Judicialis Rechtsprechung

Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:

Zurück

Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 28.04.2004
Aktenzeichen: C-373/02
Rechtsgebiete: Assoziierungsabkommens EWG - Türkei, Beschluss Nr. 3/80, Verordnung (EWG) Nr. 1408/71


Vorschriften:

Assoziierungsabkommens EWG - Türkei Art. 9
Beschluss Nr. 3/80 Art. 3
Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 Art. 45 Abs. 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Urteil des Gerichtshofes (Große) vom 28. April 2004. - Sakir Öztürk gegen Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter. - Ersuchen um Vorabentscheidung: Oberster Gerichtshof - Österreich. - Artikel 9 des Assoziierungsabkommens EWG - Türkei - Artikel 3 des Beschlusses Nr. 3/80 - Grundsatz der Gleichbehandlung - Artikel 45 Absatz 1 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 - Soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer - Altersrente - Vorzeitige Altersrente bei Arbeitslosigkeit - Voraussetzung, dass der Betreffende Leistungen wegen Arbeitslosigkeit in dem betreffenden Mitgliedstaat erhalten hat. - Rechtssache C-373/02.

Parteien:

In der Rechtssache C-373/02

betreffend ein dem Gerichtshof nach Artikel 234 EG vom Obersten Gerichtshof (Österreich) in dem bei diesem anhängigen Rechtsstreit

Sakir Öztürk

gegen

Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter

vorgelegtes Ersuchen um Vorabentscheidung über die Auslegung von Artikel 9 des Abkommens zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei, unterzeichnet durch die Republik Türkei und die Mitgliedstaaten der EWG am 12. September 1963 in Ankara und im Namen der Gemeinschaft geschlossen, gebilligt und bestätigt durch den Beschluss 64/732/EWG des Rates vom 23. Dezember 1963 (ABl. 1964, Nr. 217, S. 3685), sowie von Artikel 45 Absatz 1 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in der Fassung der Verordnung (EG) Nr. 118/97 des Rates vom 2. Dezember 1996 (ABl. 1997, L 28, S. 1)

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten V. Skouris, der Kammerpräsidenten P. Jann, C. W. A. Timmermans, C. Gulmann und J. N. Cunha Rodrigues, der Richter J.-P. Puissochet und R. Schintgen (Berichterstatter), der Richterinnen F. Macken und N. Colneric sowie der Richter S. von Bahr und K. Lenaerts,

Generalanwalt: D. Ruiz-Jarabo Colomer,

Kanzler: R. Grass,

unter Berücksichtigung der schriftlichen Erklärungen

- von Herrn Öztürk, vertreten durch Rechtsanwalt P. Guhl,

- der österreichischen Regierung, vertreten durch E. Riedl als Bevollmächtigten,

- der deutschen Regierung, vertreten durch W.-D. Plessing als Bevollmächtigten,

- der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch H. Michard und W. Bogensberger als Bevollmächtigte,

aufgrund des Berichts des Berichterstatters,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom

12. Februar 2004,

folgendes

Urteil

Entscheidungsgründe:

1. Der Oberste Gerichtshof hat mit Beschluss vom 17. September 2002, beim Gerichtshof eingegangen am 17. Oktober 2002, gemäß Artikel 234 EG zwei Fragen nach der Auslegung von Artikel 9 des Abkommens zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei, unterzeichnet durch die Republik Türkei und die Mitgliedstaaten der EWG am 12. September 1963 in Ankara und im Namen der Gemeinschaft geschlossen, gebilligt und bestätigt durch den Beschluss 64/732/EWG des Rates vom 23. Dezember 1963 (ABl. 1964, Nr. 217, S. 3685), sowie von Artikel 45 Absatz 1 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in der Fassung der Verordnung (EG) Nr. 118/97 des Rates vom 2. Dezember 1996 (ABl. 1997, L 28, S. 1) (im Folgenden: Verordnung Nr. 1408/71) zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2. Diese Fragen stellen sich in einem Rechtsstreit zwischen Herrn Öztürk und der österreichischen Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter (im Folgenden: PVA) über deren Weigerung, Herrn Öztürk eine vorzeitige Alterspension bei Arbeitslosigkeit zu gewähren.

Rechtlicher Rahmen

Assoziierungsabkommen EWG-Türkei

3. Ziel des Assoziierungsabkommens ist es nach seinem Artikel 2 Absatz 1, eine beständige und ausgewogene Verstärkung der Handels- und Wirtschaftsbeziehungen zwischen den Vertragsparteien zu fördern. Dazu sieht das Assoziierungsabkommen eine Vorbereitungsphase, eine Übergangsphase und eine Endphase vor; die Vorbereitungsphase soll es der Republik Türkei ermöglichen, ihre Wirtschaft mit Hilfe der Gemeinschaft zu festigen (Artikel 3), in der Übergangsphase ist die schrittweise Errichtung einer Zollunion und die Annäherung der Wirtschaftspolitiken vorgesehen (Artikel 4), und die auf der Zollunion beruhende Endphase schließt eine verstärkte Koordinierung der Wirtschaftspolitiken ein (Artikel 5). Die Endphase wurde am 31. Dezember 1995 erreicht (vgl. Beschluss Nr. 1/95 des Assoziationsrates EG-Türkei vom 22. Dezember 1995 über die Durchführung der Endphase der Zollunion, ABl. 1996, L 35, S. 1).

4. Artikel 9 in Titel II - Durchführung der Übergangsphase - des Assoziierungsabkommens bestimmt:

Die Vertragsparteien erkennen an, dass für den Anwendungsbereich des Abkommens unbeschadet der besonderen Bestimmungen, die möglicherweise auf Grund von Artikel 8 noch erlassen werden, dem in Artikel 7 des Vertrages zur Gründung der Gemeinschaft verankerten Grundsatz entsprechend jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit verboten ist.

5. Artikel 12 des Assoziierungsabkommens lautet:

Die Vertragsparteien vereinbaren, sich von den Artikeln 48, 49 und 50 des Vertrages zur Gründung der Gemeinschaft leiten zu lassen, um untereinander die Freizügigkeit der Arbeitnehmer schrittweise herzustellen.

6. Das am 23. November 1970 in Brüssel unterzeichnete und durch die Verordnung (EWG) Nr. 2760/72 des Rates vom 19. Dezember 1972 (ABl. L 293, S. 1) im Namen der Gemeinschaft geschlossene, gebilligte und bestätigte Zusatzprotokoll (im Folgenden: Protokoll) legt in Artikel 1 die Bedingungen, die Einzelheiten und den Zeitplan für die Verwirklichung der in Artikel 4 des Assoziierungsabkommens genannten Übergangsphase fest. Nach seinem Artikel 62 ist das Protokoll Bestandteil des Assoziierungsabkommens.

7. Das Protokoll enthält einen mit Freizügigkeit und Dienstleistungsverkehr überschriebenen Titel II, dessen Kapitel I den Arbeitskräften gewidmet ist.

8. Artikel 36 des Protokolls sieht vor, dass die Freizügigkeit der Arbeitnehmer zwischen den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft und der Türkei nach den Grundsätzen des Artikels 12 des Assoziierungsabkommens schrittweise hergestellt wird und dass der Assoziationsrat die hierfür erforderlichen Regeln festlegt.

9. Artikel 39 Absätze 1 und 2 des Protokolls lautet:

(1) Der Assoziationsrat erlässt vor dem Ende des ersten Jahres nach Inkrafttreten dieses Protokolls Bestimmungen auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit für Arbeitnehmer türkischer Staatsangehörigkeit, die von einem Mitgliedstaat in einen anderen zu- oder abwandern, sowie für deren in der Gemeinschaft wohnende Familien.

(2) Diese Bestimmungen müssen es ermöglichen, dass für Arbeitnehmer türkischer Staatsangehörigkeit die in den einzelnen Mitgliedstaaten zurückgelegten Versicherungs- oder Beschäftigungszeiten in Bezug auf Alters-, Hinterbliebenen- und Invaliditätsrenten sowie auf die Krankheitsfürsorge für den Arbeitnehmer und seine in der Gemeinschaft wohnende Familie nach noch festzulegenden Regeln zusammengerechnet werden. Mit diesen Bestimmungen dürfen die Mitgliedstaaten der Gemeinschaft nicht verpflichtet werden, die in der Türkei zurückgelegten Zeiten zu berücksichtigen.

10. Gestützt auf Artikel 39 des Protokolls erließ der durch das Assoziierungsabkommen geschaffene Assoziationsrat am 19. September 1980 den Beschluss Nr. 3/80 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften auf die türkischen Arbeitnehmer und auf deren Familienangehörige (ABl. 1983, C 110, S. 60).

11. Dieser Beschluss soll die Systeme der sozialen Sicherheit der Mitgliedstaaten so koordinieren, dass türkische Arbeitnehmer, die in einem oder mehreren Mitgliedstaaten der Gemeinschaft beschäftigt sind oder waren, sowie ihre Familienangehörigen und Hinterbliebenen Leistungen in den herkömmlichen Zweigen der sozialen Sicherheit beziehen können.

12. Zu diesem Zweck verweist der Beschluss Nr. 3/80 im Wesentlichen auf einige Bestimmungen der Verordnung Nr. 1408/71 und auf einige wenige Bestimmungen der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 des Rates vom 21. März 1972 über die Durchführung der Verordnung Nr. 1408/71 (ABl. L 74, S. 1).

13. Artikel 2 - Persönlicher Geltungsbereich - des Beschlusses Nr. 3/80 lautet:

Dieser Beschluss gilt:

- für Arbeitnehmer, für welche die Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten gelten oder galten, und die türkische Staatsangehörige sind;

- für die Familienangehörigen dieser Arbeitnehmer, die im Gebiet eines Mitgliedstaats wohnen;

- für Hinterbliebene dieser Arbeitnehmer.

14. Artikel 3 - Gleichbehandlung - Absatz 1 des Beschlusses Nr. 3/80, der Artikel 3 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 entspricht, lautet:

Die Personen, die im Gebiet eines Mitgliedstaats wohnen und für die dieser Beschluss gilt, haben die gleichen Rechte und Pflichten aufgrund der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats wie die Staatsangehörigen dieses Staates, soweit dieser Beschluss nichts anderes bestimmt.

15. Artikel 4 - Sachlicher Geltungsbereich - des Beschlusses Nr. 3/80 bestimmt in Absatz 1:

Dieser Beschluss gilt für alle Rechtsvorschriften über Zweige der sozialen Sicherheit, die folgende Leistungsarten betreffen:

...

b) Leistungen bei Invalidität einschließlich der Leistungen, die zur Erhaltung oder Besserung der Erwerbsfähigkeit bestimmt sind;

c) Leistungen bei Alter;

...

g) Leistungen bei Arbeitslosigkeit;

...

16. Titel III - Besondere Vorschriften für die einzelnen Leistungsarten - des Beschlusses Nr. 3/80 enthält entsprechend der Verordnung Nr. 1408/71 ausgestaltete Koordinierungsvorschriften über Leistungen bei Invalidität, Alter und Tod (Renten).

17. Artikel 32 des Beschlusses Nr. 3/80 lautet:

Die Türkei und die Gemeinschaft treffen beiderseits die zur Durchführung dieses Beschlusses erforderlichen Maßnahmen.

18. Am 8. Februar 1983 legte die Kommission der Europäischen Gemeinschaften einen Vorschlag für eine Verordnung (EWG) des Rates über die Durchführung des Beschlusses Nr. 3/80 innerhalb der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (ABl. C 110, S. 1) vor, nach dem der Beschluss Nr. 3/80 in der Gemeinschaft Anwendung [findet] (Artikel 1) und der ergänzende Vorschriften zur Durchführung dieses Beschlusses enthält.

19. Der Rat hat die vorgeschlagene Verordnung bis heute nicht erlassen.

Die Verordnung Nr. 1408/71

20. Artikel 45 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 bestimmt:

Ist nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats der Erwerb, die Aufrechterhaltung oder das Wiederaufleben des Anspruchs auf die Leistungen eines Systems, das kein Sondersystem im Sinne der Absätze 2 oder 3 ist, davon abhängig, dass Versicherungs- oder Wohnzeiten zurückgelegt worden sind, berücksichtigt der zuständige Träger dieses Mitgliedstaats, soweit erforderlich, die nach den Rechtsvorschriften jedes anderen Mitgliedstaats zurückgelegten Versicherungs- oder Wohnzeiten; dabei ist unwesentlich, ob diese in einem allgemeinen oder in einem Sondersystem, in einem System für Arbeitnehmer oder in einem System für Selbständige zurückgelegt worden sind. Zu diesem Zweck berücksichtigt er diese Zeiten so, als ob es sich um nach den von ihm anzuwendenden Rechtsvorschriften zurückgelegte Zeiten handelte.

Österreichisches Recht

21. Nach § 253a des Allgemeinen Sozialversicherungsgesetzes in dessen am 1. Januar 2000 geltender Fassung (im Folgenden: ASVG) besteht im Fall der Langzeitarbeitslosigkeit unter bestimmten Voraussetzungen ein Anspruch auf vorzeitige Alterspension. Absatz 1 dieser Vorschrift bestimmt:

Anspruch auf vorzeitige Alterspension bei Arbeitslosigkeit hat der Versicherte nach Vollendung des 60. Lebensjahres, die Versicherte nach Vollendung des 55. Lebensjahres, wenn

1. die Wartezeit... erfuellt ist,

2. am Stichtag mindestens 180 Beitragsmonate der Pflichtversicherung in der Pensionsversicherung erworben worden sind,... und

3. der (die) Versicherte am Stichtag... die Voraussetzung des § 253b Abs. 1 Z 4 erfuellt und innerhalb der letzten fünfzehn Monate vor dem Stichtag... mindestens 52 Wochen wegen Arbeitslosigkeit eine Geldleistung aus der Arbeitslosenversicherung bezogen hat...

22. Nach Vollendung des in § 253a ASVG vorgesehenen Regelpensionsalters (65 Jahre bei Männern, 60 Jahre bei Frauen) wird die Pension dem Begünstigten als Alterspension gezahlt (§ 253a Abs. 5 ASVG).

Das österreichisch-deutsche Abkommen über soziale Sicherheit

23. Das am 1. Oktober 1998 in Kraft getretene Abkommen zwischen der Republik Österreich und der Bundesrepublik Deutschland über soziale Sicherheit (BGBl. I Nr. 138/1998, im Folgenden: bilaterales Abkommen) gilt nach seinem Artikel 2 Absatz 1 für die Rechtsvorschriften, die vom sachlichen Geltungsbereich der Verordnung [Nr. 1408/71] erfasst sind, mit Ausnahme der Arbeitslosenversicherung.

24. Artikel 3 des bilateralen Abkommens lautet:

(1) Dieses Abkommen gilt für Personen, die vom persönlichen Geltungsbereich der Verordnung [Nr. 1408/71] erfasst sind.

(2) Dieses Abkommen gilt ferner für Personen, die nicht vom persönlichen Geltungsbereich der Verordnung [Nr. 1408/71] erfasst sind und

a) für die die Rechtsvorschriften eines oder beider Vertragsstaaten gelten oder galten oder

b) die Familienangehörige oder Hinterbliebene der unter Buchstabe a genannten Personen sind.

25. Artikel 5 Absätze 1 und 2 des bilateralen Abkommens bestimmt:

(1) Für die in Artikel 3 Absatz 2 genannten Personen finden im Verhältnis zwischen beiden Vertragsstaaten die Verordnung [Nr. 1408/71], die Durchführungsverordnung und die zu ihrer Durchführung getroffenen Vereinbarungen entsprechend Anwendung, soweit in diesem Abkommen nichts anderes bestimmt ist.

(2) Die Artikel 3 und 10 der Verordnung [Nr. 1408/71] gelten in Bezug auf die in Artikel 3 Absatz 2 genannten Personen nur für die Staatsangehörigen der Vertragsstaaten, für Flüchtlinge und Staatenlose sowie für die Familienangehörigen und Hinterbliebenen dieser Personen.

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

26. Herr Öztürk, der die türkische Staatsangehörigkeit besitzt, wurde 1939 geboren und wohnt gegenwärtig in Deutschland. Er war von 1966 bis 1970 in Österreich und anschließend in Deutschland beschäftigt. Vom 20. Juli 1998 bis 31. Dezember 1999 war er in Deutschland arbeitslos und bezog vom Arbeitsamt Bremen Arbeitslosengeld.

27. Am 1. Januar 2000 hatte Herr Öztürk 377 Beitragsmonate der Pflichtversicherung in der Pensionsversicherung erworben (davon 323 in Deutschland und 54 in Österreich).

28. Vom 1. Januar 2000 an wurde ihm eine vorgezogene Altersrente nach der deutschen Regelung gewährt.

29. Hingegen lehnte es die PVA mit Bescheid vom 10. April 2000 ab, Herrn Öztürk eine vorzeitige Alterspension bei Arbeitslosigkeit nach § 253a ASVG zu gewähren, da dieser innerhalb der letzten fünfzehn Monate vor dem Stichtag, dem 1. Januar 2000, keine Leistung aus der österreichischen Arbeitslosenversicherung bezogen habe und sich auch nicht auf einen dem Bezug dieser Leistung gleichgestellten Tatbestand berufen könne.

30. Die Klage von Herrn Öztürk gegen diesen Bescheid wurde vom erstinstanzlichen Gericht mit der Begründung abgewiesen, § 253a ASVG habe seine Grundlage im Wesentlichen in den Verhältnissen auf dem österreichischen Arbeitsmarkt, so dass der Bezug einer Geldleistung aus der deutschen Arbeitslosenversicherung einem Leistungsbezug aus der österreichischen Arbeitslosenversicherung nicht gleichgestellt werden könne. Weder das bilaterale Abkommen noch die Verordnung Nr. 1408/71 ließen einen anderen Schluss zu.

31. Das erstinstanzliche Urteil wurde in der Berufungsinstanz bestätigt. Herr Öztürk erhob daraufhin Revision beim Obersten Gerichtshof.

32. Der Oberste Gerichtshof wirft die Frage auf, ob die Nichtberücksichtigung der Zeiten des Bezuges einer Geldleistung wegen Arbeitslosigkeit in einem anderen Mitgliedstaat für den Erwerb eines Pensionsanspruchs nach § 253a ASVG eine mittelbare Diskriminierung des Klägers des Ausgangsverfahrens darstellt, die gegen Artikel 9 des Assoziierungsabkommens verstößt. Das vorlegende Gericht bezieht sich insoweit auf die Urteile des Gerichtshofes vom 10. September 1996 in der Rechtssache C-277/94 (Taflan-Met u. a., Slg. 1996, I-4085, Randnr. 38), wonach die Artikel 12 und 13 des Beschlusses Nr. 3/80, die Regeln für die Zusammenrechnung von Versicherungszeiten enthielten, mangels vom Rat erlassener Durchführungsbestimmungen keine unmittelbare Wirkung hätten, und vom 4. Mai 1999 in der Rechtssache C-262/96 (Sürül, Slg. 1999, I-2685, Randnr. 64), in dem der Gerichtshof allerdings auch dargelegt habe, dass das Fehlen von Durchführungsbestimmungen nicht gegen den in Artikel 3 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 3/80 verankerten Grundsatz der Gleichbehandlung im Bereich der sozialen Sicherheit eingewandt werden könne (vgl. in diesem Sinne auch Urteil vom 14. März 2000 in den Rechtssachen C-102/98 und C-211/98, Kocak und Örs, Slg. 2000, I-1287, Randnrn. 35 und 36).

33. Im vorliegenden Fall sei davon auszugehen, dass sich Herr Öztürk grundsätzlich nicht mit Erfolg auf das in Artikel 3 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 3/80 niedergelegte Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit berufen könne, da diese Bestimmung auf die Lage eines türkischen Staatsangehörigen in seinem Wohnsitzstaat abstelle. Möglicherweise könne er sich aber mit Erfolg auf das allgemeine Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit nach Artikel 9 des Assoziierungsabkommens berufen.

34. Zwar habe der Gerichtshof im Urteil vom 9. Juli 1975 in der Rechtssache 20/75 (D'Amico, Slg. 1975, 891) bei einem Sachverhalt, der mit demjenigen des bei dem Obersten Gerichtshof anhängigen Rechtsstreits vergleichbar sei, das Vorliegen einer mittelbaren Diskriminierung verneint und für Recht erkannt, dass Artikel 45 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 einer innerstaatlichen Regelung nicht entgegenstehe, die für die Entstehung des Anspruchs auf vorgezogenes Altersruhegeld verlange, dass der Arbeitnehmer seit einer bestimmten Zeit arbeitslos sei und aus diesem Grund der Arbeitsverwaltung des betroffenen Mitgliedstaats zur Verfügung gestanden habe. Es sei aber fraglich, ob dieses Urteil insbesondere angesichts der Entwicklung der Rechtsprechung des Gerichtshofes zur Gleichstellung von tatsächlichen Situationen auf der Grundlage des Diskriminierungsverbots weiterhin sachgerecht sei.

35. Wenn der Gerichtshof zu dem Ergebnis komme, dass Artikel 9 des Assoziierungsabkommens den Anspruch von Herrn Öztürk nicht stütze, sei weiter zu prüfen, ob sich dieser hierfür nicht auf das bilaterale Abkommen und die Verordnung Nr. 1408/71 berufen könne. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes zur Zulässigkeit von Vorabentscheidungsersuchen (u. a. Urteile vom 18. Oktober 1990 in den Rechtssachen C-297/88 und C-197/89, Dzodzi, Slg. 1990, I-3763, Randnrn. 16 bis 18, vom 8. November 1990 in der Rechtssache C-231/89, Gmurzynska-Bscher, Slg. 1990, I-4003, Randnrn. 18 bis 26, und vom 17. Juli 1997 in der Rechtssache C-130/95, Giloy, Slg. 1997, I-4291, Randnrn. 20 bis 29) sei der Gerichtshof für eine Auslegung des Artikels 45 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 im Hinblick auf die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits zuständig.

36. Unter diesen Umständen hat der Oberste Gerichtshof das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1. Ist das Recht betreffend die Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei (insbesondere Artikel 9 des Assoziierungsabkommens) dahin auszulegen, dass es der Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, die für den Anspruch auf eine vorzeitige Alterspension bei Arbeitslosigkeit unter anderem voraussetzt, dass der Arbeitnehmer innerhalb eines bestimmten Zeitraums vor dem Stichtag wegen Arbeitslosigkeit eine Geldleistung aus der Arbeitslosenversicherung dieses Mitgliedstaats bezogen hat?

Für den Fall der Verneinung der ersten Frage:

2. Ist Artikel 45 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 dahin auszulegen, dass er der Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, die für den Anspruch auf eine vorzeitige Alterspension bei Arbeitslosigkeit unter anderem voraussetzt, dass der Arbeitnehmer innerhalb eines bestimmten Zeitraums vor dem Stichtag wegen Arbeitslosigkeit eine Geldleistung aus der Arbeitslosenversicherung dieses Mitgliedstaats bezogen hat?

Zur ersten Frage

37. Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Artikel 9 des Assoziierungsabkommens oder Artikel 3 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 3/80 dahin auszulegen sind, dass sie der Anwendung von Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats entgegenstehen, nach denen ein Anspruch auf vorgezogene Altersrente wegen Arbeitslosigkeit nur besteht, wenn der Arbeitnehmer während eines bestimmten Zeitraums vor der Stellung des Rentenantrags Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung nur dieses Mitgliedstaats erhalten hat.

Beim Gerichtshof eingereichte Erklärungen

38. Herr Öztürk macht geltend, in der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich existierten fast gleich lautende Vorschriften, nach denen ein arbeitsloser älterer Arbeitnehmer, für den es keine ernsthafte Möglichkeit einer Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt gebe, vorzeitig in den Ruhestand treten könne. In Deutschland, wo er zuletzt gearbeitet hat, beziehe er eine solche vorgezogene Altersrente, deren Höhe nach den dort zurückgelegten Versicherungszeiten berechnet worden sei. Würde ihm, wie er es beantrage, eine solche Rente auch in Österreich gewährt, würde sich deren Höhe nach den in Österreich zurückgelegten Versicherungszeiten bemessen.

39. Herr Öztürk sieht sich als Opfer einer nach dem Assoziierungsabkommen verbotenen Diskriminierung, weil er seine Lebensarbeitszeit in mehr als einem Mitgliedstaat zurückgelegt habe. Hätte er nämlich seine gesamte Lebensarbeitszeit bis zu dem Zeitpunkt, zu dem er arbeitslos geworden sei, ausschließlich in einem der beiden Mitgliedstaaten zurückgelegt, hätte er nach den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats eine vorgezogene Rente in einer Höhe erhalten, die seiner gesamten Lebensarbeitszeit entsprochen hätte.

40. Nach Ansicht der österreichischen Regierung ist nicht auf Artikel 9 des Assoziierungsabkommens, sondern auf Artikel 3 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 3/80 abzustellen, da dieser ein spezielles Diskriminierungsverbot für den Bereich der sozialen Sicherheit enthalte (vgl. Urteil Kocak und Örs, Randnr. 36).

41. Sie teilt nicht die Auffassung des vorlegenden Gerichts, dass Artikel 3 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 3/80 nur für das Hoheitsgebiet gelte, in dem der betreffende türkische Staatsangehörige wohne. Diese Bestimmung habe den gleichen Geltungsbereich wie Artikel 3 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71. Für dessen Anwendung komme es aber nicht darauf an, ob der Mitgliedstaat, in dem der Betroffene wohne, und der Mitgliedstaat, nach dessen Rechtsvorschriften er sich auf das Diskriminierungsverbot berufe, identisch seien oder nicht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. September 2000 in der Rechtssache C-124/99, Borawitz, Slg. 2000, I-7293, Randnrn. 23 bis 35).

42. Artikel 3 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 3/80 verbiete es nicht, Zeiten, in denen Leistungen bei Arbeitslosigkeit in einem anderen Mitgliedstaat gewährt worden seien, bei der Prüfung der Frage, ob ein Anspruch auf vorgezogene Altersrente erworben worden sei, unberücksichtigt zu lassen. Die entgegengesetzte Auffassung würde darauf hinauslaufen, dass alle Maßnahmen zur Koordinierung der einzelstaatlichen Systeme der sozialen Sicherheit, wie die Regel der Zusammenrechnung der Versicherungszeiten, als Maßnahmen aufgefasst würden, mit denen verschleierte Diskriminierungen bekämpft werden sollten. So weit habe der Gerichtshof im Urteil Taflan-Met u. a. den Begriff der mittelbaren Diskriminierung nicht ausgelegt, in dem es gerade um die Weigerung gegangen sei, die in einem anderen Mitgliedstaat zurückgelegten Versicherungszeiten zusammenzurechnen. Eine mittelbare Diskriminierung sei daher im Ausgangsverfahren nicht gegeben.

43. Hierfür spreche auch das Urteil D'Amico, das eine ähnliche Fallgestaltung wie die des Ausgangsverfahrens betroffen habe und in dem der Gerichtshof ausschließlich die Regelung des Artikels 45 der Verordnung Nr. 1408/71 über die Zusammenrechnung der Versicherungszeiten geprüft habe.

44. Die deutsche Regierung vertritt die Auffassung, die nationalen Rechtsvorschriften, um die es im Ausgangsverfahren gehe, begründeten keine gegen Artikel 3 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 3/80 verstoßende Diskriminierung. Diese Rechtsvorschriften seien nämlich unabhängig von der Staatsangehörigkeit des Antragstellers anwendbar, und mit ihnen werde ein zulässiger Zweck verfolgt, nämlich derjenige der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit zugunsten der Personen, die nur geringe Chancen hätten, wieder in den nationalen Arbeitsmarkt eingegliedert zu werden. Unter diesen Umständen seien diese Rechtsvorschriften nicht zugunsten von Personen anzuwenden, die in einem anderen Mitgliedstaat als der Republik Österreich wohnten und von der österreichischen Arbeitslosenversicherung und dem österreichischen Arbeitsmarkt nicht betroffen seien. Außerdem sei die territoriale Bindung der Leistungen bei Arbeitslosigkeit im Gemeinschaftsrecht anerkannt.

45. Für diese Auffassung spreche auch das Urteil D'Amico, das trotz der seither im Zusammenhang mit der Schaffung des Binnenmarktes eingetretenen Entwicklungen heute immer noch maßgeblich sei, da ein einheitlicher europäischer Arbeitsmarkt heute ebenso wenig existiere, wie es ihn 1975 bei Erlass dieses Urteils gegeben habe.

46. Nach Ansicht der Kommission ist auf Artikel 9 des Assoziierungsabkommens abzustellen, der unmittelbar anwendbar sei. Artikel 3 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 3/80 sei hingegen nur in dem Mitgliedstaat anwendbar, in dem der betreffende türkische Staatsangehörige Aufnahme gefunden habe.

47. Nach Artikel 9 des Assoziierungsabkommens sei es unzulässig, wenn sich der zuständige Träger eines Mitgliedstaats weigere, die Zeiten, in denen ein türkischer Staatsangehöriger Leistungen bei Arbeitslosigkeit in einem anderen Mitgliedstaat bezogen habe, für den Erwerb eines Anspruchs auf vorgezogene Altersrente so anzurechnen, als ob die Leistungen nach den eigenen nationalen Rechtsvorschriften gewährt worden wären. Eine solche Weigerung stelle eine mittelbare Diskriminierung dar.

48. Die Kommission bezieht sich insoweit auf die jüngere, nach dem Urteil D'Amico ergangene Rechtsprechung des Gerichtshofes zu Fragen der Gleichstellung von in verschiedenen Mitgliedstaaten liegenden Sachverhalten im Hinblick auf die Begründung eines Anspruchs auf Leistungen der sozialen Sicherheit nach dem Grundsatz der Gleichbehandlung.

Antwort des Gerichtshofes

49. Artikel 9 des Assoziierungsabkommens verbietet für den Anwendungsbereich des Abkommens unbeschadet der besonderen Bestimmungen, die möglicherweise vom Assoziationsrat noch erlassen werden, jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit. Das bedeutet, dass dieser Artikel - ähnlich wie Artikel 12 EG in seinem Verhältnis zu den besonderen Bestimmungen des EG-Vertrags oder des abgeleiteten Rechts - nicht autonom anwendbar ist, wenn der Assoziationsrat ein spezielles Diskriminierungsverbot, wie Artikel 3 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 3/80 im besonderen Bereich der sozialen Sicherheit, erlassen hat (vgl. in diesem Sinne Urteil Kocak und Örs, Randnr. 36).

50. Infolgedessen ist in der vorliegenden Rechtssache erstens zu prüfen, ob in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens, in der der betreffende türkische Staatsangehörige in einem anderen Mitgliedstaat wohnt als dem, gegenüber dem er sich auf die genannte Vorschrift beruft, eine Berufung auf den in Artikel 3 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 3/80 verankerten Grundsatz der Gleichbehandlung möglich ist.

51. Diesbezüglich kann, wie die österreichische Regierung und der Generalanwalt in Nummer 28 seiner Schlussanträge zu Recht hervorgehoben haben, weder aus dem Wortlaut von Artikel 3 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 3/80, der dem des Artikels 3 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 nachgebildet ist, noch aus seinem Zweck hergeleitet werden, dass nur der Wohnmitgliedstaat verpflichtet sei, bei der Anwendung seiner nationalen Rechtsvorschriften im Bereich der sozialen Sicherheit zugunsten der türkischen Staatsangehörigen den Grundsatz der Gleichbehandlung ohne Unterscheidung nach der Staatsangehörigkeit zu wahren. Diese Verpflichtung trifft vielmehr auch die anderen Mitgliedstaaten, in denen der türkische Staatsangehörige Rechte im Bereich der sozialen Sicherheit erworben oder Versicherungs-, Wohn- oder Beschäftigungszeiten zurückgelegt hat.

52. Für diese Auslegung spricht auch Artikel 2 des Beschlusses Nr. 3/80, nach dem dieser Beschluss u. a. für Arbeitnehmer gilt, für welche die Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten gelten oder galten.

53. Daraus folgt für den vorliegenden Fall, dass sich Herr Öztürk aufgrund der Versicherungszeiten, die er vor seinem Umzug nach Deutschland in Österreich zurückgelegt hat, zur Begründung eines Rentenanspruchs gegenüber den österreichischen Behörden auf Artikel 3 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 3/80 berufen kann, auch wenn er gegenwärtig in Deutschland wohnt.

54. Was zweitens die Tragweite des in Artikel 3 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 3/80 verankerten Verbotes der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit betrifft, so verbietet das Gleichbehandlungsgebot nach ständiger Rechtsprechung nicht nur offene Diskriminierungen aufgrund der Staatsangehörigkeit, sondern auch alle verschleierten Formen von Diskriminierung, die bei Anwendung anderer Unterscheidungsmerkmale tatsächlich zu demselben Ergebnis führen (Urteil Kocak und Örs, Randnr. 39).

55. Rechtsvorschriften wie die, um die es im Ausgangsverfahren geht, sind zwar unabhängig von der Staatsangehörigkeit der betreffenden Arbeitnehmer anwendbar.

56. Jedoch kann die Voraussetzung, dass der Betreffende während einer bestimmten Zeit vor dem Stichtag Leistungen der österreichischen Arbeitslosenversicherung erhalten hat, von deren Erfuellung diese Rechtsvorschriften die Entstehung des Anspruchs auf vorgezogene Altersrente abhängig machen, von inländischen Arbeitnehmern leichter erfuellt werden als von türkischen Wanderarbeitnehmern, die in Österreich gearbeitet haben.

57. In diesem Zusammenhang bedarf es nicht der Feststellung, dass die fragliche nationale Vorschrift in der Praxis einen wesentlich größeren Anteil dieser Wanderarbeitnehmer betrifft. Es genügt die Feststellung, dass sie geeignet ist, eine solche Wirkung hervorzurufen (vgl. entsprechend Urteil vom 23. Mai 1996 in der Rechtssache C-237/94, O'Flynn, Slg. 1996, I-2617, Randnr. 21).

58. Rechtsvorschriften wie die im Ausgangsverfahren fraglichen führen somit zu einer, wenn auch nicht unmittelbar auf der Staatsangehörigkeit beruhenden, Ungleichbehandlung.

59. Vor einer Entscheidung der Frage, ob diese Ungleichbehandlung möglicherweise gerechtfertigt ist, ist jedoch drittens zu prüfen, ob die Anwendung des Diskriminierungsverbots, wie es in Artikel 3 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 3/80 niedergelegt ist, allein genügt, um die Benachteiligungen, die sich für türkische Staatsangehörige aus Rechtsvorschriften wie den im Ausgangsverfahren fraglichen ergeben, zu beseitigen, da der Gerichtshof in Randnummer 38 des Urteils Taflan-Met u. a. entschieden hat, dass die Bestimmungen des Beschlusses Nr. 3/80 keine unmittelbare Wirkung im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten haben und daher eine Berufung auf sie vor den innerstaatlichen Gerichten so lange nicht möglich ist, als der Rat nicht die zur Durchführung dieses Beschlusses unerlässlichen ergänzenden Maßnahmen erlassen hat, wie sie in der Verordnung Nr. 574/72 genannt sind (vgl. in diesem Sinne auch Urteil Sürül, Randnr. 54).

60. Dies trifft auf die Regel der Zusammenrechnung der Versicherungszeiten in den in Artikel 4 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 3/80 genannten verschiedenen Zweigen der sozialen Sicherheit zu. Dagegen stellt Artikel 3 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 3/80 in dessen Geltungsbereich einen eindeutigen, unbedingten Grundsatz auf, der ausreichend bestimmt ist, um von einem nationalen Gericht angewandt werden zu können (Urteil Sürül, Randnrn. 62 bis 74).

61. Die österreichische Regierung vertritt die Auffassung, um in einem Mitgliedstaat zugunsten eines türkischen Arbeitnehmers Zeiten, in denen diesem Leistungen bei Arbeitslosigkeit gewährt worden seien, im Hinblick auf den Erwerb eines Anspruchs auf vorgezogene Altersrente berücksichtigen zu können, müsse auf im Beschluss Nr. 3/80 enthaltene technische Vorschriften über die Zusammenrechnung von Versicherungszeiten zurückgegriffen werden, denen im Urteil Taflan-Met u. a. gerade keine unmittelbare Wirkung zuerkannt worden sei, so dass eine Berufung auf sie vor den nationalen Gerichten nicht möglich sei.

62. Diese Auslegung ist jedoch zurückzuweisen.

63. Denn wie der Generalanwalt in den Nummern 71 und 72 der Schlussanträge ausgeführt hat, geht es im Ausgangsverfahren nicht um ein Problem der Anrechnung von Beitragszeiten in der Rentenversicherung, von deren Zurücklegung der Erwerb des Anspruchs auf eine österreichische Altersrente oder deren Bemessung abhängen würde.

64. Das Ausgangsverfahren betrifft vielmehr nur die Frage der Berücksichtigung eines Mindestreferenzzeitraums, in dem der betreffende Arbeitnehmer Leistungen bei Arbeitslosigkeit bezogen haben muss, um überhaupt einen Anspruch auf vorgezogene Altersrente wegen Arbeitslosigkeit geltend machen zu können.

65. Ein solcher Zeitraum kann jedoch als solcher nicht als Versicherungszeit angesehen werden, die im Hinblick auf den Erwerb, die Aufrechterhaltung oder das Wiederaufleben von Rentenansprüchen von den technischen Vorschriften über die Zusammenrechnung der in verschiedenen Mitgliedstaaten zurückgelegten Zeiten erfasst wird. Da nämlich mit dieser Voraussetzung sichergestellt werden soll, dass der Betreffende tatsächlich während eines bestimmten Zeitraums arbeitslos war und seine Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt auf Schwierigkeiten stieß, handelt es sich um eine Voraussetzung, die sich von derjenigen unterscheidet, die die konkrete Festsetzung von Ansprüchen auf Altersrente betrifft, und für die in vollem Umfang das Diskriminierungsverbot des Artikels 3 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 3/80 gilt (vgl. entsprechend Beschluss vom 12. Februar 2003 in der Rechtssache C-23/02, Alami, Slg. 2003, I-1399, Randnr. 38).

66. Viertens ist schließlich zu prüfen, ob die in den Randnummern 56 bis 58 dieses Urteils festgestellte unterschiedliche Behandlung, wie die deutsche Regierung meint, durch einen zulässigen sozialpolitischen Zweck gerechtfertigt sein kann, da die vorgezogene Altersrente wegen Arbeitslosigkeit als Maßnahme des sozialen Schutzes der Arbeitslosen angesichts der im betreffenden Mitgliedstaat gegebenen Beschäftigungssituation anzusehen sei. In diesem Fall seien die in einem anderen Mitgliedstaat zurückgelegten Zeiten der Arbeitslosigkeit nicht zu berücksichtigen.

67. Hierzu ist festzustellen, dass eine Leistung, wie sie im Ausgangsverfahren in Rede steht, zwar einem Arbeitnehmer, dessen Wiedereingliederung ins Berufsleben schwierig ist, gewährt wird und fraglos Teil der nationalen Beschäftigungspolitik ist, dass sie aber deshalb noch keine Leistung bei Arbeitslosigkeit, sondern eine Altersrente darstellt. Zwar wird der Anspruch auf diese Rente dem Betreffenden zuerkannt, bevor er das Ruhestandsalter erreicht hat, sofern er sich in einer Situation der Langzeitarbeitslosigkeit befindet. Die Höhe dieser Leistung wird jedoch anhand der Zeiten berechnet, für die der Versicherte Beiträge zum Rentenversicherungssystem des betreffenden Mitgliedstaats geleistet hat.

68. Aufgrund dessen ist auf die erste Frage zu antworten, dass Artikel 3 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 3/80 dahin auszulegen ist, dass er der Anwendung von Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats entgegensteht, nach denen ein Anspruch auf vorgezogene Altersrente wegen Arbeitslosigkeit nur besteht, wenn der Arbeitnehmer während eines bestimmten Zeitraums vor der Stellung des Rentenantrags Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung nur dieses Mitgliedstaats erhalten hat.

Zur zweiten Frage

69. Angesichts der Antwort auf die erste Frage ist die zweite Vorlagefrage nicht zu beantworten.

Kostenentscheidung:

Kosten

70. Die Auslagen der österreichischen und der deutschen Regierung sowie der Kommission, die Erklärungen beim Gerichtshof eingereicht haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

hat

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

auf die ihm vom Obersten Gerichtshof mit Entscheidung vom 17. September 2002 vorgelegten Fragen für Recht erkannt:

Artikel 3 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 3/80 des Assoziationsrates vom 19. September 1980 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften auf die türkischen Arbeitnehmer und auf deren Familienangehörige ist dahin auszulegen, dass er der Anwendung von Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats entgegensteht, nach denen ein Anspruch auf vorgezogene Altersrente wegen Arbeitslosigkeit nur besteht, wenn der Arbeitnehmer während eines bestimmten Zeitraums vor der Stellung des Rentenantrags Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung nur dieses Mitgliedstaats erhalten hat.

Ende der Entscheidung

Zurück