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Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 11.07.1991
Aktenzeichen: C-368/89
Rechtsgebiete: EWGV, VO Nr. 727/70/EWG
Vorschriften:
EWGV Art. 177 | |
VO Nr. 727/70/EWG Art. 3 Abs. 2 | |
VO Nr. 727/70/EWG Art. 4 Abs. 5 |
1. Der Gerichtshof kann die Entscheidung über ein von einem nationalen Gericht vorgelegtes Vorabentscheidungsersuchen nur dann ablehnen, wenn offensichtlich kein Zusammenhang zwischen der von diesem Gericht erbetenen Auslegung des Gemeinschaftsrechts oder Prüfung der Gültigkeit einer Vorschrift des Gemeinschaftsrechts und der Wirklichkeit oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits besteht.
2. Die Verordnung Nr. 1114/88 zur Änderung der Verordnung Nr. 727/70 zur Errichtung einer gemeinsamen Marktorganisation für Rohtabak und die Verordnung Nr. 2268/88 zur Festsetzung der Zielpreise, der Interventionspreise und der Käufern von Tabakblättern gewährten Prämien sowie der abgeleiteten Interventionspreise für Tabakballen, der Bezugsqualitäten, der Anbaugebiete sowie der Hoechstgarantiemengen für die Ernte 1988 und zur Änderung der Verordnung Nr. 1975/87 sind ungültig, soweit sie eine Hoechstgarantiemenge für den im Jahr 1988 geernteten Tabak der Sorte Bright festsetzen und die Prämien für die Landwirte senken.
Die Rückwirkung dieser beiden Verordnungen ist zwar nicht ausdrücklich vorgesehen, ergibt sich aber für die erste Verordnung daraus, daß diese veröffentlicht wurde, nachdem die Unternehmer ihre Entscheidungen über die Produktion für das laufende Jahr getroffen hatten; für die zweite Verordnung folgt die Rückwirkung daraus, daß sie zu einem Zeitpunkt veröffentlicht wurde, als diese Entscheidungen durchgeführt waren. Diese Rückwirkung verstösst gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit und ist nicht ausnahmsweise zulässig, weil das mit diesen beiden Verordnungen verfolgte Ziel, die Tabakerzeugung einzudämmen und die Erzeugung von schwer absetzbaren Sorten einzuschränken, zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung für das betreffende Jahr nicht mehr erreicht werden konnte. Ausserdem ist das berechtigte Vertrauen der betroffenen Wirtschaftsteilnehmer nicht beachtet worden, denn die Maßnahmen waren zwar vorhersehbar, wurden jedoch zu einem Zeitpunkt getroffen, als sie für die Lenkung der Investitionen nicht mehr berücksichtigt werden konnten.
URTEIL DES GERICHTSHOFES (FUENFTE KAMMER) VOM 11. JULI 1991. - ANTONIO CRISPOLTONI GEGEN FATTORIA AUTONOMA TABACCHI DI CITTA DI CASTELLO. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: PRETURA CIRCONDARIALE DI PERUGIA - ITALIEN. - GEMEINSAME MARKTORGANISATION FUER ROHTABAK - GUELTIGKEIT DER VERORDNUNGEN (EWG) NR. 1114/88 UND NR. 2268/88. - RECHTSSACHE C-368/89.
Entscheidungsgründe:
1 Die Pretura circondariale Perugia (Italien) hat mit Beschluß vom 20. November 1989, beim Gerichtshof eingegangen am 6. Dezember 1989, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag eine Frage nach der Gültigkeit der Verordnungen (EWG) Nr. 1114/88 des Rates vom 25. April 1988 zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 727/70 zur Errichtung einer gemeinsamen Marktorganisation für Rohtabak (ABl. L 110, S. 35) und der Verordnung (EWG) Nr. 2268/88 des Rates vom 19. Juli 1988 zur Festsetzung der Zielpreise, der Interventionspreise und der Käufern von Tabakblättern gewährten Prämien sowie der abgeleiteten Interventionspreise für Tabakballen, der Bezugsqualitäten, der Anbaugebiete sowie der Hoechstgarantiemengen für die Ernte 1988 und zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1975/87 (ABl. L 199, S. 20) zur Vorabentscheidung vorgelegt.
2 Diese Frage stellt sich in einem Rechtsstreit zwischen Antonio Crispoltoni (im folgenden: Kläger), einem Tabakpflanzer in Lerchi in der Region Umbrien der Provinz Perugia, und der Fattoria Autonoma Tabacchi di Città di Castello (im folgenden: Beklagte), einer Vereinigung von Erzeugern, deren Mitglied er ist und die sich mit der ersten Bearbeitung und Aufbereitung von Tabakblättern befasst.
3 1988 lieferte der Kläger an die Beklagte eine bestimmte Menge Tabakblätter der Sorte Bright und erhielt im voraus die Prämie nach Artikel 3 Absatz 2 der Verordnung Nr. 727/70 des Rates vom 21. April 1970 über die Errichtung einer gemeinsamen Marktorganisation für Rohtabak (ABl. L 94, S. 1).
4 Wie die Kommission später in der Verordnung (EWG) Nr. 2158/89 vom 18. Juli 1989 zur Feststellung der tatsächlichen Erzeugung und zur Festsetzung der in Anwendung der Regelung der Hoechstgarantiemengen zu zahlenden Preise und Prämien für Tabak der Ernte 1988 (ABl. L 207, S. 15) feststellte, betrug die Tabakerzeugung der Sorte Bright 42 105 Tonnen, was einer Überschreitung der Hoechstgarantiemenge für das Jahr 1988, die gemäß Anhang V der Verordnung Nr. 2268/88 für die Sorte Bright auf 38 000 Tonnen festgesetzt worden war, um 10,8 % entsprach. Die Azienda di stato per gli interventi sul mercato agricolo - Settore tabacco (Interventionsstelle für den betroffenen Sektor; im folgenden: AIMA) forderte von der Beklagten gemäß Artikel 4 Absatz 5 die Erstattung von 5 % der Prämie, die für die erwähnte Sorte gewährt worden war; dieser Absatz war der Verordnung Nr. 727/70 durch Artikel 1 der Verordnung Nr. 1114/88 angefügt worden.
5 Nach Artikel 4 Absatz 5 der geänderten Verordnung Nr. 727/70 sind die Interventionspreise sowie die entsprechenden Prämien für die verschiedenen Tabaksorten für jedes Prozent, um das die Hoechstgarantiemenge für eine Sorte oder Sortengruppe von Erzeugnissen überschritten wird, um 1 % zu kürzen, wobei die Kürzung im Fall der Ernte 1988 5 % der Höhe dieser Preise und Prämien nicht überschreiten darf.
6 Die Beklagte gab die Forderung der AIMA auf teilweise Erstattung der gezahlten Prämien an ihre Mitglieder weiter. Daraufhin verklagte der Kläger die Beklagte vor dem Pretore von Perugia auf Feststellung, daß er nicht zur Zahlung der verlangten Summe von 3 320 000 LIT verpflichtet sei, weil die Gemeinschaftsregelung, auf der die Forderung nach Erstattung beruhe, ungültig sei.
7 Der Pretore hat das Verfahren ausgesetzt, bis der Gerichtshof vorab über folgende Frage entschieden hat: "Sind die Verordnungen Nr. 1114/88 des Rates vom 25. April 1988 und Nr. 2268/88 des Rates vom 19. Juli 1988 gültig?"
8 Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts und des rechtlichen Rahmens des Ausgangsverfahrens sowie der vor dem Gerichtshof abgegebenen schriftlichen Erklärungen wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt wird im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.
Zuständigkeit des Gerichtshofes
9 Der Rat macht geltend, daß das Verfahren vor dem nationalen Gericht einige Besonderheiten aufweise, insbesondere, daß die Fattoria, bei der der Kläger des Ausgangsverfahrens selbst Mitglied sei, und nicht die AIMA verklagt worden sei. Diese Besonderheit könne Zweifel daran wecken, ob eine Entscheidung des Gerichtshofes erforderlich sei, damit das nationale Gericht sein Urteil in einem echten Rechtsstreit fällen könne.
10 Eine solche Besonderheit kann die Zuständigkeit des Gerichtshofes jedoch nicht beeinträchtigen. Nach ständiger Rechtsprechung (siehe u. a. Urteil vom 18. Oktober 1990 in den verbundenen Rechtssachen C-297/88 und C-197/89, Dzodzi, Slg. 1990, I-3763, Randnr. 34) ist es nämlich allein Sache der nationalen Gerichte, bei denen der Rechtsstreit anhängig ist und die die Verantwortung für die zu erlassende gerichtliche Entscheidung tragen, im Hinblick auf die Besonderheiten jedes Einzelfalls sowohl die Erforderlichkeit einer Vorlageentscheidung für den Erlaß ihres Urteils als auch die Erheblichkeit der von ihnen dem Gerichtshof vorgelegten Fragen zu beurteilen.
11 Der Gerichtshof kann die Entscheidung über ein von einem nationalen Gericht vorgelegtes Vorabentscheidungsersuchen nur dann ablehnen, wenn offensichtlich kein Zusammenhang zwischen der von diesem Gericht erbetenen Auslegung des Gemeinschaftsrechts oder Prüfung der Gültigkeit einer Vorschrift des Gemeinschaftsrechts und der Wirklichkeit oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits besteht (siehe insbesondere Beschluß vom 26. Februar 1990 in der Rechtssache C-286/88, Falciola, Slg. 1990, I-191, Randnr. 8). In der vorliegenden Rechtssache ist dies jedoch nicht der Fall.
Begründetheit
12 Aus dem Sachverhalt ergibt sich, daß es in der Vorlagefrage nur um die Gültigkeit der Verordnungen Nrn. 1114/88 und 2268/88 insoweit geht, als diese eine Hoechstgarantiemenge für den im Jahr 1988 geernteten Tabak der Sorte Bright vorschreiben.
13 Hier hat das nationale Gericht Zweifel an der Gültigkeit dieser beiden Verordnungen, weil sie gegen die Grundsätze des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit sowie das Verbot der Rückwirkung von Rechtsvorschriften verstossen könnten.
14 Dem Vorlagebeschluß ist zu entnehmen, daß der Tabak der Sorte Bright, der nach dem Anhang III der Verordnung Nr. 2268/88 ausschließlich in Italien erzeugt wird, im Februar in eigens hergerichteten Saatbeeten ausgesät wird und daß die Jungpflanzen bis Ende April ausgepflanzt werden. Die letztgenannte Maßnahme verursacht die grössten Ausgaben; zu diesem Zeitpunkt müssen die Landwirte über den Umfang der zu bepflanzenden Flächen entscheiden.
15 Die Verordnung Nr. 1114/88 ist am 29. April 1988 veröffentlicht worden, das heisst nachdem die Unternehmer ihre Entscheidungen über die Produktion für das laufende Jahr getroffen hatten; die Verordnung Nr. 2268/88 ist am 26. Juli 1988 zu einem Zeitpunkt veröffentlicht worden, als diese Entscheidungen durchgeführt waren.
16 Somit entfalten diese Verordnungen Rückwirkung, soweit sie im Fall der Überschreitung der Hoechstgarantiemenge für den im Jahr 1988 geernteten Tabak der Sorte Bright eine Herabsetzung der Interventionspreise sowie der Prämien vorschreiben.
17 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes (siehe u. a. Urteile vom 25. Januar 1979 in der Rechtssache 98/78, Racke, Slg. 1979, 69, Randnr. 20, und in der Rechtssache 99/78, Decker, Slg. 1979, 101, Randnr. 8) verbietet es der Grundsatz der Rechtssicherheit zwar im allgemeinen, den Beginn der Geltungsdauer eines Rechtsakts der Gemeinschaft auf einen Zeitpunkt vor dessen Veröffentlichung zu legen; dies kann aber ausnahmsweise dann anders sein, wenn das angestrebte Ziel es verlangt und das berechtigte Vertrauen der Betroffenen gebührend beachtet ist. Diese Rechtsprechung ist auch anwendbar, wenn die Rückwirkung in dem Rechtsakt selbst nicht ausdrücklich vorgesehen worden ist, sich aber aus seinem Inhalt ergibt.
18 Nach der ersten Begründungserwägung der Verordnung Nr. 1114/88 verfolgt die Einführung der Hoechstgarantiemenge das Ziel, jede Erhöhung der Tabakerzeugung der Gemeinschaft einzudämmen und gleichzeitig die Erzeugung von Sorten einzuschränken, bei denen Absatzschwierigkeiten bestehen. Dieses Ziel konnte aber in bezug auf die Ernte der Tabaksorte Bright des Jahres 1988 durch die Ende April und Ende Juli 1988 veröffentlichten Verordnungen nicht erreicht werden. Wie dem Vorlagebeschluß zu entnehmen ist, waren nämlich die Entscheidungen über den Umfang der zu bepflanzenden Flächen zu diesem Zeitpunkt bereits getroffen worden, hatten die Pflanzungen schon stattgefunden, und, als die Verordnung Nr. 2268/88 veröffentlicht wurde, hatte die Ernte schon längst begonnen.
19 Im übrigen hat der Rat erkannt, daß eine Beschränkung der Erzeugung durch unter solchen Umständen getroffene Maßnahmen unmöglich war. Er hat nämlich mit der Verordnung (EWG) Nr. 1251/89 vom 3. Mai 1989 zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 727/70 über die Errichtung einer gemeinsamen Marktorganisation für Rohtabak (ABl. L 129, S. 16) vorgesehen, daß die Hoechstgarantiemengen jährlich für die Ernte des folgenden Jahres bestimmt werden, damit - so die erste Begründungserwägung dieser Verordnung - die Pflanzung geplant werden kann.
20 Weitere Gründe enthalten die Begründungen der Verordnungen Nrn. 1114/88 und 2268/88 nicht. Daher ist festzustellen, daß die erste Voraussetzung für die Zulässigkeit der Rückwirkung dieser Verordnungen, daß nämlich das angestrebte Ziel es verlangt, nicht erfuellt ist, und daß folglich diese Verordnungen ungültig sind, soweit sie eine Hoechstgarantiemenge für den 1988 geernteten Tabak der Sorte Bright vorsehen.
21 Ausserdem hat die streitige Regelung das berechtigte Vertrauen der betroffenen Wirtschaftsteilnehmer verletzt. Diese mussten zwar die Maßnahmen als vorhersehbar betrachten, die darauf abzielten, jede Erhöhung der Tabakerzeugung der Gemeinschaft einzudämmen und die Erzeugung von Sorten einzuschränken, bei denen Absatzschwierigkeiten bestehen. Sie durften jedoch erwarten, daß ihnen etwaige Maßnahmen, die sich auf ihre Investitionen auswirken würden, rechtzeitig mitgeteilt würden. Dies ist jedoch nicht der Fall gewesen.
22 Auf die Vorabentscheidungsfrage ist somit zu antworten, daß die Verordnungen Nr. 1114/88 und 2268/88 des Rates ungültig sind, soweit sie eine Hoechstgarantiemenge für den im Jahr 1988 geernteten Tabak der Sorte Bright festsetzen.
Kostenentscheidung:
Kosten
23 Die Auslagen des Rates und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die Erklärungen vor dem Gerichtshof abgegeben haben, und der italienischen Regierung, die in der mündlichen Verhandlung aufgetreten ist, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit. Die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.
Tenor:
Aus diesen Gründen
hat
DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)
auf die ihm von der Pretura circondariale Perugia mit Beschluß vom 20. November 1989 vorgelegte Frage für Recht erkannt:
Die Verordnung (EWG) Nr. 1114/88 des Rates vom 25. April 1988 zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 727/70 zur Errichtung einer gemeinsamen Marktorganisation für Rohtabak und die Verordnung (EWG) Nr. 2268/88 des Rates vom 19. Juli 1988 zur Festsetzung der Zielpreise, der Interventionspreise und der Käufern von Tabakblättern gewährten Prämien sowie der abgeleiteten Interventionspreise für Tabakballen, der Bezugsqualitäten, der Anbaugebiete sowie der Hoechstgarantiemengen für die Ernte 1988 und zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1975/87 sind ungültig, soweit sie eine Hoechstgarantiemenge für den im Jahr 1988 geernteten Tabak der Sorte Bright festsetzen.
Ende der Entscheidung
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