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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 20.06.1991
Aktenzeichen: C-356/89
Rechtsgebiete: Verordnung Nr. 1408/71 vom 14. Juni 1971, EWG-Vertrag


Vorschriften:

Verordnung Nr. 1408/71 vom 14. Juni 1971 Art. 4 Abs. 1 Buchst. b
Verordnung Nr. 1408/71 vom 14. Juni 1971 Art. 10 Abs 1 Unterabs. 1
EWG-Vertrag Art. 177
EWG-Vertrag Art. 51
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

1. Für Personen, für die als Arbeitnehmer oder Selbständige die Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats gelten oder gegolten haben, ist eine in den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats vorgesehene Beihilfe, die aufgrund objektiver Kriterien Personen gewährt wird, die durch ein körperliches Gebrechen in ihrer Fortbewegungsfähigkeit beeinträchtigt sind, und auf deren Gewährung die Betroffenen einen Rechtsanspruch haben, einer Leistung bei Invalidität im Sinne von Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe b der Verordnung Nr. 1408/71 gleichzustellen.

2. Stellt eine Beihilfe für Behinderte eine Leistung bei Invalidität im Sinne von Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe b der Verordnung Nr. 1408/71 dar, so schließt es Artikel 10 dieser Verordnung aus, daß diese Leistung allein deshalb entzogen wird, weil der Berechtigte im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats als des Staates wohnt, in dessen Gebiet der zur Zahlung verpflichtete Träger seinen Sitz hat.


URTEIL DES GERICHTSHOFES (SECHSTE KAMMER) VOM 20. JUNI 1991. - ROGER STANTON NEWTON GEGEN CHIEF ADJUDICATION OFFICER. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: SOCIAL SECURITY COMMISSIONER - VEREINIGTES KOENIGREICH. - SOZIALE SICHERHEIT DER WANDERARBEITNEHMER - SACHLICHER GELTUNGSBEREICH DER VERORDNUNG NR. 1408/71 - WOHNORTKLAUSEL. - RECHTSSACHE C-356/89.

Entscheidungsgründe:

1 Der Social Security Commissioner hat mit Entscheidung vom 23. Oktober 1989, beim Gerichtshof eingegangen am 27. November 1989, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag zwei Fragen nach der Auslegung der Artikel 4 und 10 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in der durch die Verordnung (EWG) Nr. 2001/83 des Rates vom 2. Juni 1983 (ABl. L 230, S. 6) kodifizierten Fassung zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Fragen stellen sich in einem Rechtsstreit zwischen Roger Stanton Newton und dem Chief Adjudication Officer aufgrund der Weigerung des Beklagten, dem Kläger weiterhin eine in den Rechtsvorschriften des Vereinigten Königreichs vorgesehene Leistung für Behinderte, die "Mobilitätsbeihilfe" ("mobility allowance"), zu gewähren.

3 Der Kläger, ein britischer Staatsangehöriger, übte in Frankreich eine selbständige Tätigkeit aus, als er am 12. Dezember 1980 einen Verkehrsunfall erlitt. Seit diesem Unfall leidet er an einer vollständigen Tetraplegie.

4 Nach seiner Rückkehr in das Vereinigte Königreich beantragte der Kläger am 4. März 1981 die Gewährung einer Mobilitätsbeihilfe.

5 Nach Section 37 A (1) des Social Security Act 1975 [Gesetz über die soziale Sicherheit von 1975] und Regulation 2 (1) der Mobility Allowance Regulations 1975 [Verordnung über die Mobilitätsbeihilfe von 1975] wird die Mobilitätsbeihilfe jedem gewährt, der an einer körperlichen Behinderung leidet, aufgrund deren er nicht oder praktisch nicht gehen kann, sofern er während eines bestimmten Zeitraums in Großbritannien anwesend gewesen ist, dort immer noch

anwesend ist und dort seinen Wohnsitz hat. Die Mobilitätsbeihilfe ist eine wöchentliche, in pauschalierter Höhe gezahlte Geldleistung, die nicht vom Einkommen des Empfängers abhängt.

6 Die Mobilitätsbeihilfe wurde dem Kläger bewilligt. Dieser lebt seit dem 4. April 1984 ständig in Frankreich. In der Folge teilte der Adjudication Officer dem Kläger mit, daß er keinen Anspruch mehr auf die Mobilitätsbeihilfe habe, da er die in den nationalen Rechtsvorschriften aufgestellten Voraussetzungen in bezug auf Wohnsitz und Anwesenheit in Großbritannien nicht mehr erfuelle.

7 Der Kläger legte gegen diese Entscheidung einen Rechtsbehelf ein. Im Verfahren vor dem Social Security Commissioner machte er insbesondere geltend, daß die Mobilitätsbeihilfe eine Leistung bei Invalidität im Sinne von Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe b der Verordnung Nr. 1408/71 sei und daß ihm gemäß Artikel 10 Absatz 1 der Verordnung die Gewährung dieser Leistung nicht deshalb entzogen werden könne, weil er seinen Wohnsitz nach Frankreich verlegt habe.

8 Unter diesen Umständen hat das nationale Gericht beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Ist im Fall eines Arbeitnehmers oder Selbständigen, der nur nach den Rechtsvorschriften des Vereinigten Königreichs einen Anspruch auf die Mobilitätsbeihilfe gemäß Section 37 A des Social Security Act 1975 erworben hat, aber keinen Anspruch auf irgendeine andere Leistung nach den Rechtsvorschriften des Vereinigten Königreichs besitzt,

a) die genannte Beihilfe eine Leistung im Sinne von Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe b der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates, die auch nicht nach Artikel 4 Absatz 4 ausgeschlossen ist;

b) wenn ja, kann diese Person aufgrund von Artikel 10 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates die Beihilfe weiterhin beziehen, wenn sie in einem anderen Mitgliedstaat wohnt?

9 Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts des Ausgangsverfahrens, der nationalen Regelung, des Verfahrensablaufs und der beim Gerichtshof eingereichten schriftlichen Erklärungen wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt wird im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.

Zur ersten Frage

10 Zunächst ist darauf hinzuweisen, daß der Gerichtshof im Verfahren nach Artikel 177 EWG-Vertrag nicht befugt ist, die Normen des Gemeinschaftsrechts auf einen Einzelfall anzuwenden, und somit auch nicht dafür zuständig ist, eine Bestimmung des innerstaatlichen Rechts unter eine solche Norm einzuordnen. Er kann aber - ausgehend vom Akteninhalt - dem innerstaatlichen Gericht die Hinweise zur Auslegung des Gemeinschaftsrechts geben, die diesem bei der Beurteilung der Wirkungen dieser Bestimmung dienlich sein können.

11 Gemäß ihrem Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe b gilt die Verordnung Nr. 1408/71 für alle Rechtsvorschriften über Zweige der sozialen Sicherheit, die Leistungen bei Invalidität einschließlich der Leistungen, die zur Erhaltung oder Besserung der Erwerbsfähigkeit bestimmt sind, betreffen. Artikel 4 Absatz 4 der Verordnung Nr. 1408/71 bestimmt dagegen, daß die Verordnung nicht auf die Sozialhilfe anzuwenden ist.

12 Der Gerichtshof hat bereits mehrmals festgestellt, daß es zwar für die Anwendung der Gemeinschaftsregelung über die soziale

Sicherheit wünschenswert erscheinen mag, die gesetzlichen Systeme eindeutig danach zu unterscheiden, ob sie der sozialen Sicherheit oder der Sozialhilfe zuzurechnen sind, daß aber nicht auszuschließen ist, daß nationale Rechtsvorschriften ihrem persönlichen Geltungsbereich, ihren Zielen und den Modalitäten ihrer Anwendung nach beiden Rechtsgebieten gleich nahestehen (vgl. vor allem Urteil vom 24. Februar 1987 in den verbundenen Rechtssachen 379/85, 380/85, 381/85 und 93/86, Giletti, Slg. 1987, 955, Randnr. 9).

13 Wenn eine Rechtsvorschrift der im Ausgangsverfahren streitigen Art auch in bestimmten Merkmalen Ähnlichkeiten mit der Sozialhilfe aufweist - namentlich dadurch, daß die Gewährung der in ihr vorgesehenen Leistung nicht von der Zurücklegung von Zeiten beruflicher Tätigkeit, der Versicherungszugehörigkeit oder der Beitragszahlung abhängt -, so steht sie doch in bestimmten Einzelheiten der sozialen Sicherheit nahe.

14 In Anbetracht der weiten Umschreibung des Kreises der Empfänger der fraglichen Leistung erfuellt eine solche Rechtsvorschrift in Wahrheit eine doppelte Aufgabe. Zum einen dient sie dazu, den völlig ausserhalb des Systems der sozialen Sicherheit stehenden Behinderten ein Mindesteinkommen zu sichern. Zum anderen verschafft sie den Empfängern von Leistungen der sozialen Sicherheit, die durch ein körperliches Gebrechen in ihrer Fortbewegungsfähigkeit beeinträchtigt sind, ein zusätzliches Einkommen.

15 Folglich müssen für einen Arbeitnehmer oder Selbständigen, der aufgrund einer früheren Berufstätigkeit bereits dem System der sozialen Sicherheit des Staates, dessen Rechtsvorschriften in Anspruch genommen werden, angehört, die genannten Rechtsvorschriften

dem Bereich der sozialen Sicherheit im Sinne von Artikel 51 EWG-Vertrag und den dazu ergangenen Durchführungsvorschriften zugerechnet werden, selbst wenn sie für andere Gruppen von Begünstigten anders einzuordnen sein sollten.

16 Insbesondere könnten von einem Mitgliedstaat erlassene Rechtsvorschriften der im Ausgangsverfahren strittigen Art für Personen, für die als Arbeitnehmer oder Selbständige ausschließlich die Rechtsvorschriften anderer Mitgliedstaaten gegolten haben, nicht dem Bereich der sozialen Sicherheit im Sinne von Artikel 51 EWG-Vertrag und der Verordnung Nr. 1408/71 zugerechnet werden.

17 Wenn nämlich solche Rechtsvorschriften für diese Personen dem Bereich der sozialen Sicherheit im Sinne von Artikel 51 EWG-Vertrag und der Verordnung Nr. 1408/71 zugerechnet würden, könnte die Ausgewogenheit des mit den nationalen Rechtsvorschriften geschaffenen Systems, die Ausdruck der Fürsorge der Mitgliedstaaten für die in ihrem Hoheitsgebiet wohnenden Behinderten sind, schwer beeinträchtigt werden.

18 Die Verordnung Nr. 1408/71 hat jedoch kein gemeinsames System der sozialen Sicherheit geschaffen, sondern enthält Regeln zur Koordinierung der verschiedenen nationalen Systeme der sozialen Sicherheit, um die Freizuegigkeit der Arbeitnehmer zu sichern. Die in dieser Verordnung enthaltenen Bestimmungen müssen demnach zwar so ausgelegt werden, daß die Erreichung dieses Ziels sichergestellt ist; sie dürfen jedoch keine Auslegung erfahren, die das von den nationalen Rechtsvorschriften der im Ausgangsverfahren strittigen Art geschaffene System grundlegend verändern würde.

19 Auf die erste Vorlagefrage ist demnach zu antworten, daß für Personen, für die als Arbeitnehmer oder Selbständige die

Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats gelten oder gegolten haben, eine in den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats vorgesehene Beihilfe, die aufgrund objektiver Kriterien Personen gewährt wird, die durch ein körperliches Gebrechen in ihrer Fortbewegungsfähigkeit beeinträchtigt sind, und auf deren Gewährung die Betroffenen einen Rechtsanspruch haben, einer Leistung bei Invalidität im Sinne von Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe b der Verordnung Nr. 1408/71 gleichzustellen ist.

Zur zweiten Frage

20 Artikel 10 Absatz 1 Unterabsatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 bestimmt:

"Die Geldleistungen bei Invalidität,... auf die nach den Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten Anspruch erworben worden ist, dürfen, sofern in dieser Verordnung nichts anderes bestimmt ist, nicht deshalb gekürzt, geändert, zum Ruhen gebracht, entzogen oder beschlagnahmt werden, weil der Berechtigte im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats als des Staates wohnt, in dessen Gebiet der zur Zahlung verpflichtete Träger seinen Sitz hat."

21 Die Verordnung Nr. 1408/71 enthält keine Bestimmung, aufgrund deren Geldleistungen bei Invalidität entzogen werden dürften, weil der Berechtigte im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats als des Staates wohnt, in dessen Gebiet der zur Zahlung verpflichtete Träger seinen Sitz hat.

22 Das Vereinigte Königreich hat geltend gemacht, daß die Wohnsitzvoraussetzungen, von denen die nationalen Rechtsvorschriften die Zahlung der fraglichen Beihilfe abhängig machten, Voraussetzungen für die Erlangung des Anspruchs auf diese Beihilfe seien, die für

jeden Tag erfuellt sein müssten, für den die Beihilfe gefordert werde. Die mit Artikel 10 Absatz 1 Unterabsatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 erfolgte Aufhebung der Wohnortklauseln gelte nicht für Wohnortvoraussetzungen, die als Voraussetzungen für den Erwerb eines Leistungsanspruchs ausgestaltet seien.

23 Hierzu genügt der Hinweis, daß - wie der Gerichtshof im Urteil vom 24. Februar 1987 (Giletti, a. a. O.) entschieden hat - Artikel 10 der Verordnung Nr. 1408/71 es ausschließt, daß die Entstehung oder die Aufrechterhaltung des Anspruchs auf die in dieser Bestimmung genannten Leistungen allein deshalb verneint wird, weil der Betroffene nicht im Gebiet des Mitgliedstaats wohnt, in dem der zur Zahlung verpflichtete Träger seinen Sitz hat.

24 Auf die zweite Vorlagefrage ist daher wie folgt zu antworten: Stellt eine Beihilfe für Behinderte eine Leistung bei Invalidität im Sinne von Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe b der Verordnung Nr. 1408/71 dar, so schließt es Artikel 10 dieser Verordnung aus, daß diese Leistung allein deshalb entzogen wird, weil der Berechtigte im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats als des Staates wohnt, in dessen Gebiet der zur Zahlung verpflichtete Träger seinen Sitz hat.

Kostenentscheidung:

Kosten

25 Die Auslagen des Vereinigten Königreichs und der Regierung des Königreichs Belgien sowie der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die Erklärungen vor dem Gerichtshof abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem vor dem innerstaatlichen Gericht anhängigen Rechtsstreit. Die Kostenentscheidung obliegt ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)

auf die ihm vom Social Security Commissioner mit Entscheidung vom 23. Oktober 1989 vorgelegten Fragen für Recht erkannt:

1) Für Personen, für die als Arbeitnehmer oder Selbständige die Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats gelten oder gegolten haben, ist eine in den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats vorgesehene Beihilfe, die aufgrund objektiver Kriterien Personen gewährt wird, die durch ein körperliches Gebrechen in ihrer Fortbewegungsfähigkeit beeinträchtigt sind, und auf deren Gewährung die Betroffenen einen Rechtsanspruch haben, einer Leistung bei Invalidität im Sinne von Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe b der Verordnung Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in der durch die Verordnung (EWG) Nr. 2001/83 des Rates vom 2. Juni 1983 kodifizierten Fassung gleichzustellen.

2) Stellt eine Beihilfe für Behinderte eine Leistung bei Invalidität im Sinne von Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe b der Verordnung Nr. 1408/71 dar, so schließt es Artikel 10 dieser Verordnung aus, daß diese Leistung allein deshalb entzogen wird, weil der Berechtigte im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats als des Staates wohnt, in dessen Gebiet der zur Zahlung verpflichtete Träger seinen Sitz hat.

Ende der Entscheidung

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