41 und Tenor)

4 Eine nationale Regelung, wonach die Führungskräfte und das Personal der Bewachungsunternehmen und internen Bewachungsdienste mit Ausnahme der Bediensteten, die für administrative oder logistische Zwecke verwendet werden, auf dem Gebiet des Mitgliedstaates wohnen müssen, in dem diese Unternehmen ihren Sitz haben, behindert die Niederlassungsfreiheit und die Dienstleistungsfreiheit. Dieses Wohnsitzerfordernis kann nicht durch die Notwendigkeit gerechtfertigt werden, die Vergangenheit und das Verhalten der Betreffenden zu prüfen. Dem Erfordernis, Informationen hierüber zu erlangen, kann nämlich durch Maßnahmen Genüge getan werden, die die Freizügigkeit weniger einschränken, gegebenenfalls durch eine Zusammenarbeit der Behörden der Mitgliedstaaten. Überdies kann jedes in einem Mitgliedstaat niedergelassene Unternehmen unabhängig vom Wohnsitz seiner Führungskräfte kontrolliert und Sanktionen unterworfen werden. (vgl. Randnrn. 31-34, 41 und Tenor)

5 Der freie Dienstleistungsverkehr als fundamentaler Grundsatz des Vertrages darf nur durch Regelungen beschränkt werden, die durch das Allgemeininteresse gerechtfertigt sind und die für alle im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats, in dem die Dienstleistung erbracht werden soll, tätigen Personen oder Unternehmen verbindlich sind, und zwar nur insoweit, als dem Allgemeininteresse nicht bereits durch die Rechtsvorschriften Rechnung getragen ist, denen der Leistungserbringer in dem Staat unterliegt, in dem er ansässig ist. (vgl. Randnr. 37)

6 Eine nationale Regelung, wonach jeder Mitarbeiter eines Bewachungsunternehmens oder eines internen Bewachungsdienstes im Besitz eines nach nationalem Recht ausgestellten Ausweises sein muß, stellt eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs dar. Die mit der Erteilung eines solchen Ausweises verbundenen Formalitäten können die Erbringung grenzüberschreitender Dienstleistungen nämlich verteuern. Im übrigen muß ein Dienstleistender, der sich in einen anderen Mitgliedstaat begibt, im Besitz eines Ausweises oder Reisepasses sein, so daß das Erfordernis eines zusätzlichen Ausweises außer Verhältnis zu der Notwendigkeit steht, die Feststellung der Identität der Betreffenden zu gewährleisten. (vgl. Randnrn. 39-41 und Tenor)


Urteil des Gerichtshofes (Fünfte Kammer) vom 9. März 2000. - Kommission der Europäischen Gemeinschaften gegen Königreich Belgien. - Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats - Freizügigkeit der Arbeitnehmer - Niederlassungsfreiheit - Dienstleistungsfreiheit - Bewachungs- und Sicherheitsdienste - Erfordernis einer vorherigen Genehmigung - Verpflichtung juristischer Personen, eine betriebliche Niederlassung im Inland zu haben - Verpflichtung der Führungskräfte und Arbeitnehmer, im Inland zu wohnen - Erfordernis eines Ausweises nach nationalem Recht. - Rechtssache C-355/98.

Parteien:

In der Rechtssache C-355/98

Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch M. Patakia, Juristischer Dienst, als Bevollmächtigte, Zustellungsbevollmächtigter: C. Gómez de la Cruz, Juristischer Dienst, Centre Wagner, Luxemburg-Kirchberg,

Klägerin,

gegen

Königreich Belgien, vertreten durch J. Devadder, Hauptberater im Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten, Außenhandel und Entwicklungszusammenarbeit, als Bevollmächtigten, Zustellungsanschrift: Belgische Botschaft, 4, rue des Girondins, Luxemburg,

Beklagter,

wegen Feststellung, daß das Königreich Belgien dadurch gegen seine Verpflichtungen aus den Artikeln 48, 52 und 59 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 39 EG, 43 EG und 49 EG) verstoßen hat, daß es im Rahmen des Gesetzes vom 10. April 1990 über Bewachungsunternehmen, Sicherheitsunternehmen und interne Bewachungsdienste Vorschriften erlassen hat, nach denen

a) der Betrieb eines unter dieses Gesetz fallenden Unternehmens von einer vorherigen Genehmigung abhängig ist, die bestimmten Voraussetzungen unterliegt, nämlich

- der Verpflichtung des Bewachungsunternehmens, eine Betriebsniederlassung in Belgien zu haben,

- der Verpflichtung der Personen, die

- mit der tatsächlichen Leitung eines Bewachungsunternehmens oder eines internen Bewachungsdienstes betraut sind oder

- in einem solchen Unternehmen oder für dessen Rechnung arbeiten oder bei dessen Tätigkeiten eingesetzt werden, mit Ausnahme von Bediensteten, die intern für administrative oder logistische Zwecke verwendet werden,

ihren Wohnsitz oder hilfsweise ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Belgien zu haben,

- der Verpflichtung eines in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassenen Unternehmens, ungeachtet der von dem Unternehmen bereits für die Ausübung seiner Tätigkeit im Mitgliedstaat der Niederlassung erbrachten Nachweise und Sicherheiten eine Genehmigung einzuholen,

b) für jede Person, die in Belgien eine Bewachungstätigkeit ausüben oder einen internen Bewachungsdienst wahrnehmen möchte, die Erteilung eines Ausweises nach diesem Gesetz erforderlich ist,

erläßt

DER GERICHTSHOF

(Fünfte Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten der Sechsten Kammer J. C. Moitinho de Almeida in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Fünften Kammer sowie der Richter L. Sevón, C. Gulmann, J.-P. Puissochet und P. Jann (Berichterstatter),

Generalanwalt: F. G. Jacobs

Kanzler: R. Grass

aufgrund des Berichts des Berichterstatters,

nach Anhörung der Schlußanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 16. September 1999,

folgendes

Urteil

Entscheidungsgründe:

1 Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften hat mit Klageschrift, die am 29. September 1998 bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, gemäß Artikel 169 EG-Vertrag (jetzt Artikel 226 EG) Klage erhoben auf Feststellung, daß das Königreich Belgien dadurch gegen seine Verpflichtungen aus den Artikeln 48, 52 und 59 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 39 EG, 43 EG und 49 EG) verstoßen hat, daß es im Rahmen des Gesetzes vom 10. April 1990 über Bewachungsunternehmen, Sicherheitsunternehmen und interne Bewachungsdienste (Moniteur belge vom 29. Mai 1990, S. 10963; im folgenden: Gesetz) Vorschriften erlassen hat, nach denen

a) der Betrieb eines unter dieses Gesetz fallenden Unternehmens von einer vorherigen Genehmigung abhängig ist, die bestimmten Voraussetzungen unterliegt, nämlich

- der Verpflichtung des Bewachungsunternehmens, eine Betriebsniederlassung in Belgien zu haben,

- der Verpflichtung der Personen, die

- mit der tatsächlichen Leitung eines Bewachungsunternehmens oder eines internen Bewachungsdienstes betraut sind oder

- in einem solchen Unternehmen oder für dessen Rechnung arbeiten oder bei dessen Tätigkeiten eingesetzt werden, mit Ausnahme von Bediensteten, die intern für administrative oder logistische Zwecke verwendet werden,

ihren Wohnsitz oder hilfsweise ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Belgien zu haben,

- der Verpflichtung eines in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassenen Unternehmens, ungeachtet der von dem Unternehmen bereits für die Ausübung seiner Tätigkeit im Mitgliedstaat der Niederlassung erbrachten Nachweise und Sicherheiten eine Genehmigung einzuholen,

b) für jede Person, die in Belgien eine Bewachungstätigkeit ausüben oder einen internen Bewachungsdienst wahrnehmen möchte, die Erteilung eines Ausweises nach diesem Gesetz erforderlich ist.

Rechtlicher Rahmen

2 Artikel 1 des Gesetzes lautet:

"(1) Als Bewachungsunternehmen im Sinne dieses Gesetzes ist jede natürliche oder juristische Person anzusehen, die eine Tätigkeit ausübt, die in der dauernden oder zeitweiligen Erbringung von Dienstleistungen auf dem Gebiet

a) der Überwachung und des Schutzes beweglicher oder unbeweglicher Gegenstände,

b) des Personenschutzes,

c) der Überwachung und des Schutzes von Gütertransporten,

d) des Betriebes von Alarmzentralen

an Dritte besteht.

(2) Als interner Bewachungsdienst im Sinne dieses Gesetzes ist jeder von einer natürlichen oder juristischen Person für den eigenen Bedarf an einem öffentlich zugänglichen Ort eingerichtete Dienst mit den in Absatz 1 Buchstaben a), b) oder c) genannten Tätigkeiten anzusehen.

(3) Als Sicherheitsunternehmen im Sinne dieses Gesetzes ist jede natürliche oder juristische Person anzusehen, die eine Tätigkeit ausübt, die in der dauernden oder zeitweiligen Erbringung von Dienstleistungen auf dem Gebiet des Entwurfs, des Einbaus und der Wartung von Alarmsystemen und -zentralen an Dritte besteht.

..."

3 Nach Artikel 2 des Gesetzes darf niemand ohne vorherige Genehmigung des Innenministers im Benehmen mit dem Justizminister ein Bewachungsunternehmen betreiben oder einen internen Bewachungsdienst einrichten. Bewachungsunternehmen können als juristische Personen nach dem Recht eines Mitgliedstaats der Europäischen Union errichtet werden, doch müssen sie eine Betriebsniederlassung in Belgien haben. Nach Artikel 4 des Gesetzes darf niemand ohne vorherige Genehmigung des Innenministers ein Sicherheitsunternehmen betreiben.

4 Nach Artikel 5 des Gesetzes müssen Personen, die mit der tatsächlichen Leitung eines Bewachungsunternehmens oder eines internen Bewachungsdienstes betraut sind, ihren Wohnsitz oder hilfsweise ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Belgien haben. Dasselbe gilt nach Artikel 6 des Gesetzes für die Bediensteten der Bewachungsunternehmen und internen Bewachungsdienste mit Ausnahme der Bediensteten, die intern für administrative oder logistische Zwecke verwendet werden.

5 Nach Artikel 8 des Gesetzes müssen Personen, die in einem solchen Unternehmen oder für dessen Rechnung arbeiten, im Besitz eines vom Innenminister ausgestellten Ausweises sein.

6 Das Gesetz wurde durch Gesetz vom 18. Juli 1997 (Moniteur belge vom 28. August 1997, S. 21964) mit Wirkung vom 28. August 1997 geändert. Die hierdurch vorgenommenen Änderungen betreffen allerdings nicht die Bestimmungen des Gesetzes, die Gegenstand des vorliegenden Vertragsverletzungsverfahrens sind.

Vorverfahren

7 Mit Schreiben vom 11. April 1996 forderte die Kommission die belgische Regierung auf, zur Vereinbarkeit des Gesetzes mit dem freien Dienstleistungsverkehr, der Niederlassungsfreiheit und der Freizügigkeit der Arbeitnehmer Stellung zu nehmen.

8 Die belgische Regierung antwortete darauf am 14. Juni 1996, die Einschränkungen dieser Freiheiten durch das Gesetz seien durch die in Artikel 48 Absatz 3 des Vertrages und Artikel 56 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 46 EG) gegebenenfalls in Verbindung mit Artikel 66 EG-Vertrag (jetzt Artikel 55 EG) vorgesehenen Ausnahmebestimmungen gerechtfertigt.

9 Mit Schreiben vom 10. Juni 1997 richtete die Kommission eine mit Gründen versehene Stellungnahme an das Königreich Belgien, mit der sie dieses aufforderte, innerhalb einer Frist von zwei Monaten ab Zustellung der Stellungnahme die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um dieser nachzukommen.

10 In ihrem Antwortschreiben vom 6. Mai 1998 berief sich die belgische Regierung auf den besonderen Charakter des Sektors private Sicherungsdienste und verwies hierzu auf Artikel 55 EG-Vertrag (jetzt Artikel 45 EG).

11 Speziell zu der Verpflichtung, eine Betriebsniederlassung in Belgien zu haben, machte die belgische Regierung geltend, diese sei aus Gründen der öffentlichen Ordnung im Sinne von Artikel 56 EG-Vertrag gerechtfertigt. Was das Erfordernis einer vorherigen Genehmigung oder Zulassung angehe, fehle es an einer Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten; auch sei nicht dargetan worden, daß in anderen Mitgliedstaaten ähnliche Dienstleistungen wie die in Belgien zugelassenen erbracht würden. Zum Erfordernis des Wohnsitzes oder gewöhnlichen Aufenthalts hat sie schließlich geltend gemacht, die Personen, die auf dem Bewachungssektor tätig werden wollten, müßten einem "Screening" unterzogen werden.

12 Da die Kommission durch diese Antwort nicht zufriedengestellt war, hat sie die vorliegende Vertragsverletzungsklage erhoben.

Vorbringen der Parteien

13 Die Kommission trägt vor, das Gesetz schränke den freien Dienstleistungsverkehr in mehrfacher Hinsicht ein. Diese Beschränkungen ergäben sich aus der Verpflichtung der Bewachungsunternehmen, ihre Betriebsniederlassung in Belgien zu haben, dem Erfordernis einer Genehmigung für die Ausübung der Tätigkeiten eines Bewachungsunternehmens sowie einer Zulassung für die Ausübung der Tätigkeiten eines Sicherungsunternehmens und schließlich der Verpflichtung des Personals der Bewachungsunternehmen und der internen Bewachungsdienste, im Besitz eines vom belgischen Innenminister erteilten Ausweises zu sein.

14 Das Gesetz schränke ferner die Niederlassungsfreiheit und die Freizügigkeit der Arbeitnehmer insoweit ein, als es für die Personen, die mit der tatsächlichen Leitung eines Bewachungsunternehmens oder eines internen Bewachungsdienstes betraut seien, sowie für das Personal dieser Unternehmen und Dienste, mit Ausnahme von Bediensteten, die intern für administrative oder logistische Zwecke verwendet würden, ein Wohnsitzerfordernis aufstelle.

15 Artikel 55 des Vertrages finde keine Anwendung, da die Bewachungsunternehmen und internen Bewachungsdienste sowie die Sicherungsunternehmen nicht an der Ausübung öffentlicher Gewalt teilnähmen.

16 Zur Verpflichtung, eine Betriebsniederlassung in Belgien zu haben, vertritt die Kommission die Auffassung, ein solches Erfordernis sei nur aus Gründen der öffentlichen Ordnung im Sinne des Artikels 56 des Vertrages zu rechtfertigen, wenn nachgewiesen wäre, daß das individuelle Verhalten der betreffenden Person oder des betreffenden Unternehmens eine gegenwärtige, tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung darstelle, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berühre. Eine solche Gefährdung sei im vorliegenden Fall nicht nachgewiesen worden. Im übrigen stehe das betreffende Erfordernis außer Verhältnis zu dem verfolgten Zweck.

17 Auch das Erfordernis einer Genehmigung oder Zulassung sowie eines vom belgischen Innenminister ausgestellten Ausweises sei bei gelegentlichen Dienstleistungen unverhältnismäßig. Zum einen lasse das Gesetz es nicht zu, die Sicherheiten zu berücksichtigen, die der Leistende bereits im Niederlassungsmitgliedstaat für die Ausübung seiner Tätigkeit erbracht habe. Zum anderen müsse bereits nach Artikel 4 Absatz 2 der Richtlinie 73/148/EWG des Rates vom 21. Mai 1973 zur Aufhebung der Reise- und Aufenthaltsbeschränkungen für Staatsangehörige der Mitgliedstaaten innerhalb der Gemeinschaft auf dem Gebiet der Niederlassung und des Dienstleistungsverkehrs (ABl. L 172, S. 14) jeder, der sich vorübergehend nach Belgien begebe, um dort eine Dienstleistung zu erbringen, im Besitz eines gültigen Personalausweises oder Reisepasses sein.

18 Die durch das Gesetz aufgestellten Wohnsitzbedingungen könnten nicht durch das Erfordernis gerechtfertigt werden, die Betroffenen einem "Screening" zu unterziehen.

19 Die belgische Regierung trägt vor, die Bewachungstätigkeit mache ihrer besonderen Natur nach eine strikte Regelung erforderlich, die es auf Gemeinschaftsebene und in den meisten Mitgliedstaaten nicht gebe. Jedes Bewachungsunternehmen könne eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung darstellen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft, nämlich die öffentliche Sicherheit und Ordnung, berühre.

20 Im Zusammenhang mit dem Wohnsitzerfordernis führt die belgische Regierung aus, sie habe das Urteil vom 29. Oktober 1998 in der Rechtssache C-114/97 (Kommission/Spanien, Slg. 1998, I-6717) zur Kenntnis genommen und die Möglichkeit, die streitigen Vorschriften des Gesetzes zu ändern, würden gegenwärtig nach Maßgabe dieses Urteils geprüft.

21 Mit Schreiben vom 23. August 1999 hat die belgische Regierung dem Gerichtshof den Wortlaut des Gesetzes vom 9. Juni 1999 zur Änderung des Gesetzes vom 10. April 1990 (Moniteur belge vom 29. Juli 1999, S. 28316) sowie die Kopie eines Schreibens übermittelt, mit dem sie die Kommission um Rücknahme der vorliegenden Klage ersucht hatte.

Würdigung durch den Gerichtshof

22 Bezüglich der Mitteilung der belgischen Regierung vom 23. August 1999 ist daran zu erinnern, daß das Vorliegen einer Vertragsverletzung nach ständiger Rechtsprechung anhand der Lage zu beurteilen ist, in der sich der Mitgliedstaat bei Ablauf der Frist befand, die in der mit Gründen versehenen Stellungnahme gesetzt wurde; später eingetretene Veränderungen können vom Gerichtshof nicht berücksichtigt werden (vgl. u. a. Urteil vom 16. Dezember 1997 in der Rechtssache C-316/96, Kommission/Italien, Slg. 1997, I-7231, Randnr. 14).

23 Im Hinblick auf die Vorschriften des Gesetzes in seiner bei Ablauf der in der mit Gründen versehenen Stellungnahme gesetzten Frist geltenden Fassung, die Gegenstand der vorliegenden Klage sind, bestreitet die belgische Regierung nicht, daß diese die Freizügigkeit der Arbeitnehmer, die Niederlassungsfreiheit und den freien Dienstleistungsverkehr beschränken. Sie macht jedoch geltend, diese Maßnahmen seien gerechtfertigt.

24 Vorab ist festzustellen, daß die in Artikel 55 Absatz 1 des Vertrages, gegebenenfalls in Verbindung mit Artikel 66 des Vertrages, vorgesehene Ausnahmeregelung hier keine Anwendung finden kann.

25 Nach ständiger Rechtsprechung muß sich diese Ausnahmeregelung nämlich auf Tätigkeiten beschränken, die als solche eine unmittelbare und spezifische Teilnahme an der Ausübung öffentlicher Gewalt darstellen (Urteile vom 21. Juni 1974 in der Rechtssache 2/74, Reyners, Slg. 1974, 631, Randnr. 45, und Kommission/Spanien, Randnr. 35).

26 Die Tätigkeit der Bewachungs- oder Sicherheitsunternehmen und der internen Bewachungsdienste stellt normalerweise keine direkte und spezifische Beteiligung an der Ausübung der öffentlichen Gewalt dar, und die belgische Regierung hat keine Anhaltspunkte dargetan, aus denen sich etwas anderes ergeben könnte.

Zur Verpflichtung, die Betriebsniederlassung in Belgien zu haben

27 Das Erfordernis, daß ein Bewachungsunternehmen seine Betriebsniederlassung in Belgien haben muß, läuft dem freien Dienstleistungsverkehr direkt zuwider, da es die Erbringung von Dienstleistungen in Belgien durch in anderen Mitgliedstaaten niedergelassene Unternehmen unmöglich macht (vgl. Urteil vom 4. Dezember 1986 in der Rechtssache 205/84, Kommission/Deutschland, Slg. 1986, 3755, Randnr. 52).

28 Was die zur Rechtfertigung dieses Erfordernisses geltend gemachten Gründe der öffentlichen Ordnung und der öffentlichen Sicherheit angeht, ist zum einen daran zu erinnern, daß der Begriff der öffentlichen Ordnung eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung voraussetzt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Wie bei allen Abweichungen von einem Grundprinzip des Vertrages ist jedoch auch bei der Berufung auf die öffentliche Ordnung eine enge Auslegung geboten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. Januar 1999 in der Rechtssache C-348/96, Calfa, Slg. 1999, I-11, Randnrn. 21 und 23).

29 Zum anderen bezweckt das Recht der Mitgliedstaaten, den freien Verkehr von Personen und Dienstleistungen aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit einzuschränken, nicht, Wirtschaftsbereiche wie den der privaten Sicherheitsdienste von der Anwendung dieses Grundsatzes auszunehmen, sondern soll den Mitgliedstaaten die Möglichkeit verschaffen, solchen Personen die Einreise oder den Aufenthalt im Staatsgebiet zu verwehren, deren Einreise oder Aufenthalt in diesem Staatsgebiet für sich allein genommen eine Gefahr für die öffentliche Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit darstellt (vgl. Urteil Kommission/Spanien, Randnr. 42).

30 Das Argument der belgischen Regierung, jedes Bewachungsunternehmen könne eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung darstellen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft, nämlich die öffentliche Sicherheit und Ordnung, berühre, ist offensichtlich unbegründet und jedenfalls nicht belegt; es kann daher die Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs, die sich aus der Verpflichtung der ein solches Unternehmen betreibenden Gesellschaften ergibt, ihre Betriebsniederlassung in Belgien zu haben, nicht rechtfertigen.

Zum Wohnsitzerfordernis

31 Das den Führungskräften und dem Personal der Bewachungsunternehmen und internen Bewachungsdienste mit Ausnahme der Bediensteten, die für administrative oder logistische Zwecke verwendet werden, auferlegte Wohnsitzerfordernis behindert sowohl die Niederlassungsfreiheit (vgl. Urteil Kommission/Spanien, Randnr. 44) als auch die Freizügigkeit der Arbeitnehmer (vgl. Urteil vom 7. Mai 1998 in der Rechtssache C-350/96, Clean Car Autoservice, Slg. 1998, I-2521, Randnrn. 27 bis 30).

32 Dieses Erfordernis kann nicht durch die Notwendigkeit gerechtfertigt werden, die Vergangenheit und das Verhalten der Betreffenden zu prüfen, die die belgische Regierung in ihrer Antwort auf die mit Gründen versehene Stellungnahme geltend gemacht hat.

33 Dem Erfordernis, Informationen über das Verhalten der Führungskräfte und des Personals zu erlangen, kann nämlich durch Maßnahmen Genüge getan werden, die die Freizügigkeit weniger einschränken, gegebenenfalls durch eine Zusammenarbeit der Behörden der Mitgliedstaaten.

34 Überdies kann jedes in einem Mitgliedstaat niedergelassene Unternehmen unabhängig vom Wohnsitz seiner Führungskräfte kontrolliert und Sanktionen unterworfen werden (vgl. in diesem Sinne Urteil Kommission/Spanien, Randnr. 47).

Zum Erfordernis einer vorherigen Genehmigung oder Zulassung

35 Nach ständiger Rechtsprechung stellt eine nationale Regelung, die die Erbringung bestimmter Dienstleistungen durch ein in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassenes Unternehmen im Inland von der Erteilung einer behördlichen Erlaubnis abhängig macht, eine Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit im Sinne von Artikel 59 des Vertrages dar (vgl. insbesondere Urteil vom 9. August 1994 in der Rechtssache C-43/93, Vander Elst, Slg. 1994, I-3803, Randnr. 15).

36 Im Zusammenhang mit dem besonderen Charakter der Tätigkeiten der Bewachungs- und Sicherheitsdienste sowie der fehlenden Regelung auf Gemeinschaftsebene und in den meisten Mitgliedstaaten, auf die sich die belgische Regierung beruft, um dieses Erfordernis zu rechtfertigen, ist festzustellen, daß das Gesetz jedenfalls über das hinausgeht, was zur Erreichung des verfolgten Zwecks, eine strikte Kontrolle dieser Tätigkeiten sicherzustellen, erforderlich ist.

37 Der freie Dienstleistungsverkehr als fundamentaler Grundsatz des Vertrages darf nämlich nur durch Regelungen beschränkt werden, die durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt sind und für alle im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats tätigen Personen oder Unternehmen gelten, soweit dieses Interesse nicht durch die Vorschriften geschützt wird, denen der Dienstleistende in dem Mitgliedstaat unterliegt, in dem er ansässig ist (Urteil vom 17. Dezember 1981 in der Rechtssache 279/80, Webb, Slg. 1981, 3305, Randnr. 17).

38 Indem es verlangt, daß alle Unternehmen dieselben Voraussetzungen erfuellen, um eine vorherige Genehmigung oder Zulassung zu erhalten, macht es das belgische Recht jedoch unmöglich, den Verpflichtungen Rechnung zu tragen, denen der Dienstleistende in dem Mitgliedstaat unterliegt, in dem er ansässig ist.

Zum Ausweiserfordernis

39 Das Erfordernis, daß jeder Mitarbeiter eines Bewachungsunternehmens oder eines internen Bewachungsdienstes im Besitz eines vom belgischen Innenminister ausgestellten Ausweises sein muß, ist ebenfalls als Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs anzusehen. Die mit der Erteilung eines solchen Ausweises verbundenen Formalitäten können die Erbringung grenzüberschreitender Dienstleistungen nämlich verteuern.

40 Im übrigen muß, wie die Kommission zu Recht hervorgehoben hat, ein Dienstleistender, der sich in einen anderen Mitgliedstaat begibt, im Besitz eines Ausweises oder Reisepasses sein. Folglich steht das Erfordernis eines zusätzlichen, vom belgischen Innenminister erteilten Ausweises außer Verhältnis zu der Notwendigkeit, die Feststellung der Identität der Betreffenden zu gewährleisten.

41 Somit ist festzustellen, daß das Königreich Belgien dadurch gegen seine Verpflichtungen aus den Artikeln 48, 52 und 59 EG-Vertrag verstoßen hat, daß es im Rahmen des Gesetzes Vorschriften erlassen hat, nach denen

a) der Betrieb eines unter dieses Gesetz fallenden Unternehmens von einer vorherigen Genehmigung abhängig ist, die bestimmten Voraussetzungen unterliegt, nämlich

- der Verpflichtung des Bewachungsunternehmens, eine Betriebsniederlassung in Belgien zu haben,

- der Verpflichtung der Personen, die

- mit der tatsächlichen Leitung eines Bewachungsunternehmens oder eines internen Bewachungsdienstes betraut sind oder

- in einem solchen Unternehmen oder für dessen Rechnung arbeiten oder bei dessen Tätigkeiten eingesetzt werden, mit Ausnahme von Bediensteten, die intern für administrative oder logistische Zwecke verwendet werden,

ihren Wohnsitz oder hilfsweise ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Belgien zu haben,

- der Verpflichtung eines in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassenen Unternehmens, ungeachtet der von dem Unternehmen bereits für die Ausübung seiner Tätigkeit im Mitgliedstaat der Niederlassung erbrachten Nachweise und Sicherheiten eine Genehmigung einzuholen,

b) für jede Person, die in Belgien eine Bewachungstätigkeit ausüben oder einen internen Bewachungsdienst wahrnehmen möchte, die Erteilung eines Ausweises nach diesem Gesetz erforderlich ist.

Kostenentscheidung:

Kosten

42 Gemäß Artikel 69 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Kommission beantragt hat, dem Königreich Belgien die Kosten aufzuerlegen, und dieses mit seinem Vorbringen unterlegen ist, sind ihm die Kosten aufzuerlegen.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

(Fünfte Kammer)

für Recht erkannt und entschieden:

1. Das Königreich Belgien hat dadurch gegen seine Verpflichtungen aus den Artikeln 48, 52 und 59 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 39 EG, 43 EG und 49 EG) verstoßen, daß es im Rahmen des Gesetzes vom 10. April 1990 über Bewachungsunternehmen, Sicherheitsunternehmen und interne Bewachungsdienste Vorschriften erlassen hat, nach denen

a) der Betrieb eines unter dieses Gesetz fallenden Unternehmens von einer vorherigen Genehmigung abhängig ist, die bestimmten Voraussetzungen unterliegt, nämlich

- der Verpflichtung des Bewachungsunternehmens, eine Betriebsniederlassung in Belgien zu haben,

- der Verpflichtung der Personen, die

- mit der tatsächlichen Leitung eines Bewachungsunternehmens oder eines internen Bewachungsdienstes betraut sind oder

- in einem solchen Unternehmen oder für dessen Rechnung arbeiten oder bei dessen Tätigkeiten eingesetzt werden, mit Ausnahme von Bediensteten, die intern für administrative oder logistische Zwecke verwendet werden,

ihren Wohnsitz oder hilfsweise ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Belgien zu haben,

- der Verpflichtung eines in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassenen Unternehmens, ungeachtet der von dem Unternehmen bereits für die Ausübung seiner Tätigkeit im Mitgliedstaat der Niederlassung erbrachten Nachweise und Sicherheiten eine Genehmigung einzuholen,

b) für jede Person, die in Belgien eine Bewachungstätigkeit ausüben oder einen internen Bewachungsdienst wahrnehmen möchte, die Erteilung eines Ausweises nach diesem Gesetz erforderlich ist.

2. Das Königreich Belgien trägt die Kosten des Verfahrens.

Ende der Entscheidung

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