Judicialis Rechtsprechung

Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:

Zurück

Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 19.09.1995
Aktenzeichen: C-364/93
Rechtsgebiete: EWG-Vertrag


Vorschriften:

EWG-Vertrag Art. 177
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Die in Artikel 5 Nr. 3 des Übereinkommens vom 27. September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen enthaltene Wendung "Ort, an dem das schädigende Ereignis eingetreten ist", ist dahin auszulegen, daß sie nicht den Ort bezeichnet, an dem der Geschädigte einen Vermögensschaden in der Folge eines in einem anderen Vertragsstaat entstandenen und dort von ihm erlittenen Erstschadens erlitten zu haben behauptet. Zwar ist anerkannt, daß diese Wendung sowohl den Ort, an dem der Schaden entstanden ist, als auch den Ort des ursächlichen Geschehens bezeichnen kann; sie kann jedoch nicht so weit ausgelegt werden, daß sie jeden Ort erfasst, an dem die schädlichen Folgen eines Umstands spürbar werden können, der bereits einen Schaden verursacht hat, der tatsächlich an einem anderen Ort entstanden ist.


URTEIL DES GERICHTSHOFES VOM 19. SEPTEMBER 1995. - ANTONIO MARINARI GEGEN LLOYDS BANK PLC UND ZUBAIDI TRADING COMPANY. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: CORTE SUPREMA DI CASSAZIONE - ITALIEN. - BRUESSELER UEBEREINKOMMEN - ARTIKEL 5 NR. 3 - "ORT, AN DEM DAS SCHAEDIGENDE EREIGNIS EINGETRETEN IST". - RECHTSSACHE C-364/93.

Entscheidungsgründe:

1 Die Corte suprema di cassazione hat mit Beschluß vom 21. Januar 1993, beim Gerichtshof eingegangen am 26. Juli 1993, gemäß dem Protokoll vom 3. Juni 1971 betreffend die Auslegung des Übereinkommens vom 27. September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen durch den Gerichtshof (ABl. 1972, L 299, S. 32) in der Fassung des Übereinkommens vom 9. Oktober 1978 über den Beitritt des Königreichs Dänemark, Irlands und des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland (ABl. L 304, S. 1 und ° geänderter Text ° S. 77) sowie des Übereinkommens vom 25. Oktober 1982 über den Beitritt der Republik Griechenland (ABl. L 388, S. 1, im folgenden: Übereinkommen) eine Frage nach der Auslegung von Artikel 5 Nr. 3 des Übereinkommens zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Frage stellt sich in einem Rechtsstreit zwischen Antonio Marinari, der in Italien wohnt (im folgenden: Kläger), und der Lloyds Bank, deren Geschäftssitz sich in London befindet (im folgenden: Beklagte).

3 Im April 1987 hinterlegte der Kläger bei der Filiale Manchester der Beklagten ein Paket Eigenwechsel ("promissory notes") im Gegenwert von 752 500 000 USD, die von der Provinz Negros Oriental der Republik der Philippinen zugunsten der Zubaidi Trading Company Beirut (im folgenden: Streithelferin) ausgestellt waren. Die Angestellten der Beklagten, die den Umschlag geöffnet hatten, weigerten sich, die "promissory notes" zurückzugeben, und informierten die Polizei über diese Wechsel mit der Erklärung, sie seien zweifelhafter Herkunft. Dies führte zur Verhaftung des Klägers und zur Beschlagnahme der "promissory notes".

4 Nach seinem Freispruch durch die englischen Gerichte verklagte der Kläger die Beklagte vor dem Tribunale Pisa auf Ersatz der durch das Verhalten ihrer Angestellten verursachten Schäden. Nach den nationalen Verfahrensakten ist der Antrag des Klägers zum einen auf Zahlung des Gegenwerts der Eigenwechsel und zum andern auf Ersatz des Schadens gerichtet, der ihm durch die Haft, die Auflösung mehrerer Verträge und die Schädigung seines Rufes entstanden sei. Nachdem die Beklagte eingewendet hatte, daß das italienische Gericht unzuständig sei, weil der Schaden, der die örtliche Zuständigkeit begründe, in England eingetreten sei, beantragte der Kläger, unterstützt durch die Streithelferin, bei der Corte suprema di cassazione, über diese Zuständigkeitsfrage vorab zu entscheiden.

5 Die Corte suprema di cassazione wirft in ihrem Vorlagebeschluß die Frage nach der Zuständigkeit der italienischen Gerichte gemäß Artikel 5 Nr. 3 des Übereinkommens in der Auslegung durch den Gerichtshof auf.

6 Sie führt aus, der Gerichtshof habe im Urteil vom 30. November 1976 in der Rechtssache 21/76 (Bier, Slg. 1976, 1735) entschieden, daß die Wendung "Ort, an dem das schädigende Ereignis eingetreten ist" sowohl den Ort, an dem der Schaden entstanden sei, als auch den Ort des ursächlichen Geschehens meine, und der Kläger vertrete die Auffassung, daß der Begriff "entstandener Schaden" nicht nur das physische Ergebnis bedeute, sondern auch den Schaden im rechtlichen Sinn wie die Verringerung des Vermögens einer Person.

7 Sie stellt ausserdem fest, daß der Gerichtshof im Urteil vom 11. Januar 1990 in der Rechtssache C-220/88 (Dumez France und Tracoba, Slg. 1990, I-49) die Berücksichtigung mittelbarer finanzieller Schäden bei der Bestimmung der Zuständigkeit nach Artikel 5 Nr. 3 des Übereinkommens abgelehnt habe; es sei fraglich, ob dies auch dann zu gelten habe, wenn die schädlichen Folgen, auf die sich der Kläger berufe, unmittelbarer und nicht mittelbarer Natur seien.

8 Unter diesen Umständen hat sie beschlossen, das Verfahren auszusetzen und folgende Vorabentscheidungsfrage zu stellen:

Ist bei der Anwendung der Zuständigkeitsregel des Artikels 5 Nr. 3 des Brüsseler Übereinkommens vom 27. September 1968, die der Gerichtshof im Urteil vom 30. November 1976 in der Rechtssache 21/76 verdeutlicht hat, unter "Ort, an dem der Schaden entstanden ist", nur der Ort zu verstehen, an dem ein Personen oder Sachen zugefügter physischer Schaden eingetreten ist, oder auch der Ort, an dem die vom Kläger erlittenen Vermögensschäden eingetreten sind?

9 Abweichend von dem in Artikel 2 Absatz 1 des Übereinkommens verankerten allgemeinen Grundsatz der Zuständigkeit der Gerichte des Staates, in dem der Beklagte seinen Wohnsitz hat, bestimmt Artikel 5 Nr. 3 des Übereinkommens:

"Eine Person, die ihren Wohnsitz in dem Hoheitsgebiet eines Vertragsstaats hat, kann in einem anderen Vertragsstaat verklagt werden:

...

3) wenn eine unerlaubte Handlung oder eine Handlung, die einer unerlaubten Handlung gleichgestellt ist, oder wenn Ansprüche aus einer solchen Handlung den Gegenstand des Verfahrens bilden, vor dem Gericht des Ortes, an dem das schädigende Ereignis eingetreten ist;

..."

10 Wie der Gerichtshof mehrfach (Urteile Bier, a. a. O., Randnr. 11, und Dumez France und Tracoba, a. a. O., Randnr. 17, sowie Urteil vom 7. März 1995 in der Rechtssache C-68/93, Shevill u. a., Randnr. 19, Slg. 1995, I-415) ausgeführt hat, beruht diese besondere Zuständigkeit, die nach Wahl des Klägers zur Anwendung kommt, darauf, daß zwischen der Streitigkeit und anderen Gerichten als denen des Staates, in dem der Beklagte seinen Wohnsitz hat, eine besonders enge Beziehung besteht, die aus Gründen einer geordneten Rechtspflege und einer sachgerechten Gestaltung des Prozesses eine Zuständigkeit dieser Gerichte rechtfertigt.

11 Der Gerichtshof hat in den Urteilen Bier (Randnrn. 24 und 25) und Shevill u. a. (Randnr. 20) für Recht erkannt, daß dann, wenn der Ort, an dem das für die Begründung einer Schadensersatzpflicht wegen unerlaubter Handlung in Betracht kommende Ereignis stattgefunden hat, nicht auch der Ort ist, an dem aus diesem Ereignis ein Schaden entstanden ist, die Wendung "Ort, an dem das schädigende Ereignis eingetreten ist" in Artikel 5 Nr. 3 des Übereinkommens so zu verstehen ist, daß sie sowohl den Ort, an dem der Schaden entstanden ist, als auch den Ort des ursächlichen Geschehens meint. Der Beklagte kann daher nach Wahl des Klägers vor dem Gericht des einen oder des anderen dieser beiden Orte verklagt werden.

12 In diesen beiden Urteilen hat der Gerichtshof ausgeführt, daß sowohl der Ort des ursächlichen Geschehens als auch der Ort der Verwirklichung des Schadenserfolges für die gerichtliche Zuständigkeit eine kennzeichnende Verknüpfung begründen kann. Er hat hinzugefügt, daß die Wahl allein des Ortes des ursächlichen Geschehens in einer beträchtlichen Anzahl von Fällen dazu führen würde, daß die in Artikel 2 und in Artikel 5 Nr. 3 des Übereinkommens vorgesehenen Gerichtsstände zusammenfielen und daß die zuletzt genannte Bestimmung damit insoweit ihre praktische Wirksamkeit verlöre.

13 Diese dem Kläger eröffnete Wahlmöglichkeit darf jedoch nicht über die sie rechtfertigenden besonderen Umstände hinaus erstreckt werden, soll nicht der in Artikel 2 Absatz 1 des Übereinkommens aufgestellte allgemeine Grundsatz der Zuständigkeit der Gerichte des Vertragsstaats, in dessen Hoheitsgebiet der Beklagte seinen Wohnsitz hat, ausgehöhlt und im Ergebnis über die ausdrücklich vorgesehenen Fälle hinaus die Zuständigkeit der Gerichte am Wohnsitz des Klägers anerkannt werden, gegen die sich das Übereinkommen ausgesprochen hat, indem es in Artikel 3 Absatz 2 die Anwendung innerstaatlicher Vorschriften, die derartige Gerichtsstände vorsehen, gegenüber Beklagten, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Vertragsstaats haben, ausgeschlossen hat.

14 Zwar ist somit anerkannt, daß die Wendung "Ort, an dem das schädigende Ereignis eingetreten ist" im Sinne des Artikels 5 Nr. 3 des Übereinkommens sowohl den Ort, an dem der Schaden entstanden ist, als auch den Ort des ursächlichen Geschehens bezeichnen kann; sie kann jedoch nicht so weit ausgelegt werden, daß sie jeden Ort erfasst, an dem die schädlichen Folgen eines Umstands spürbar werden können, der bereits einen Schaden verursacht hat, der tatsächlich an einem anderen Ort entstanden ist.

15 Folglich kann diese Wendung nicht so ausgelegt werden, daß sie den Ort einschließt, an dem der Geschädigte ° wie im vorliegenden Fall ° einen Vermögensschaden in der Folge eines in einem anderen Vertragsstaat entstandenen und dort von ihm erlittenen Erstschadens erlitten zu haben behauptet.

16 Die deutsche Regierung vertritt dagegen die Auffassung, daß der Gerichtshof bei der Auslegung des Artikels 5 Nr. 3 des Übereinkommens das anwendbare nationale Recht der ausservertraglichen Haftung berücksichtigen müsse. So bezeichne, wenn nach diesem Recht Voraussetzung für den Schadensersatz die Verletzung konkreter Rechtsgüter sei (namentlich § 823 Absatz 1 BGB), die Wendung "Ort, an dem das schädigende Ereignis eingetreten ist" sowohl den Ort der Rechtsgutsverletzung als auch den Ort des ursächlichen Geschehens. Gewähre das nationale Recht dagegen Schadensersatz unabhängig von der konkreten Rechtsgutsverletzung (so namentlich Artikel 1382 des französischen Code civil und Artikel 2043 des italienischen Codice civile), so könne der Geschädigte wählen zwischen dem Ort des ursächlichen Geschehens und dem Ort, an dem der ihm entstandene Vermögensschaden eingetreten sei.

17 Diese Auslegung führe nicht zu einer Häufung von Gerichtsständen und laufe nicht systematisch darauf hinaus, daß der Gerichtsstand des Ortes des Vermögensschadens mit dem Gerichtsstand des Wohnorts des Klägers zusammenfalle. Auch räume sie dem Geschädigten nicht die Möglichkeit ein, durch die Verbringung seines Vermögens den zuständigen Gerichtsort selbst festzulegen, denn maßgeblich sei die Belegenheit des Vermögens zum Zeitpunkt der Entstehung der Schadensersatzpflicht. Schließlich habe diese Auslegung den Vorteil, daß sie nicht bestimmte nationale Rechte gegenüber anderen privilegiere.

18 Es ist jedoch darauf hinzuweisen, daß das Übereinkommen die Regeln über die örtliche Zuständigkeit nicht an die nationalen Vorschriften über die Voraussetzungen der ausservertraglichen zivilrechtlichen Haftung knüpfen. Diese Voraussetzungen finden nämlich nicht notwendig einen Niederschlag in den Lösungen, die die Mitgliedstaaten hinsichtlich der örtlichen Zuständigkeit ihrer Gerichte gewählt haben, der andere Erwägungen zugrunde liegen.

19 Der von der deutschen Regierung vorgeschlagenen Auslegung des Artikels 5 Nr. 3 des Übereinkommens nach Maßgabe des anwendbaren Rechts der ausservertraglichen zivilrechtlichen Haftung fehlt somit die Grundlage. Sie ist ausserdem unvereinbar mit dem Ziel des Übereinkommens, sichere und voraussehbare Zuständigkeitszuweisungen festzulegen (Urteile vom 15. Januar 1985 in der Rechtssache 241/83, Rösler, Slg. 1985, 99, Randnr. 23, und vom 17. Juni 1992 in der Rechtssache C-26/91, Handte, Slg. 1992, I-3967, Randnr. 19). Die Bestimmung des zuständigen Gerichts würde dann nämlich von ungewissen Umständen wie dem Ort, an dem der Geschädigte eventuelle Folgeschäden an seinem Vermögen erlitten hat, und von dem anwendbaren System der zivilrechtlichen Haftung abhängen.

20 Zu dem Argument schließlich, maßgeblich sei die Belegenheit des Vermögens zum Zeitpunkt der Entstehung der Schadensersatzpflicht, ist zu sagen, daß die vorgeschlagene Auslegung zur Begründung der Zuständigkeit eines Gerichts führen könnte, das keinerlei Beziehung zu dem dem Rechtsstreit zugrunde liegenden Sachverhalt hat, während doch gerade eine solche Beziehung die in Artikel 5 Nr. 3 des Übereinkommens vorgesehene besondere Zuständigkeit rechtfertigt. Es wäre nämlich möglich, daß in der Folge des ursprünglichen schädigenden Ereignisses entstandene Kosten und entgangener Gewinn an einem anderen Ort festgestellt werden und daß bei einem solchen Gerichtsstand jede Sachnähe für eine wirksame Beweiserhebung fehlt.

21 Deshalb ist auf die Vorabentscheidungsfrage zu antworten, daß die in Artikel 5 Nr. 3 des Übereinkommens vom 27. September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen enthaltene Wendung "Ort, an dem das schädigende Ereignis eingetreten ist" dahin auszulegen ist, daß sie nicht den Ort bezeichnet, an dem der Geschädigte einen Vermögensschaden in der Folge eines in einem anderen Vertragsstaat entstandenen und dort von ihm erlittenen Erstsschadens erlitten zu haben behauptet.

Kostenentscheidung:

Kosten

22 Die Auslagen der Regierung des Vereinigten Königreichs, der deutschen Regierung und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die beim Gerichtshof Erklärungen eingereicht haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

auf die ihm von der italienischen Corte suprema di cassazione mit Beschluß vom 21. Januar 1993 vorgelegte Frage für Recht erkannt:

Die in Artikel 5 Nr. 3 des Übereinkommens vom 27. September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen enthaltene Wendung "Ort, an dem das schädigende Ereignis eingetreten ist" ist dahin auszulegen, daß sie nicht den Ort bezeichnet, an dem der Geschädigte einen Vermögensschaden in der Folge eines in einem anderen Vertragsstaat entstandenen und dort von ihm erlittenen Erstschadens erlitten zu haben behauptet.

Ende der Entscheidung

Zurück