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Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 26.06.1997
Aktenzeichen: C-368/95
Rechtsgebiete: EG-Vertrag
Vorschriften:
EG-Vertrag Art. 30 |
4 Die Anwendung nationaler Bestimmungen, die bestimmte Verkaufsmodalitäten beschränken oder verbieten, auf Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten ist nicht geeignet, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potentiell zu behindern, sofern diese Bestimmungen für alle betroffenen Wirtschaftsteilnehmer gelten, die ihre Tätigkeit im Inland ausüben, und sofern sie den Absatz der inländischen Erzeugnisse und der Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten rechtlich wie tatsächlich in der gleichen Weise berühren.
Dies ist bei einer Regelung eines Mitgliedstaats nicht der Fall, die den Verkauf von Druckwerken, die Gewinnspiele oder Preisausschreiben enthalten, in seinem Gebiet verbietet. Denn selbst wenn eine solche Regelung eine verkaufsfördernde Maßnahme betreffen sollte, so bezieht sie sich doch auf den Inhalt der Erzeugnisse selbst, denn die fraglichen Preisausschreiben sind Bestandteil des Druckwerks, in dem sie sich befinden, und können keine Verkaufsmodalität betreffen. Ferner beeinträchtigt das streitige Verbot den Zugang des fraglichen Druckwerks zum Markt des Einfuhrmitgliedstaats und behindert daher den freien Warenverkehr, da es in anderen Mitgliedstaaten niedergelassene Verlage zwingt, dessen Inhalt zu ändern. Es stellt daher grundsätzlich eine Maßnahme gleicher Wirkung im Sinne von Artikel 30 des Vertrages dar.
5 Wenn ein Mitgliedstaat sich im Hinblick auf Artikel 30 des Vertrages auf zwingende Erfordernisse wie die Aufrechterhaltung der Medienvielfalt beruft, um eine Regelung zu rechtfertigen, die geeignet ist, den freien Warenverkehr zu behindern, ist diese Rechtfertigung im übrigen im Lichte der allgemeinen Rechtsgrundsätze und insbesondere der Grundrechte auszulegen. Zu diesen Grundrechten gehört die in Artikel 10 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten verbürgte Meinungsfreiheit. Ein Verbot, Zeitschriften zu verkaufen, die die Teilnahme an Preisausschreiben ermöglichen, kann die Meinungsfreiheit beeinträchtigen. Artikel 10 der Konvention lässt jedoch Ausnahmen von dieser Freiheit zum Zweck der Aufrechterhaltung der Medienvielfalt zu, soweit sie durch Gesetz geregelt und in einer demokratischen Gesellschaft erforderlich sind.
6 Die Anwendung von Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats, nach denen in seinem Gebiet der Vertrieb einer in einem anderen Mitgliedstaat hergestellten periodischen Zeitschrift durch ein in diesem Staat niedergelassenes Unternehmen verboten ist, wenn diese Zeitschrift Preisrätsel oder Gewinnspiele enthält, die in dem zuletzt genannten Staat rechtmässig veranstaltet werden, verstösst nicht gegen Artikel 30 des Vertrages, wenn dieses Verbot in einem angemessenen Verhältnis zur Aufrechterhaltung der Medienvielfalt steht und dieser Zweck nicht durch Maßnahmen erreicht werden kann, die weniger beschränkend sind.
Das setzt insbesondere voraus, daß Zeitschriften, die im Rahmen von Gewinnspielen, Rätseln oder Preisausschreiben eine Gewinnchance eröffnen, mit den kleinen Presseunternehmen in Wettbewerb stehen, von denen angenommen wird, daß sie keine vergleichbaren Preise aussetzen können, und daß eine solche Gewinnchance zu einer Verlagerung der Nachfrage führen kann.
Ferner darf das nationale Verbot dem Inverkehrbringen von Zeitschriften nicht entgegenstehen, die zwar Preisausschreiben, Rätsel oder Gewinnspiele enthalten, jedoch Lesern im fraglichen Mitgliedstaat keine Gewinnchance eröffnen. Es ist Sache des nationalen Gerichts, aufgrund einer Untersuchung des betroffenen nationalen Pressemarktes zu entscheiden, ob diese Voraussetzungen erfuellt sind.
Urteil des Gerichtshofes vom 26. Juni 1997. - Vereinigte Familiapress Zeitungsverlags- und vertriebs GmbH gegen Heinrich Bauer Verlag. - Ersuchen um Vorabentscheidung: Handelsgericht Wien - Österreich. - Maßnahme gleicher Wirkung - Vertrieb periodischer Druckschriften - Preisausschreiben - Nationales Verbot. - Rechtssache C-368/95.
Entscheidungsgründe:
1 Das Handelsgericht Wien hat mit Beschluß vom 15. September 1995, beim Gerichtshof eingegangen am 29. November 1995, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag eine Frage nach der Auslegung des Artikels 30 EG-Vertrag zur Vorabentscheidung vorgelegt.
2 Diese Frage stellt sich in dem Rechtsstreit über die Klage der Vereinigte Familiapreß Zeitungsverlags- und vertriebs GmbH, eines österreichischen Presseverlags, gegen den Heinrich Bauer Verlag, einen Zeitungsverlag mit Sitz in Deutschland, die darauf gerichtet ist, diesen zu verhalten, in Österreich den Verkauf von Druckwerken zu unterlassen, die den Lesern unter Verstoß gegen das österreichische Gesetz über unlauteren Wettbewerb (UWG) von 1992 die Möglichkeit der Teilnahme an Gewinnspielen einräumen.
3 Der Heinrich Bauer Verlag gibt in Deutschland die Wochenzeitschrift "Laura" heraus, die er auch in Österreich vertreibt. Die Ausgabe vom 22. Februar 1995 enthielt ein Kreuzworträtsel. Die Leser, die die richtige Lösung einsandten, konnten an einer Verlosung teilnehmen, in der zwei Preise von jeweils 500 DM ausgesetzt waren. Dieselbe Ausgabe enthielt zwei weitere Rätsel, für die im einen Fall ein Preis von 1 000 DM und im anderen ein Preis von 5 000 DM ausgesetzt waren, die ebenfalls unter den Personen verlost würden, die die richtigen Antworten einsenden würden. In den folgenden Ausgaben wurden ähnliche Preisausschreiben angeboten. In jeder Ausgabe war vermerkt, daß diese Preisrätsel jede Woche veranstaltet würden.
4 Nach dem Vorlagebeschluß verstösst diese Praxis gegen das österreichische Recht. § 9a Absatz 1 Ziffer 1 UWG verbietet nämlich allgemein, Verbrauchern neben Waren oder Leistungen unentgeltliche Zugaben zu gewähren. § 9a Absatz 2 Ziffer 8 UWG, der demgegenüber Preisausschreiben und Verlosungen erlaubte, bei denen "der sich aus dem Gesamtwert der ausgespielten Preise im Verhältnis zur Zahl der ausgegebenen Teilnahmekarten (Lose) ergebende Wert der einzelnen Teilnahmemöglichkeiten 5 S und der Gesamtwert der ausgespielten Preise 300 000 S" nicht überschritten, wurde durch eine Gesetzesnovelle von 1993 für auf periodische Druckwerke unanwendbar erklärt. Seither gibt es von der Vorschrift, daß die Herausgeber periodischer Druckwerke dem Leser keine Teilnahmemöglichkeit an einer Verlosung einräumen dürfen, keine Ausnahme mehr.
5 Da das deutsche Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb keine vergleichbare Bestimmung enthält, ist das Handelsgericht Wien der Ansicht, daß das Verbot des Verkaufs periodischer Druckwerke nach dem UWG geeignet sei, den innergemeinschaftlichen Handel zu beeinträchtigen. Deshalb hat es das Verfahren unterbrochen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:
Ist Artikel 30 EWG-Vertrag dahin auszulegen, daß er der Anwendung der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats A entgegensteht, die es einem im Mitgliedstaat B ansässigen Unternehmen untersagen, die dort hergestellte periodisch erscheinende Zeitschrift auch im Mitgliedstaat A zu vertreiben, wenn darin Preisrätsel oder Gewinnspiele enthalten sind, die im Mitgliedstaat B rechtmässig veranstaltet werden?
6 Nach Artikel 30 EG-Vertrag sind mengenmässige Einfuhrbeschränkungen sowie alle Maßnahmen gleicher Wirkung zwischen den Mitgliedstaaten verboten.
7 Nach ständiger Rechtsprechung stellt jede Maßnahme, die geeignet ist, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potentiell zu behindern, eine Maßnahme mit gleicher Wirkung wie eine mengenmässige Beschränkung dar (Urteil vom 11. Juli 1974 in der Rechtssache 8/74, Dassonville, Slg. 1974, 837, Randnr. 5).
8 Auch stellen nach dem Urteil Cassis de Dijon (Urteil vom 20. Februar 1979 in der Rechtssache 120/78, Rewe-Zentral, Slg. 1979, 649) Hemmnisse für den freien Warenverkehr, die sich in Ermangelung einer Harmonisierung der Rechtsvorschriften daraus ergeben, daß Waren aus anderen Mitgliedstaaten, die dort rechtmässig hergestellt und in den Verkehr gebracht worden sind, bestimmten Vorschriften entsprechen müssen (wie etwa hinsichtlich ihrer Bezeichnung, ihrer Form, ihrer Abmessungen, ihres Gewichts, ihrer Zusammensetzung, ihrer Aufmachung, ihrer Etikettierung und ihrer Verpackung), selbst dann, wenn diese Vorschriften unterschiedslos für alle Erzeugnisse gelten, nach Artikel 30 verbotene Maßnahmen gleicher Wirkung dar, sofern sich die Anwendung dieser Vorschriften nicht durch einen Zweck rechtfertigen lässt, der im Allgemeininteresse liegt und den Erfordernissen des freien Warenverkehrs vorgeht (Urteil vom 24. November 1993 in den verbundenen Rechtssachen C-267/91 und C-268/91, Keck und Mithouard, Slg. 1993, I-6097, Randnr. 15).
9 Demgegenüber ist die Anwendung nationaler Bestimmungen, die bestimmte Verkaufsmodalitäten beschränken oder verbieten, auf Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten nicht geeignet, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten im Sinne des Urteils Dassonville unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potentiell zu behindern, sofern diese Bestimmungen für alle betroffenen Wirtschaftsteilnehmer gelten, die ihre Tätigkeit im Inland ausüben, und sofern sie den Absatz der inländischen Erzeugnisse und der Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten rechtlich wie tatsächlich in der gleichen Weise berühren (Urteil Keck und Mithouard, a. a. O., Randnr. 16).
10 Die Republik Österreich macht geltend, daß das streitige Verbot nicht unter Artikel 30 EG-Vertrag falle. Die Möglichkeit, den Lesern einer periodischen Druckschrift die Teilnahme an Preisausschreiben anzubieten, stelle eine verkaufsfördernde Maßnahme und damit eine Verkaufsmodalität im Sinne des Urteils Keck und Mithouard dar.
11 Selbst wenn die streitige nationale Regelung eine verkaufsfördernde Maßnahme betreffen sollte, so bezieht sie sich im vorliegenden Fall doch auf den Inhalt der Erzeugnisse selbst, denn die fraglichen Preisausschreiben sind Bestandteil der Zeitschrift, in der sie sich befinden. Daher betrifft die Anwendung der streitigen nationalen Regelung auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens keine Verkaufsmodalität im Sinne des Urteils Keck und Mithouard.
12 Ferner beeinträchtigt das streitige Verbot den Zugang der fraglichen Zeitschrift zum Markt des Einfuhrmitgliedstaats und behindert daher den freien Warenverkehr, da es in anderen Mitgliedstaaten niedergelassene Verlage zwingt, deren Inhalt zu ändern. Es stellt daher grundsätzlich eine Maßnahme gleicher Wirkung im Sinne von Artikel 30 EG-Vertrag dar.
13 Die Republik Österreich und die Kommission machen jedoch geltend, die streitige nationale Regelung solle der Aufrechterhaltung der Medienvielfalt dienen, die im Hinblick auf Artikel 30 EG-Vertrag ein zwingendes Erfordernis darstellen könne.
14 Nur kurze Zeit nach Inkrafttreten des Gesetzes über die Deregulierung des Wettbewerbs in Österreich im Jahre 1992, das u. a. die Veranstaltung von Gewinnspielen liberalisiert habe, habe sich im Bereich der periodischen Druckwerke ein aggressiver Wettbewerb durch Gewährung immer umfangreicherer Zugaben insbesondere in Form der Möglichkeit der Teilnahme an Preisausschreiben entwickelt.
15 Wegen der Befürchtung, die kleinen Verleger könnten diesem ruinösen Wettbewerb langfristig nicht standhalten, habe der österreichische Gesetzgeber 1993 die Anwendung des § 9a Absatz 1 Ziffer 8 UWG, der, wie bereits aus Randnummer 4 hervorgeht, in bestimmtem Umfang die Veranstaltung von Preisausschreiben und Verlosungen im Zusammenhang mit dem Absatz von Waren oder Leistungen erlaubt, auf Druckwerke ausgeschlossen.
16 In den Erläuternden Bemerkungen zur Regierungsvorlage habe die österreichische Regierung insbesondere ausgeführt, daß im Hinblick auf den relativ niedrigen Verkaufspreis periodischer Druckwerke, insbesondere von Tageszeitungen, trotz der in § 9a Absatz 2 Ziffer 8 UWG festgelegten Betragsgrenzen die Gefahr bestehe, daß der Verbraucher der eingeräumten Gewinnchance grössere Bedeutung beimesse als der Qualität des Druckwerks (Erläuternde Bemerkungen zur Regierungsvorlage, RV 365 BlgNR 18. GP).
17 Von Bedeutung sei auch die hohe Konzentration im österreichischen Printmedienbereich. Die Republik Österreich führt aus, daß zu Beginn der neunziger Jahre der Marktanteil des grössten Medienkonzerns in Österreich 54,5 % betragen habe, während er sich im Vereinigten Königreich nur auf 34,7 % und in Deutschland nur auf 23,9 % belaufen habe.
18 Die Aufrechterhaltung der Medienvielfalt kann ein zwingendes Erfordernis darstellen, das eine Beschränkung des freien Warenverkehrs rechtfertigt. Diese Vielfalt trägt nämlich zur Wahrung des Rechts der freien Meinungsäusserung bei, das durch Artikel 10 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten geschützt ist und zu den von der Gemeinschaftsrechtsordnung geschützten Grundrechten gehört (Urteile vom 25. Juli 1991 in der Rechtssache C-353/89, Kommission/Niederlande, Slg. 1991, I-4069, Randnr. 30, und vom 3. Februar 1993 in der Rechtssache C-148/91, Veronica Omreop Organisatie, Slg. 1993, I-487, Randnr. 10).
19 Allerdings sind die betreffenden nationalen Vorschriften nach ständiger Rechtsprechung (Urteile Cassis de Dijon, a. a. O., vom 13. Dezember 1990 in der Rechtssache C-238/89, Pall, Slg. 1990, I-4827, Randnr. 12, und vom 6. Juli 1995 in der Rechtssache C-470/93, Mars, Slg. 1995, I-1923, Randnr. 15) nur zulässig, wenn sie in einem angemessenen Verhältnis zum verfolgten Zweck stehen und wenn dieser Zweck nicht durch Maßnahmen erreicht werden kann, die den innergemeinschaftlichen Handelsverkehr weniger beschränken.
20 Zwar rechtfertigen die Besonderheiten der Lotterien nach dem Urteil des Gerichtshofes vom 24. März 1994 in der Rechtssache C-275/92 (Schindler, Slg. 1994, I-1039, Randnr. 61), in dem es um die Dienstleistungsfreiheit ging, ein Ermessen der staatlichen Stellen bei der Festlegung der Anforderungen, die wegen des Schutzes der Spieler und allgemeiner nach Maßgabe der soziokulturellen Besonderheiten jedes Mitgliedstaats wegen des Schutzes der Sozialordnung an Art und Weise der Veranstaltung von Lotterien, die Höhe der Einsätze sowie die Verwendung der dabei erzielten Gewinne zu stellen sind. Somit steht den Staaten nicht nur die Beurteilung der Frage zu, ob eine Beschränkung der Tätigkeiten im Lotteriewesen erforderlich ist, sondern sie dürfen diese auch verbieten, sofern diese Beschränkungen nicht diskriminierend sind.
21 Jedoch lassen sich Spiele von der Art, um die es im Ausgangsverfahren geht, nicht mit Lotterien vergleichen, deren Merkmale im Urteil Schindler untersucht worden sind.
22 Der Sachverhalt, der diesem Urteil zugrunde lag, betraf nämlich, wie der Gerichtshof ausdrücklich hervorgehoben hat, ausschließlich in grösserem Rahmen veranstaltete Lotterien, bei denen das den nationalen Stellen zugebilligte Ermessen durch die erhöhte Gefahr von Betrug und anderen Straftaten gerechtfertigt war, eine Gefahr, die sich aus der Höhe der Beträge, die durch die Lotterien eingenommen werden konnten, und der Höhe der Gewinne, die sie den Spielern bieten konnten, ergab (Randnrn. 50, 51 und 60).
23 An solchen Bestrebungen zum Schutz der Sozialordnung fehlt es hingegen im vorliegenden Fall. Zunächst werden die fraglichen Verlosungen in kleinem Rahmen veranstaltet; bei ihnen steht weniger auf dem Spiel. Dann stellen sie keine unabhängige wirtschaftliche Betätigung dar, sondern nur einen Gesichtspunkt des redaktionellen Inhalts einer Zeitschrift unter anderen. Schließlich verbietet das österreichische Recht Verlosungen nur in den Printmedien vollständig.
24 Wenn ein Mitgliedstaat sich auf zwingende Erfordernisse beruft, um eine Regelung zu rechtfertigen, die geeignet ist, den freien Warenverkehr zu behindern, ist diese Rechtfertigung im übrigen im Lichte der allgemeinen Rechtsgrundsätze und insbesondere der Grundrechte auszulegen (vgl. Urteil vom 18. Juni 1991 in der Rechtssache C-260/89, ERT, Slg. 1991, I-2925, Randnr. 43).
25 Zu diesen Grundrechten gehört die in Artikel 10 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten verbürgte Meinungsfreiheit (Urteil ERT, a. a. O., Randnr. 44).
26 Das Verbot, Zeitschriften zu verkaufen, die die Teilnahme an Preisausschreiben ermöglichen, kann die Meinungsfreiheit beeinträchtigen. Artikel 10 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten lässt jedoch Ausnahmen von dieser Freiheit zum Zweck der Aufrechterhaltung der Medienvielfalt zu, soweit sie durch Gesetz geregelt und in einer demokratischen Gesellschaft erforderlich sind (Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte vom 24. November 1993, Informationsverein Lentia u. a./Österreich, A Nr. 276).
27 Aufgrund der in den Randnummern 19 bis 26 angestellten Erwägungen ist daher zu untersuchen, ob ein nationales Verbot der im Ausgangsverfahren streitigen Art in einem angemessenen Verhältnis zur Aufrechterhaltung der Medienvielfalt steht und ob dieser Zweck nicht durch Maßnahmen erreicht werden kann, die den innergemeinschaftlichen Handelsverkehr sowie die Meinungsfreiheit weniger beschränken.
28 Zu diesem Zweck ist zum einen zu ermitteln, ob Zeitschriften, die im Rahmen von Preisausschreiben, Rätseln oder Gewinnspielen eine Gewinnchance eröffnen, mit kleinen Presseunternehmen im Wettbewerb stehen, von denen angenommen wird, daß sie keine vergleichbaren Preise aussetzen können, und die die streitige Regelung schützen will, zum anderen, ob eine solche Gewinnchance einen Kaufanreiz darstellen kann, der zu einer Verlagerung der Nachfrage führen kann.
29 Es ist Sache des nationalen Gerichts, auf der Grundlage einer Untersuchung des österreichischen Pressemarktes zu beurteilen, ob diese Voraussetzungen erfuellt sind.
30 Im Rahmen dieser Untersuchung wird es den Markt des betreffenden Erzeugnisses abzugrenzen und die Marktanteile, die die einzelnen Herausgeber oder Pressekonzerne halten, sowie deren Entwicklung zu berücksichtigen haben.
31 Zudem muß das nationale Gericht anhand sämtlicher Umstände, die die Kaufentscheidung beeinflussen können - etwa von Werbung auf der Titelseite, die auf die Gewinnchance verweist, der Wahrscheinlichkeit des Gewinns, des Wertes der Preise, der Abhängigkeit des Gewinns von der Lösung einer Aufgabe, die einen gewissen Grad von Einfallsreichtum, Geschicklichkeit oder Kenntnissen erfordert -, beurteilen, inwieweit das betreffende Erzeugnis in den Augen des Verbrauchers die Zeitschriften ersetzen kann, die keine Gewinnchance bieten.
32 Die belgische und die niederländische Regierung vertreten die Ansicht, daß der österreichische Gesetzgeber Maßnahmen hätte ergreifen können, die den freien Warenverkehr weniger beeinträchtigten als das schlichte Verbot des Vertriebs von Zeitschriften, die eine Gewinnchance eröffneten, etwa die Schwärzung oder Entfernung der Seite, die das Gewinnspiel enthalte, in der für Österreich bestimmten Ausgabe, oder den Hinweis, daß die Gewinnchance Lesern in Österreich nicht offenstehe.
33 Aus den Akten ergibt sich nicht, daß das fragliche Verbot dem Inverkehrbringen von Zeitschriften entgegenstuende, bei denen solche Maßnahmen ergriffen worden wären. Sollte das nationale Gericht feststellen, daß dies gleichwohl der Fall ist, wäre das Verbot unverhältnismässig.
34 Nach alledem ist dem nationalen Gericht zu antworten, daß die Anwendung von Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats, nach denen in seinem Gebiet der Vertrieb einer in einem anderen Mitgliedstaat hergestellten periodischen Zeitschrift durch ein in diesem Staat niedergelassenes Unternehmen verboten ist, wenn diese Zeitschrift Preisrätsel oder Gewinnspiele enthält, die in dem zuletzt genannten Staat rechtmässig veranstaltet werden, nicht gegen Artikel 30 EG-Vertrag verstösst, wenn dieses Verbot in einem angemessenen Verhältnis zur Aufrechterhaltung der Medienvielfalt steht und dieser Zweck nicht durch Maßnahmen erreicht werden kann, die weniger beschränkend sind. Das setzt insbesondere voraus, daß Zeitschriften, die im Rahmen von Gewinnspielen, Rätseln oder Preisausschreiben eine Gewinnchance eröffnen, mit den kleinen Presseunternehmen in Wettbewerb stehen, von denen angenommen wird, daß sie keine vergleichbaren Preise aussetzen können, und daß eine solche Gewinnchance zu einer Verlagerung der Nachfrage führen kann. Ferner darf das nationale Verbot dem Inverkehrbringen von Zeitschriften nicht entgegenstehen, die zwar Preisausschreiben, Rätsel oder Gewinnspiele enthalten, jedoch Lesern im fraglichen Mitgliedstaat keine Gewinnchance eröffnen. Es ist Sache des nationalen Gerichts, aufgrund einer Untersuchung des betroffenen nationalen Pressemarktes zu entscheiden, ob diese Voraussetzungen erfuellt sind.
Kostenentscheidung:
Kosten
35 Die Auslagen der Republik Österreich, der belgischen, der deutschen, der niederländischen und der portugiesischen Regierung sowie der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.
Tenor:
Aus diesen Gründen
hat
DER GERICHTSHOF
auf die ihm vom Handelsgericht Wien mit Beschluß vom 15. September 1995 vorgelegte Frage für Recht erkannt:
Die Anwendung von Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats, nach denen in seinem Gebiet der Vertrieb einer in einem anderen Mitgliedstaat hergestellten periodischen Zeitschrift durch ein in diesem Staat niedergelassenes Unternehmen verboten ist, wenn diese Zeitschrift Preisrätsel oder Gewinnspiele enthält, die in dem zuletzt genannten Staat rechtmässig veranstaltet werden, verstösst nicht gegen Artikel 30 EG-Vertrag, wenn dieses Verbot in einem angemessenen Verhältnis zur Aufrechterhaltung der Medienvielfalt steht und dieser Zweck nicht durch Maßnahmen erreicht werden kann, die weniger beschränkend sind. Das setzt insbesondere voraus, daß Zeitschriften, die im Rahmen von Gewinnspielen, Rätseln oder Preisausschreiben eine Gewinnchance eröffnen, mit den kleinen Presseunternehmen in Wettbewerb stehen, von denen angenommen wird, daß sie keine vergleichbaren Preise aussetzen können, und daß eine solche Gewinnchance zu einer Verlagerung der Nachfrage führen kann. Ferner darf das nationale Verbot dem Inverkehrbringen von Zeitschriften nicht entgegenstehen, die zwar Preisausschreiben, Rätsel oder Gewinnspiele enthalten, jedoch Lesern im fraglichen Mitgliedstaat keine Gewinnchance eröffnen. Es ist Sache des nationalen Gerichts, aufgrund einer Untersuchung des betroffenen nationalen Pressemarktes zu entscheiden, ob diese Voraussetzungen erfuellt sind.
Ende der Entscheidung
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