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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 21.11.1990
Aktenzeichen: C-373/89
Rechtsgebiete: EWGV, RL Nr. 79/7/EWG


Vorschriften:

EWGV Art. 177
RL Nr. 79/7/EWG Art. 2
RL Nr. 79/7/EWG Art. 4
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie 79/7 zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit ist dahin auszulegen, daß er nationalen Rechtsvorschriften entgegensteht, die nur verheirateten Frauen, Witwen und Studenten die Möglichkeit einer Gleichstellung mit Personen einräumen, die von der Pflicht zur Entrichtung von Sozialversicherungsbeiträgen befreit sind, ohne dieselbe Möglichkeit der Beitragsbefreiung verheirateten Männern oder Witwern zu eröffnen, die im übrigen die gleichen Voraussetzungen erfuellen.


URTEIL DES GERICHTSHOFES (ZWEITE KAMMER) VOM 21. NOVEMBER 1990. - CAISSE D'ASSURANCES SOCIALES POUR TRAVAILLEURS INDEPENDANTS "INTEGRITY" GEGEN NADINE ROUVROY. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: TRIBUNAL DU TRAVAIL DE NIVELLES - BELGIEN. - GLEICHBEHANDLUNG VON MAENNERN UND FRAUEN - SOZIALE SICHERHEIT - RICHTLINIE 79/7/EWG - NATIONALE REGELUNG, DIE UNTER BESTIMMTEN UMSTAENDEN VERHEIRATETE FRAUEN, WITWEN UND STUDENTEN VON DEN SOZIALVERSICHERUNGSBEITRAEGEN BEFREIT. - RECHTSSACHE C-373/89.

Entscheidungsgründe:

1 Das Tribunal du travail Nivelles ( Belgien ), Abteilung Wavre, hat mit Zwischenurteil vom 4. Dezember 1989, beim Gerichtshof eingegangen am 15. Dezember 1989, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag eine Frage nach der Auslegung der Richtlinie 79/7/EWG des Rates vom 19. Dezember 1978 zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit ( ABl. 1979, L 6, S. 24 ) zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Frage stellt sich in einem Rechtsstreit zwischen der Caisse d' assurances sociales pour travailleurs indépendants "Integrity" ASBL ( im folgenden : Integrity ASBL ) und Nadine Rouvroy, Witwe des Architekten Jean Leloup, und ihren Kindern Olivier, Eric und Mathieu wegen der für die Jahre 1985 und 1986 verlangten Zahlung von Sozialversicherungsbeiträgen als selbständiger Erwerbstätiger.

3 Gemäß Artikel 1 der belgischen königlichen Verordnung Nr. 38 vom 27. Juli 1967 zur Regelung der sozialen Stellung selbständiger Erwerbstätiger ( veröffentlicht im Moniteur belge vom 29. 7. 1967, S. 1001 ) umfasst die soziale Stellung Familienleistungen, Ruhestandsleistungen und Leistungen für Hinterbliebene sowie Leistungen im Krankheits - oder Invaliditätsfall. Diesem System unterliegen die selbständigen Erwerbstätigen und die Hilfskräfte.

4 Die königliche Verordnung vom 19. Dezember 1967 zur allgemeinen Durchführung der königlichen Verordnung Nr. 38 ( veröffentlicht im Moniteur belge vom 28. 12. 1967, S. 1496 ) in der Fassung der königlichen Verordnung vom 20. Juli 1981 ( veröffentlicht im Moniteur belge vom 20. 7. 1981, S. 1218 ) sieht in Artikel 37 § 1 Satz 1 folgendes vor :

"Verheiratete Frauen, Witwen und Studenten, auf die die königliche Verordnung Nr. 38 anzuwenden ist, können - wenn ihre Einkünfte aus Erwerbstätigkeit, die gemäß Artikel 11 §§ 2 und 3 der königlichen Verordnung Nr. 38 der Berechnung der Beiträge für ein bestimmtes Jahr zugrunde zu legen sind, sich auf weniger als 77 472 BFR belaufen - für dieses Jahr den Antrag stellen, den in Artikel 12 § 2 dieser Verordnung genannten Personen gleichgestellt zu werden."

5 Gemäß Artikel 12 § 2 der königlichen Verordnung Nr. 38 ist der Pflichtversicherte, der neben der Tätigkeit, die Anlaß zur Anwendung der Vorschriften über die soziale Stellung selbständiger Erwerbstätiger ist, gewöhnlich und hauptsächlich eine andere Erwerbstätigkeit ausübt, aufgrund der königlichen Verordnung Nr. 38 nicht beitragspflichtig, wenn seine Einkünfte aus Erwerbstätigkeit als Selbständiger eine bestimmte Hoechstgrenze nicht überschreiten. Diese Beitragsbefreiung führt für den Befreiten nicht zum Verlust der in den Vorschriften über die soziale Stellung der selbständigen Erwerbstätigen vorgesehenen Leistungen.

6 In dem Verfahren vor dem Tribunal du travail Nivelles beantragte Jean Leloup, dessen Einkünfte sehr gering waren, die Anwendung des Artikels 37 der königlichen Verordnung vom 19. Dezember 1967. Die Integrity ASBL lehnte diesen Antrag mit der Begründung ab, daß Artikel 37 nur auf verheiratete Frauen, Witwen und Studenten, nicht aber auf verheiratete Männer und Witwer anwendbar sei. Jean Leloups Erben, die das Verfahren aufgenommen hatten, machten geltend, daß Artikel 37 gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit verstosse.

7 Das Tribunal du travail Nivelles, Abteilung Wavre, hat entschieden, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen :

"Steht Artikel 37 der königlichen Verordnung vom 19. Dezember 1967 zur allgemeinen Durchführung der königlichen Verordnung Nr. 38 vom 27. Juli 1967 zur Regelung der sozialen Stellung selbständiger Erwerbstätiger mit der Richtlinie 79/7/EWG vom 19. Dezember 1978 zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit im Einklang?"

8 Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts des Ausgangsrechtsstreits, des Verfahrensablaufs und der beim Gerichtshof eingereichten schriftlichen Erklärungen wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt wird im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.

9 Vorab ist festzustellen, daß es im Rahmen des Artikels 177 EWG-Vertrag nicht Sache des Gerichtshofes ist, über die Vereinbarkeit einer nationalen Regelung mit dem Gemeinschaftsrecht zu entscheiden; er ist jedoch dafür zuständig, dem nationalen Gericht alle Kriterien für die Auslegung dieses Rechts an die Hand zu geben, die es diesem ermöglichen können, für die Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits über diese Vereinbarkeit zu befinden ( siehe zuletzt das Urteil vom 11. Oktober 1990 in der Rechtssache C-196/89, Nespoli, Slg. 1990, I-0000 ).

10 Die Richtlinie 79/7/EWG findet nach Artikel 2 unter anderem auf selbständige Erwerbstätige Anwendung. Artikel 3 führt die Systeme und Regelungen auf, in denen der Gleichbehandlungsgrundsatz im Bereich der sozialen Sicherheit durchzuführen ist. Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie lautet wie folgt :

"Der Grundsatz der Gleichbehandlung beinhaltet den Fortfall jeglicher unmittelbaren oder mittelbaren Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, insbesondere unter Bezugnahme auf den Ehe - oder Familienstand, und zwar im besonderen betreffend :

- den Anwendungsbereich der Systeme und die Bedingungen für den Zugang zu den Systemen,

- die Beitragspflicht und die Berechnung der Beiträge,

- die Berechnung der Leistungen, einschließlich der Zuschläge für den Ehegatten und für unterhaltsberechtigte Personen, sowie die Bedingungen betreffend die Geltungsdauer und die Aufrechterhaltung des Anspruchs auf die Leistungen."

11 Die Vorlagefrage ist deshalb dahin zu verstehen, daß sie darauf abzielt, ob insbesondere Artikel 4 der Richtlinie 79/7/EWG dahin auszulegen ist, daß er einen Mitgliedstaat daran hindert, nur verheirateten Frauen, Witwen und Studenten die Möglichkeit einer Gleichstellung mit Personen zu geben, die von der Pflicht zur Entrichtung von Sozialversicherungsbeiträgen befreit sind, wenn ihre Einkünfte aus Erwerbstätigkeit als Selbständige gering sind und sie gewöhnlich und hauptsächlich eine andere Erwerbstätigkeit ausüben.

12 Nach ständiger Rechtsprechung ( siehe zuletzt das Urteil vom 13. Dezember 1989 in der Rechtssache C-102/88, Ruzius-Wilbrink, Slg. 1989, 4311 ) ist Artikel 4 Absatz 1 für sich betrachtet unter Berücksichtigung der Zielsetzung der Richtlinie und ihres Inhalts hinreichend genau, so daß er von einem einzelnen vor einem innerstaatlichen Gericht in Anspruch genommen werden kann, um jede mit diesem Artikel unvereinbare innerstaatliche Vorschrift für unanwendbar erklären zu lassen. Diese Bestimmung verpflichtet die Mitgliedstaaten, alle mit dem Grundsatz der Gleichbehandlung unvereinbaren Rechtsvorschriften aufzuheben.

13 Der Gerichtshof hat ausserdem in jenem Urteil vom 13. Dezember 1989 entschieden, daß in einem Fall unmittelbarer Diskriminierung die Angehörigen der benachteiligten Gruppe Anspruch auf die gleiche Behandlung und auf Anwendung der gleichen Regelung wie die Angehörigen der begünstigten Gruppe haben, die sich in der gleichen Lage befinden, wobei diese Regelung, solange die Richtlinie nicht korrekt durchgeführt ist, das einzig gültige Bezugssystem bleibt.

14 Schließlich ist darauf hinzuweisen, daß Artikel 4, der den Inhalt des Grundsatzes der Gleichbehandlung festlegt, gemäß der inneren Logik der Richtlinie nur innerhalb des persönlichen und sachlichen Anwendungsbereichs der Richtlinie gilt ( Urteil vom 27. Juni 1989 in den verbundenen Rechtssachen 48/88, 106/88 und 107/88, J. G. Achterberg-te Riele, Slg. 1989, 1963 ). Hierzu hat der Generalanwalt in seinen Schlussanträgen zu Recht darauf hingewiesen, daß der Gleichbehandlungsgrundsatz auch dann, wenn unteilbare Sozialversicherungsbeiträge Sozialleistungen entsprechen, die nur zum Teil in den sachlichen Anwendungsbereich der Richtlinie 79/7/EWG fallen, auf sämtliche Beiträge anwendbar ist. Etwas anderes gilt, wenn die Beiträge entsprechend den individuellen Leistungen aufgegliedert werden können.

15 Nach alledem ist auf die Frage des Tribunal du travail Nivelles, Abteilung Wavre, zu antworten, daß Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie 79/7/EWG des Rates vom 19. Dezember 1978 zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit dahin auszulegen ist, daß er nationalen Rechtsvorschriften entgegensteht, die nur verheirateten Frauen, Witwen und Studenten die Möglichkeit einer Gleichstellung mit Personen einräumen, die von der Pflicht zur Entrichtung von Sozialversicherungsbeiträgen befreit sind, ohne dieselbe Möglichkeit der Beitragsbefreiung verheirateten Männern oder Witwern zu eröffnen, die im übrigen die gleichen Voraussetzungen erfuellen.

Kostenentscheidung:

Kosten

16 Die Auslagen der belgischen Regierung und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahren; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF ( Zweite Kammer )

auf die ihm vom Tribunal du travail Nivelles, Abteilung Wavre, mit Urteil vom 4. Dezember 1989 vorgelegte Frage für Recht erkannt :

Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie 79/7/EWG des Rates vom 19. Dezember 1978 zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit ist dahin auszulegen, daß er nationalen Rechtsvorschriften entgegensteht, die nur verheirateten Frauen, Witwen und Studenten die Möglichkeit einer Gleichstellung mit Personen einräumen, die von der Pflicht zur Entrichtung von Sozialversicherungsbeiträgen befreit sind, ohne dieselbe Möglichkeit der Beitragsbefreiung verheirateten Männern oder Witwern zu eröffnen, die im übrigen die gleichen Voraussetzungen erfuellen.

Ende der Entscheidung

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