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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 31.03.1992
Aktenzeichen: C-362/90
Rechtsgebiete: EWG-Vertrag, Richtlinie 77/62 vom 21.12.1976, Verfahrensordnung


Vorschriften:

EWG-Vertrag Art. 169
Richtlinie 77/62 vom 21.12.1976 Art. 23
Verfahrensordnung Art. 42 § 2
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Nach dem Wortlaut des Artikels 169 Absatz 2 EWG-Vertrag kann eine Klage auf Feststellung einer Vertragsverletzung beim Gerichtshof nur erhoben werden, wenn der betreffende Mitgliedstaat der mit Gründen versehenen Stellungnahme nicht innerhalb der von der Kommission gesetzten Frist nachgekommen ist. Somit ist eine Klage auf Feststellung einer Vertragsverletzung unzulässig, wenn der gerügte Verstoß, der seine Wirkungen entfaltet hatte, ohne daß die Kommission alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel eingesetzt hätte, um dies zu verhindern, bei Ablauf der in der mit Gründen versehenen Stellungnahme gesetzten Frist nicht mehr bestand.


URTEIL DES GERICHTSHOFES VOM 31. MAERZ 1992. - KOMMISSION DER EUROPAEISCHEN GEMEINSCHAFTEN GEGEN ITALIENISCHE REPUBLIK. - VERTRAGSVERLETZUNG EINES MITGLIEDSTAATS - OEFFENTLICHE LIEFERAUFTRAEGE - ZULAESSIGKEIT. - RECHTSSACHE C-362/90.

Entscheidungsgründe:

1 Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften hat mit Klageschrift, die am 11. Dezember 1990 bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, gemäß Artikel 169 EWG-Vertrag Klage erhoben auf Feststellung, daß die Italienische Republik dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus der Richtlinie 77/62/EWG des Rates vom 21. Dezember 1976 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Lieferaufträge (ABl. 1977, L 13, S. 1) verstossen hat, daß die Unità Sanitaria locale XI - Genua 2 (im folgenden: USL) verlangt hat, daß 50 % des Mindestrechnungswerts der Lieferungen für die letzten drei Jahre, der Voraussetzung für die Zulassung zu einer öffentlichen Lieferausschreibung ist, Lieferungen an öffentliche Auftraggeber betreffen.

2 Die USL veröffentlichte in der Gazzetta ufficiale della Repubblica italiana, Teil II Nr. 238 vom 10. Oktober 1988 eine öffentliche Ausschreibung für die Lieferung mehrerer Erzeugnisse, darunter frisches Rindfleisch für einen Betrag von 5 800 000 000 LIT. Die Zulassung zum Vergabeverfahren war nach dieser Bekanntmachung davon abhängig, daß die Teilnehmer während der letzten drei Jahre (1985, 1986, 1987) gleiche Erzeugnisse für einen Betrag von mindestens dem Sechsfachen des Wertes jeder Lieferung, an der die sich beteiligen wollten, geliefert hatten, wobei 50 % dieses Betrags Lieferungen an öffentliche Auftraggeber betreffen mussten.

3 Die Kommission war der Meinung, daß diese Voraussetzung, soweit mit ihr verlangt wurde, daß 50 % des Wertes der Lieferungen der fraglichen Produkte auf Lieferungen an öffentliche Auftraggeber entfallen, gegen Artikel 23 der Richtlinie 77/62 verstosse, der die Beweismittel, die die öffentlichen Auftraggeber zum Nachweis der technischen Leistungsfähigkeit der Unternehmer verlangen dürften, abschließend aufzähle. Gemäß Artikel 14 Buchstabe d der Richtlinie hätte die Voraussetzung also nicht in die Ausschreibung der USL aufgenommen werden dürfen.

4 In einem Schreiben vom 10. Februar 1989 forderte die Kommission gemäß Artikel 169 EWG-Vertrag die italienische Regierung auf, sich binnen 15 Tagen zu der ihr vorgeworfenen Vertragsverletzung zu äussern. Da die Erklärungen, die die italienische Regierung in einem Schreiben vom 30. Juni 1989 gab, der Kommission nicht befriedigend erschienen, forderte diese die Italienische Republik in einer mit Gründen versehenen Stellungnahme vom 27. März 1990 auf, die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um der Stellungnahme binnen 15 Tagen nach ihrer Zustellung nachzukommen.

5 Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts, des Verfahrensablaufs und des Parteivorbringens wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt wird im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.

6 In der Klagebeantwortung hat die italienische Regierung geltend gemacht, die Klage sei gegenstandslos geworden, weil alle Wirkungen des Liefervertrags, zu dem es aufgrund der Ausschreibung für das Jahr 1989 gekommen sei, am 31. Dezember 1989 erschöpft gewesen seien und weil die im Amtsblatt S 213 und 216 veröffentlichten Ausschreibungen für die Jahre 1990 und 1991 die streitige Voraussetzung nicht enthielten. Sie hat demgemäß die Kommission aufgefordert, ihre Klage zurückzunehmen, und für den Fall, daß dies nicht geschehe, beantragt, die Klage abzuweisen. In der Gegenerwiderung hat sie hinzugefügt, die gerügte Vertragsverletzung sei vor Ablauf der Frist von 15 Tagen, die die Kommission in ihrer mit Gründen versehenen Stellungnahme vom 27. März 1990 gesetzt habe, abgestellt worden, und sie hat, weil die Kommission eine Klagerücknahme verweigerte, beantragt, die Klage als unzulässig abzuweisen.

7 In der Erwiderung hat die Kommission den Standpunkt vertreten, ihre Klage sei deshalb nicht gegenstandslos geworden, weil angesichts der Meinung, die die italienische Regierung zur Begründetheit der Klage geäussert hat, keineswegs gewährleistet sei, daß die streitige Voraussetzung in Zukunft nicht in eine andere Ausschreibung aufgenommen werde. In der mündlichen Verhandlung hat die Kommission noch darauf hingewiesen, daß sie am 17. August 1989 eine erste mit Gründen versehene Stellungnahme abgegeben hatte und daß es zu der mit Gründen versehenen Stellungnahme vom 27. März 1990 nur deshalb gekommen sei, weil auf die Antwort der italienischen Regierung auf das ihr am 6. Juli 1989 zugegangene Aufforderungsschreiben habe eingegangen werden sollen.

8 Vorab ist festzustellen, daß dem Gerichtshof die Prüfung der Zulässigkeit der Klage nicht deshalb verwehrt ist, weil die italienische Regierung erst in der Gegenerwiderung förmlich beantragt hat, die Klage als unzulässig abzuweisen. Die dazu von der italienischen Regierung vorgebrachten Argumente finden sich in der Tat schon in der Klagebeantwortung, in der die Klageabweisung förmlich beantragt worden ist. Die Kommission hatte also die Möglichkeit, auf dieses Vorbringen in der Erwiderung einzugehen. Im übrigen kann der Gerichtshof in jedem Fall von Amts wegen prüfen, ob die gemäß Artikel 169 EWG-Vertrag für die Erhebung einer Klage auf Feststellung einer Vertragsverletzung geltenden Voraussetzungen erfuellt sind.

9 Hierzu ist erstens darauf hinzuweisen, daß nach dem Wortlaut des Artikels 169 Absatz 2 EWG-Vertrag eine Klage auf Feststellung einer Vertragsverletzung nur erhoben werden kann, wenn der betreffende Mitgliedstaat der mit Gründen versehenen Stellungnahme der Kommission nicht in der darin gesetzten Frist nachgekommen ist.

10 Zweitens ist hervorzuheben, daß nach ständiger Rechtsprechung Zweck einer gemäß Artikel 169 erhobenen Klage ist, feststellen zu lassen, daß der betreffende Staat gegen seine vertraglichen Verpflichtungen verstossen und daß er diesen Verstoß nicht innerhalb der in der mit Gründen versehenen Stellungnahme der Kommission gesetzten Frist abgestellt hat (Urteil vom 13. Dezember 1990 in der Rechtssache C-347/88, Randnr. 40, Kommission/Griechenland, Slg. 1990, I-4747). Wie der Gerichtshof auch ständig erklärt hat, ist das Vorliegen einer Vertragsverletzung anhand der Situation zu beurteilen, in der sich der Mitgliedstaat bei Ablauf der Frist, die in der mit Gründen versehenen Stellungnahme festgesetzt wurde, befand (Randnr. 13 des Urteils vom 27. November 1990 in der Rechtssache C-200/88, Kommission/Griechenland, Slg. 1990, I-4299).

11 Im vorliegenden Fall ist aber zum einen unstreitig, daß alle Wirkungen der fraglichen Ausschreibung am 31. Dezember 1989 erschöpft waren, also schon vor Erlaß der mit Gründen versehenen Stellungnahme vom 27. März 1990. Zum anderen fand sich die streitige Voraussetzung nicht mehr in den Ausschreibungen für die Jahre 1990 und 1991, die am 4. November 1989, also vor Erlaß der mit Gründen versehenen Stellungnahme, bzw. am 3. November 1990, also vor Erhebung der vorliegenden Klage, veröffentlicht worden sind.

12 Ausserdem ist festzustellen, daß die Kommission nicht rechtzeitig gehandelt hat, um - mit Hilfe der Verfahren, die ihr zur Verfügung stehen - zu verhindern, daß der gerügte Verstoß Wirkungen entfaltet, und daß sie sich nicht einmal darauf berufen hat, daß das in Artikel 169 EWG-Vertrag vorgesehene Vorverfahren nicht habe abgeschlossen werden können, bevor der Verstoß abgestellt wurde. Die in der mündlichen Verhandlung vorgebrachte Tatsache, daß eine erste mit Gründen versehene Stellungnahme schon am 17. August 1989 erlassen worden ist, ist in diesem Zusammenhang bedeutungslos, weil dies im Verlaufe des Verfahrens nicht geltend gemacht worden ist und weil sich die Klage nicht darauf stützt. Im übrigen handelt es sich bei diesem Umstand nicht im Sinne des Artikels 42 § 2 der Verfahrensordnung um einen rechtlichen oder tatsächlichen Grund, der erst während des schriftlichen Verfahrens zutage getreten ist, so daß darauf gestütztes Vorbringen als verspätet angesehen und folglich als unzulässig zurückgewiesen werden muß.

13 Aus alledem ergibt sich, daß bei Ablauf der in der mit Gründen versehenen Stellungnahme der Kommission vom 27. März 1990 gesetzten Frist der gerügte Verstoß nicht mehr bestand. Die Klage der Kommission ist daher als unzulässig abzuweisen.

Kostenentscheidung:

Kosten

14 Gemäß Artikel 69 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Kommission unterlegen ist, hat sie die Kosten des Verfahrens zu tragen.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

für Recht erkannt und entschieden:

1) Die Klage wird als unzulässig abgewiesen.

2) Die Kommission trägt die Kosten des Verfahrens.

Ende der Entscheidung

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