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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 11.01.1990
Aktenzeichen: C-38/89
Rechtsgebiete: EWG-Vertrag


Vorschriften:

EWG-Vertrag Art. 169
EWG-Vertrag Art. 170
EWG-Vertrag Art. 189 Abs. 3
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Die zur Durchführung einer gemeinschaftsrechtlichen Richtlinie erlassenen Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats sind auch dann in vollem Umfang anzuwenden, wenn die betreffende Richtlinie in anderen Mitgliedstaaten noch nicht umgesetzt und wirksam geworden ist.

Ein Mitgliedstaat kann nämlich die Nichterfuellung der ihm nach dem EWG-Vertrag obliegenden Verpflichtungen nicht unter Berufung darauf, andere Mitgliedstaaten kämen ihren Verpflichtungen ebenfalls nicht nach, rechtfertigen, da die Mitgliedstaaten in der durch den EWG-Vertrag geschaffenen Rechtsordnung die Durchführung des Gemeinschaftsrechts nicht an eine Bedingung der Gegenseitigkeit knüpfen können. In den Artikeln 169 und 170 EWG-Vertrag sind die geeigneten Rechtsbehelfe für den Fall vorgesehen, daß Mitgliedstaaten gegen ihre Vertragspflichten verstossen.


URTEIL DES GERICHTSHOFES (VIERTE KAMMER) VOM 11. JANUAR 1990. - STRAFVERFAHREN GEGEN GUY BLANGUERNON. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: TRIBUNAL DE POLICE D'AIX-LES-BAINS - FRANKREICH. - GESELLSCHAFTSRECHT - DURCHFUEHRUNG VON RICHTLINIEN - BEDINGUNG DER GEGENSEITIGKEIT. - RECHTSSACHE C-38/89.

Entscheidungsgründe:

1 Das Tribunal de police Aix-les-Bains hat mit Entscheidung vom 30. Juni 1988, beim Gerichtshof eingegangen am 16. Februar 1989, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag eine Frage nach der Auslegung des Artikels 54 Absatz 3 Buchstabe g EWG-Vertrag und der vierten Richtlinie des Rates vom 25. Juli 1978 über den Jahresabschluß von Gesellschaften bestimmter Rechtsformen ( 78/660/EWG; ABl. L 222, S. 11, nachstehend : Vierte Richtlinie ) zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Frage stellt sich in einem Strafverfahren gegen Herrn Blangürnon, Finanzdirektor der Gesellschaft mit beschränkter Haftung PAKEM. Herr Blangürnon wird beschuldigt, den Jahresabschluß dieser Gesellschaft nicht in dem Monat bei der Geschäftsstelle des Tribunal de commerce Chambéry hinterlegt zu haben, der auf die Billigung durch die Hauptversammlung der Gesellschafter folgte.

3 Diese Unterlassung ist nach den französischen Rechtsvorschriften über die Rechnungslegungspflichten der Kaufleute und bestimmter Gesellschaften strafbar. Diese Vorschriften sind zur Umsetzung der auf Artikel 54 Absatz 3 Buchstabe g EWG-Vertrag beruhenden Vierten Richtlinie in das französische Recht ergangen. Nach diesem Artikel sind Richtlinien zu erlassen, durch die, soweit erforderlich, die Schutzbestimmungen koordiniert werden, die in den Mitgliedstaaten den Gesellschaften im Sinne von Artikel 58 Absatz 2 EWG-Vertrag im Interesse der Gesellschafter sowie Dritter vorgeschrieben sind, um diese Bestimmungen gleichwertig zu gestalten.

4 Herr Blangürnon hat vor dem nationalen Gericht geltend gemacht, daß die französischen Gesellschaften durch die Anwendung der französischen Rechtsvorschriften über die Rechnungslegungspflichten rechtlich benachteiligt würden, da sie ihre Abschlüsse zu veröffentlichen hätten, während für ihre Konkurrenten in anderen Mitgliedstaaten keine derartigen Verpflichtungen bestuenden. Einige Mitgliedstaaten hätten nämlich keine Maßnahmen zur Durchführung der Vierten Richtlinie getroffen.

5 In Anbetracht dieses Vorbringens hat das Tribunal de police Aix-les-Bains das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt :

"Ist es nach Buchstaben und Geist des Artikels 54 Absatz 3 Buchstabe g EWG-Vertrag und der Vierten Richtlinie des Rates vom 25. Juli 1978 zulässig, daß aufgrund dieser Bestimmungen erlassene innerstaatliche Rechtsvorschriften individuell in Kraft treten, solange nicht alle Mitgliedstaaten gleichwertige Rechtsvorschriften erlassen haben, was notwendige Voraussetzung für die mit der Vierten Richtlinie beabsichtigte gleichzeitige Koordinierung ist?"

6 Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts des Ausgangsverfahrens, des Verfahrensablaufs und der beim Gerichtshof eingereichten schriftlichen Erklärungen wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt ist im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.

7 Nach ständiger Rechtsprechung kann ein Mitgliedstaat die Nichterfuellung der ihm nach dem EWG-Vertrag obliegenden Verpflichtungen nicht unter Berufung darauf rechtfertigen, andere Mitgliedstaaten kämen ihren Verpflichtungen ebenfalls nicht nach ( vgl. insbesondere das Urteil vom 26. Februar 1976 in der Rechtssache 52/75, Kommission/Italienische Republik, Slg. 1976, 277 ). In der durch den EWG-Vertrag geschaffenen Rechtsordnung können die Mitgliedstaaten nämlich die Durchführung des Gemeinschaftsrechts nicht an eine Bedingung der Gegenseitigkeit knüpfen. In den Artikeln 169 und 170 EWG-Vertrag sind die geeigneten Rechtsbehelfe für den Fall vorgesehen, daß Mitgliedstaaten gegen ihre Vertragspflichten verstossen.

8 Die zur Durchführung einer gemeinschaftsrechtlichen Richtlinie erlassenen Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats sind folglich auch dann in vollem Umfang anzuwenden, wenn die betreffende Richtlinie in anderen Mitgliedstaaten noch nicht umgesetzt und wirksam geworden ist.

9 Dies gilt auch für die innerstaatlichen Rechtsvorschriften, durch die die aufgrund von Artikel 54 Absatz 3 Buchstabe g EWG-Vertrag ergangene Vierte Richtlinie durchgeführt wird. Wenn in dieser Richtlinie und diesem Artikel von der Gleichwertigkeit der in den Mitgliedstaaten im Interesse der Gesellschafter und Dritter vorgeschriebenen Schutzbestimmungen die Rede ist, so wird damit der Grad der angestrebten Harmonisierung genannt. Aus dieser Zielsetzung lässt sich daher nicht ableiten, daß die Anwendbarkeit der Maßnahmen zur Durchführung der Vierten Richtlinie in einem Mitgliedstaat vom Erlaß gleichwertiger Maßnahmen in allen übrigen Mitgliedstaaten abhängt.

10 Auf die Vorlagefrage ist somit zu antworten, daß Artikel 54 Absatz 3 Buchstabe g EWG-Vertrag und die Vierte Richtlinie ( 78/660/EWG ) des Rates vom 25. Juli 1978 über den Jahresabschluß von Gesellschaften bestimmter Rechtsformen dahin auszulegen sind, daß die zur Durchführung dieser Richtlinie erlassenen Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten auch dann in Kraft gesetzt und angewendet werden müssen, wenn andere Mitgliedstaaten noch keine Maßnahmen zur Durchführung der Richtlinie getroffen haben.

Kostenentscheidung:

Kosten

11 Die Auslagen der französischen Regierung und der Kommission, die Erklärungen vor dem Gerichtshof abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF ( Vierte Kammer )

auf die ihm vom Tribunal de police Aix-les-Bains mit Entscheidung vom 30. Juni 1988 vorgelegte Frage für Recht erkannt :

Artikel 54 Absatz 3 Buchstabe g EWG-Vertrag und die Vierte Richtlinie ( 78/660/EWG ) des Rates vom 25. Juli 1978 über den Jahresabschluß von Gesellschaften bestimmter Rechtsformen sind dahin auszulegen, daß die zur Durchführung dieser Richtlinie erlassenen Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten auch dann in Kraft gesetzt und angewendet werden müssen, wenn andere Mitgliedstaaten noch keine Maßnahmen zur Durchführung der Richtlinie getroffen haben.

Ende der Entscheidung

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