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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 24.03.1992
Aktenzeichen: C-381/89
Rechtsgebiete: Zweite Richtlinie 77/91/EWG, EWGV


Vorschriften:

Zweite Richtlinie 77/91/EWG Art. 25 Abs. 1
Zweite Richtlinie 77/91/EWG Art. 29 Abs. 1
EWGV Art. 58 Abs. 2
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Der einzelne kann sich vor den staatlichen Gerichten den öffentlichen Stellen gegenüber auf die Artikel 25 Absatz 1 und 29 Absatz 1 der Zweiten Richtlinie zur Koordinierung der Schutzbestimmungen, die in den Mitgliedstaaten den Gesellschaften im Sinne des Artikels 58 Absatz 2 des Vertrages im Interesse der Gesellschafter sowie Dritter für die Gründung der Aktiengesellschaft sowie für die Erhaltung und Änderung ihres Kapitals vorgeschrieben sind, um diese Bestimmungen gleichwertig zu gestalten (77/91), berufen.

Diese Bestimmungen sind dahin auszulegen, daß sie der Anwendung einer Regelung entgegenstehen, die es zur Sicherung der Sanierung und der Fortsetzung des Betriebs von Unternehmen, die für die Volkswirtschaft von besonderer Bedeutung sind und die sich wegen ihrer Verschuldung in einer aussergewöhnlichen Situation befinden, erlaubt, die Erhöhung des Grundkapitals durch Verwaltungsakt und ohne Beschluß der Hauptversammlung zu beschließen sowie durch Verwaltungsakt die Zuteilung der neuen Aktien zu beschließen, ohne daß diese vorzugsweise den Aktionären im Verhältnis zu dem durch ihre Aktien vertretenen Teil des Kapitals angeboten werden.


URTEIL DES GERICHTSHOFES VOM 24. MAERZ 1992. - SYNDESMOS MELON TIS ELEFTHERAS EVANGELIKIS EKKLISSIAS UND ANDERE GEGEN GRIECHISCHER STAAT UND ANDERE. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: POLYMELES PROTODIKEIO ATHINON - GRIECHENLAND. - GESELLSCHAFTSRECHT - UNMITTELBARE WIRKUNG - VORRANG DES GEMEINSCHAFTSRECHTS. - RECHTSSACHE C-381/89.

Entscheidungsgründe:

1 Das Polymeles Protodikeio Athen hat mit Urteil vom 2. Oktober 1989, beim Gerichtshof eingegangen am 21. Dezember 1989, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag zwei Fragen nach der Auslegung der Artikel 25 und 29 der Zweiten Richtlinie des Rates vom 13. Dezember 1976 zur Koordinierung der Schutzbestimmungen, die in den Mitgliedstaaten den Gesellschaften im Sinne des Artikels 58 Absatz 2 des Vertrages im Interesse der Gesellschafter sowie Dritter für die Gründung der Aktiengesellschaft sowie für die Erhaltung und Änderung ihres Kapitals vorgeschrieben sind, um diese Bestimmungen gleichwertig zu gestalten (77/91/EWG; ABl. 1977, L 26, S. 1; im folgenden: Zweite Richtlinie), zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Fragen stellen sich in einem Rechtsstreit zwischen bestimmten Aktionären der Elliniki Parketoviomichania Afoi Sotiropouloi Ä (im folgenden: EPAS) einerseits und dem griechischen Staat, der Organismos Anasygkrotiseos Epicheiriseon Ä (Anstalt für Unternehmensneuordnung; im folgenden: OÄ), der EPAS und mehreren Banken andererseits. In diesem Rechtsstreit geht es um die Erhöhungen des Grundkapitals der EPAS, die nach der im griechischen Gesetz Nr. 1386 vom 5. August 1983 (Amtsblatt der Griechischen Republik A, 107, vom 8. August 1983, S. 14) vorgesehenen Regelung durchgeführt wurden, der die EPAS durch Entscheidung des griechischen Wirtschaftsministers vom 26. November 1984 (Ministerialverfügung Nr. 1406, Amtsblatt der Griechischen Republik B, 839, vom 27. November 1984, S. 7697) unterstellt wurde.

3 Der OÄ ist eine durch das Gesetz Nr. 1386/1983 geschaffene Einrichtung der Staatswirtschaft. Er hat die Form einer Aktiengesellschaft und wird im öffentlichen Interesse unter staatlicher Aufsicht tätig. Nach Artikel 2 Absatz 2 des Gesetzes besteht der Zweck des OÄ darin, durch die finanzielle Sanierung von Unternehmen, die Einfuhr und die Anwendung von ausländischem Know-how, die Entwicklung von einheimischem Know-how sowie die Gründung und den Betrieb von verstaatlichten oder gemischtwirtschaftlichen Unternehmen zur wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung des Landes beizutragen.

4 In Artikel 2 Absatz 3 des Gesetzes Nr. 1386/1983 werden die Befugnisse aufgezählt, die dem OÄ zur Erreichung dieser Ziele eingeräumt werden. So kann er die Verwaltung und die laufende Geschäftsführung von Unternehmen übernehmen, die gerade saniert werden oder verstaatlicht sind, sich am Kapital von Unternehmen beteiligen, Darlehen gewähren und bestimmte Anleihen begeben oder aufnehmen, Schuldverschreibungen erwerben sowie Aktien übertragen, insbesondere an Arbeitnehmer oder ihre Interessenvertretungen, an Gebietskörperschaften oder an andere juristische Personen des öffentlichen Rechts, an gemeinnützige Einrichtungen, soziale Körperschaften oder an Privatpersonen.

5 Nach Artikel 5 Absatz 1 des Gesetzes Nr. 1386/1983 kann der Wirtschaftsminister beschließen, Unternehmen, die sich in ernsten finanziellen Schwierigkeiten befinden, der Regelung des Gesetzes zu unterstellen.

6 Nach Artikel 7 des Gesetzes Nr. 1386/1983 kann der zuständige Minister beschließen, dem OÄ die Geschäftsführung des der Regelung dieses Gesetzes unterstellten Unternehmens zu übertragen, dessen Schulden so zu regeln, daß seine Lebensfähigkeit gesichert ist, oder seine Abwicklung vorzunehmen.

7 Artikel 8 des Gesetzes Nr. 1386/1983 enthält die Bestimmungen über die Übertragung der Geschäftsführung des Unternehmens auf den OÄ. Artikel 8 Absatz 1 in der Fassung des Gesetzes Nr. 1472/1984 (Amtsblatt der Griechischen Republik A, 112, vom 6. August 1984, S. 1273) legt die Übertragungsmodalitäten fest und regelt die Beziehungen zwischen den mit der Geschäftsführung betrauten Personen, die vom OÄ und von den Organen des Unternehmens benannt werden. So ist vorgesehen, daß mit der Veröffentlichung der ministeriellen Entscheidung, das Unternehmen der Regelung des Gesetzes zu unterstellen, die Befugnisse der Geschäftsführungsorgane des Unternehmens enden und daß die Hauptversammlung zwar fortbesteht, aber die vom OÄ benannten Mitglieder der Geschäftsführung nicht abberufen kann.

8 Nach Artikel 8 Absatz 8 des Gesetzes Nr. 1386/1983 kann der OÄ während seiner zeitweiligen Geschäftsführung der betreffenden Gesellschaft abweichend von den geltenden Bestimmungen über die Aktiengesellschaften beschließen, das Grundkapital dieser Gesellschaft zu erhöhen. Die Kapitalerhöhung muß vom zuständigen Minister genehmigt werden. Die bisherigen Aktionäre behalten ihr Bezugsrecht, das sie innerhalb einer in der ministeriellen Genehmigungsentscheidung festgesetzten Frist ausüben können.

9 Auch Artikel 10 des Gesetzes Nr. 1386/1983 bezieht sich auf die Erhöhung des Grundkapitals. Im Gegensatz zu den in Artikel 8 Absatz 8 vorgesehenen Maßnahmen stehen diejenigen des Artikels 10 aber nicht im Zusammenhang mit der zeitweiligen Geschäftsführung des OÄ. Die in Artikel 10 vorgesehene Kapitalerhöhung ist eine endgültige Sanierungsmaßnahme.

10 Nach dieser Vorschrift kann der zuständige Minister in den in den Artikeln 7 und 8 Absatz 5 des Gesetzes ygenannten Fällen beschließen, das Grundkapital zu erhöhen oder die Schulden des Unternehmens gegenüber dem Staat oder anderen öffentlichen Einrichtungen und Unternehmen in Aktienkapital umzuwandeln. Artikel 10 räumt den bisherigen Aktionären kein Bezugsrecht für die neuen Aktien ein.

11 Aufgrund der genannten Ministerialverfügung Nr. 1406 vom 26. November 1984, durch die die EPAS auf ihren Antrag der Regelung des Gesetzes Nr. 1386/1983 unterstellt wurde, übernahm der OÄ die Geschäftsführung dieser Gesellschaft und beschloß am 26. März 1986, ihr Grundkapital um 650 000 000 DR zu erhöhen. Diese Entscheidung wurde gemäß Artikel 8 Absatz 8 des Gesetzes Nr. 1386/1983 vom Staatssekretär für Industrie, Energie und Technologie mit Verfügung Nr. 98 vom 28. März 1986 (Amtsblatt der Griechischen Republik B, 143, vom 3. April 1986, S. 1615) genehmigt.

12 Diese Verfügung sah für die bisherigen Aktionäre ein unbeschränktes Bezugsrecht vor, das sie durch schriftliche Erklärung innerhalb eines Monats nach der Veröffentlichung der Verfügung im Amtsblatt der Griechischen Republik ausüben mussten. Da kein Aktionär von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht hatte, erwarb der OÄ die neuen Aktien, so daß er nunmehr 68,64 % des Grundkapitals von 947 000 000 DR besaß.

13 Gegen Ende 1986 wurde im Anschluß an Verhandlungen zwischen den Gläubigern, dem OÄ und den übrigen Aktionären der EPAS beschlossen, die Gesellschaft weiterbestehen zu lassen und die zeitweilige Geschäftsführung sowie die Aussetzung der Begleichung ihrer Schulden zu beenden. Die vom Staatssekretär für Industrie, Energie und Technologie mit Verfügung Nr. 15 vom 9. Januar 1987 (Amtsblatt der Griechischen Republik B, 25, vom 16. Januar 1987, S. 210) genehmigte Vereinbarung sah eine Herabsetzung des Grundkapitals der Gesellschaft von 947 000 000 DR auf das vorgeschriebene Mindestkapital von 5 000 000 DR sowie eine anschließende Kapitalerhöhung vor, mit der das Grundkapital auf 6 062 660 000 DR aufgestockt werden sollte.

14 Diese Kapitalerhöhung wurde vom zuständigen Minister nach Artikel 10 Absatz 1 des Gesetzes Nr. 1386/1983 verfügt und durch Umwandlung eines Teils der Schulden der EPAS gegenüber dem griechischen Staat, den Banken, dem staatlichen Elektrizitätsunternehmen und bestimmten Sozialversicherungskassen in Kapital sowie durch eine neue Kapitaleinlage des OÄ bewirkt. Das neue Grundkapital wurde auf die Banken und den OÄ aufgeteilt, die damit die Mehrheit der Aktien halten.

15 Die Kläger des Ausgangsverfahrens, die nur noch geringfügig an der EPAS beteiligt sind, fochten die genannten Kapitalerhöhungen der EPAS sowie die Aufteilung der Aktien auf die Banken und den OÄ vor dem Polymeles Protodikeio Athen an. Sie vertreten insbesondere die Auffassung, daß diese Kapitalerhöhungen gegen die Zweite Richtlinie verstießen.

16 Unter diesen Umständen hat das Polymeles Protodikeio das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1) Sind die Zweite Gemeinschaftsrichtlinie über das Gesellschaftsrecht (Richtlinie 77/91 vom 13. Dezember 1976) und insbesondere die Vorschriften der Richtlinie über die Erhaltung und die Änderung des Kapitals von Aktiengesellschaften (Artikel 25 bis 29) seit dem 1. Januar 1981 im griechischen Staat in dem Sinne unmittelbar anwendbar, daß die griechischen Gerichte zur Anwendung dieser Vorschriften in den von ihnen zu entscheidenden Rechtsstreitigkeiten verpflichtet sind?

2) Haben die obengenannten Vorschriften Vorrang vor entgegenstehenden Vorschriften des Gesetzes Nr. 1386/1983, die von den übrigen Vorschriften des innerstaatlichen griechischen Rechts abweichen, durch die entsprechende Fragen der Aktiengesellschaften geregelt werden, und zwar deshalb, weil dieses Gesetz, durch das der Beklagte zu 2, der Organismos Anasygkrotiseos Epicheiriseon, geschaffen wurde, der im öffentlichen Interesse unter der Aufsicht des Staates tätig ist, am 8. August 1983 mit dem Hauptziel der wirtschaftlichen Sanierung von Unternehmen in Kraft gesetzt wurde?

17 Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts des Ausgangsverfahrens, der anwendbaren Rechtsvorschriften und der beim Gerichtshof eingereichten Erklärungen wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt wird im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.

18 Zunächst ist festzustellen, daß bestimmte Argumente, die die Parteien des Ausgangsverfahrens vor dem Gerichtshof vorgetragen haben, Probleme betreffen, die nicht in den wiedergegebenen Vorlagefragen enthalten sind. Es geht dabei insbesondere um die Frage, ob für einen einzelnen, der sich vor dem nationalen Gericht auf Rechte aus einer Vorschrift des Gemeinschaftsrechts beruft, ein allgemeiner Rechtsgrundsatz des Inhalts gilt, daß die einzelnen ein berechtigtes Interesse an der Berufung auf eine Rechtsvorschrift haben müssen, weil ihr Verlangen sonst einen Rechtsmißbrauch darstellen würde, und ob die Gemeinschaft eine Gesetzgebungszuständigkeit auf dem Gebiet des Konkursrechts und des Rechts anderer kollektiver Verfahren zur Gläubigerbefriedigung besitzt.

19 Dazu ist zu bemerken, daß es nach der in Artikel 177 im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens vorgenommenen Zuständigkeitsverteilung allein Sache des nationalen Gerichts ist, die Erheblichkeit derartiger Argumente zu beurteilen und gegebenenfalls den Gerichtshof erneut anzurufen, wenn es der Ansicht ist, daß es zum Erlaß seines Urteils zusätzliche Kriterien für die Auslegung des Gemeinschaftsrechts benötigt (vgl. u. a. Urteil vom 3. Oktober 1985 in der Rechtssache 311/84, CBEM, Slg. 1985, 3261, Randnr. 10). Der Gerichtshof hat daher die genannten Argumente nicht zu prüfen.

20 Sodann ist festzustellen, daß das vorlegende Gericht mit seinen Vorlagefragen im wesentlichen wissen möchte, ob die Bestimmungen der Zweiten Richtlinie Erhöhungen des Grundkapitals einer Gesellschaft entgegenstehen, die unter der Geltung eines Gesetzes, das die wirtschaftliche Sanierung von Unternehmen ermöglichen soll, vorgenommen worden sind, ohne daß die Kapitalerhöhungen von der Hauptversammlung genehmigt wurden und ohne daß den bisherigen Aktionären ein Bezugsrecht angeboten wurde.

21 In diesem Zusammenhang fragt das Gericht zunächst, ob die Artikel 25 Absatz 1 und 29 Absatz 1 dieser Richtlinie unmittelbare Wirkung entfalten. Sodann stellt es die Frage, ob diese Bestimmungen vor einem Gesetz zur Umstrukturierung und Sanierung von Unternehmen wie dem Gesetz Nr. 1386/1983 Vorrang haben.

22 Aus dem Vorlageurteil geht hervor, daß sich diese zweite Frage nicht auf den Grundsatz des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts als solchen bezieht. Das vorlegende Gericht führt nämlich aus, daß das primäre und das abgeleitete Gemeinschaftsrecht Bestandteil des nationalen griechischen Rechts seien und jeder entgegenstehenden Rechtsvorschrift vorgingen. Mit seiner zweiten Frage möchte das Gericht vielmehr wissen, ob die Bestimmungen der Richtlinie in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens anwendbar sind, in dem es um die wirtschaftliche Sanierung eines Unternehmens durch eine Einrichtung des öffentlichen Interesses wie den OÄ geht.

23 Die letztgenannte Frage ist zuerst zu beantworten. Stellt sich nämlich heraus, daß die Richtlinie nicht auf ein spezielles Verfahren zur Unternehmenssanierung wie das, um das es im Ausgangsverfahren geht, anwendbar ist, so stellt sich das mit der ersten Vorlagefrage aufgeworfene Problem der unmittelbaren Wirkung der Artikel 25 Absatz 1 und 29 Absatz 1 nicht mehr.

Zum Anwendungsbereich der Zweiten Richtlinie

24 Die Kläger des Ausgangsverfahrens haben in ihren Erklärungen vor dem Gerichtshof geltend gemacht, die Zweite Richtlinie sei auf staatliche Maßnahmen wie die im Gesetz Nr. 1386/1983 vorgesehenen, die die Sanierung oder die Abwicklung von Unternehmen beträfen, nicht anwendbar.

25 Zunächst ist das Vorbringen des OÄ zu prüfen. Seiner Ansicht nach ist die Zweite Richtlinie auf den Fall des Ausgangsverfahrens nicht anwendbar, da sie ein anderes Rechtsgebiet als das im Gesetz Nr. 1386/1983 geregelte betreffe. Der OÄ macht insbesondere geltend, die Zweite Richtlinie gehöre zum Gesellschaftsrecht, während eine nationale Regelung wie die im Gesetz Nr. 1386/1983 vorgesehene zum Recht der Sanierung und Umorganisation von Unternehmen gehöre und mit den Kollektivverfahren zur Gläubigerbefriedigung wie dem Konkursverfahren verwandt sei. Eine solche Regelung betreffe nicht das normale Funktionieren einer Gesellschaft und die Beziehungen zwischen Aktionären, sondern bezwecke die Befriedigung der Interessen der Gläubiger durch Maßnahmen der Kollektivvollstreckung.

26 Insoweit ist darauf hinzuweisen, daß der Gerichtshof ein solches Vorbringen im Urteil vom 30. Mai 1991 in den verbundenen Rechtssachen C-19/90 und C-20/90 (Karella und Karellas, Slg. 1991, I-2691) ausdrücklich zurückgewiesen hat.

27 Wie der Gerichtshof nämlich in Randnummer 30 dieses Urteils ausgeführt hat, soll die Zweite Richtlinie sicherstellen, daß insbesondere bei den Vorgängen der Gründung einer Gesellschaft sowie der Erhöhung und der Herabsetzung ihres Kapitals die Rechte der Gesellschafter und Dritter gewahrt werden. Diese Sicherheit ist nur wirksam, wenn sie den Gesellschaftern so lange gewährt wird, wie die Gesellschaft mit ihren eigenen Strukturen fortbesteht. Die Richtlinie steht zwar nicht der Einführung von Zwangsvollstreckungsmaßnahmen und insbesondere von Abwicklungsregelungen entgegen, die die Gesellschaft zum Schutz der Rechte der Gläubiger einer Zwangsverwaltungsregelung unterstellen, sie findet jedoch so lange weiter Anwendung, wie den Aktionären und den satzungsmässigen Organen der Gesellschaft nicht ihre Rechte entzogen werden. Das ist mit Sicherheit bei einer blossen Sanierungsregelung mit Beteiligung öffentlicher Einrichtungen oder privatrechtlicher Gesellschaften der Fall, wenn das Recht der Gesellschafter am Kapital und auf Teilhabe an der Entscheidungsgewalt in der Gesellschaft in Frage steht.

28 Folglich ist die Zweite Richtlinie anwendbar, solange die Gesellschaft mit ihren eigenen Strukturen fortbesteht, auch wenn diese einer Umstrukturierungsregelung wie der des Gesetzes Nr. 1386/1983 unterstellt worden ist.

29 Ausserdem ist festzustellen, daß, auch wenn die zeitweilige Geschäftsführung des OÄ zu dem besonderen Abwicklungsverfahren nach Artikel 9 des Gesetzes Nr. 1386/1983 führen kann, die Abwicklung von Gesellschaften über Zwangsvollstreckungsmaßnahmen nicht zu den Zielen des OÄ gehört, wie sie in Artikel 2 Absatz 2 dieses Gesetzes aufgeführt sind. Vielmehr ist (in Buchstabe a) ausdrücklich vorgesehen, daß es das Ziel des OÄ ist, durch die finanzielle Sanierung der Unternehmen nach den Bestimmungen des Gesetzes zur wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung des Landes beizutragen.

30 Sodann sind die Argumente der übrigen Beklagten des Ausgangsverfahrens zu prüfen. Diese tragen vor, die Zweite Richtlinie betreffe nicht die im Gesetz Nr. 1386/1983 genannten Ausnahmesituationen. Dieses Gesetz regele die Kapitalerhöhung der Aktiengesellschaften nicht auf Dauer, sondern sehe spezielle Maßnahmen vor, um das Überleben von Unternehmen zu sichern, die wegen ihrer Überschuldung nicht mehr normal funktionieren könnten und die für die Volkswirtschaft von besonderer Bedeutung seien. Ausserdem seien diese speziellen Maßnahmen notwendig, um soziale Unruhen aufgrund von Massenentlassungen zu verhindern.

31 Zunächst ist darauf hinzuweisen, daß der Gerichtshof im Urteil vom 30. Mai 1991, a. a. O., insbesondere in Randnummern 25 bis 28, auch ein solches Vorbringen zurückgewiesen hat.

32 Nach diesem Urteil bezweckt die Zweite Richtlinie gemäß Artikel 54 Absatz 3 Buchstabe g EWG-Vertrag, die Schutzbestimmungen, die in den Mitgliedstaaten den Gesellschaften im Sinne des Artikels 58 Absatz 2 EWG-Vertrag vorgeschrieben sind, zu koordinieren, um diese Schutzbestimmungen gleichwertig zu gestalten und die Interessen der Gesellschafter und Dritter zu wahren. Somit soll die Zweite Richtlinie in allen Mitgliedstaaten ein Mindestmaß an Schutz für die Aktionäre gewährleisten.

33 Dieses Ziel wäre ernstlich in Frage gestellt, wenn die Mitgliedstaaten von den Bestimmungen der Richtlinie abweichen könnten, indem sie Regelungen - auch wenn sie als Sonder- oder Ausnahmeregelungen bezeichnet werden - beibehalten, die es erlauben, durch eine Verwaltungsmaßnahme, ohne irgendeinen Beschluß der Hauptversammlung der Aktionäre eine Erhöhung des Grundkapitals zu beschließen, und die diesen kein Bezugsrecht für die auszugebenden Aktien sichern.

34 Diese Feststellung bedeutet jedoch nicht, daß das Gemeinschaftsrecht die Mitgliedstaaten unter allen Umständen daran hindert, von diesen Bestimmungen abzuweichen. Der Gemeinschaftsgesetzgeber hat nämlich ausdrücklich begrenzte Abweichungen oder Verfahren, die zu solchen Abweichungen führen können, vorgesehen, um bestimmte lebenswichtige Belange der Mitgliedstaaten zu schützen, die in aussergewöhnlichen Situationen beeinträchtigt werden könnten. Zu nennen sind hier etwa die Artikel 19 Absätze 2 und 3, 40 Absatz 2, 41 Absatz 2 und 43 Absatz 2 der Richtlinie.

35 Insoweit ist festzustellen, daß weder im EWG-Vertrag noch in der Zweiten Richtlinie selbst eine Bestimmung vorgesehen ist, die es den Mitgliedstaaten erlaubt, in Krisensituationen von den Artikeln 25 Absatz 1 und 29 Absatz 1 der Zweiten Richtlinie abzuweichen. Im Gegenteil sieht Artikel 17 Absatz 1 der Richtlinie ausdrücklich vor, daß bei schweren Verlusten des gezeichneten Kapitals die Hauptversammlung innerhalb einer durch die Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten zu bestimmenden Frist einberufen werden muß, um zu prüfen, ob die Gesellschaft aufzulösen ist oder andere Maßnahmen zu ergreifen sind. Diese Bestimmung bestätigt somit die in Artikel 25 Absatz 1 vorgesehene Entscheidungszuständigkeit der Hauptversammlung auch für den Fall, daß sich die betreffende Gesellschaft in ernsten finanziellen Schwierigkeiten befindet, und lässt Abweichungen von dem in Artikel 29 Absatz 1 vorgesehenen Bezugsrecht der Aktionäre keineswegs zu.

36 Infolgedessen sind die Bestimmungen der Zweiten Richtlinie, insbesondere die Artikel 25 Absatz 1 und 29 Absatz 1, auf Maßnahmen zur Sanierung von Unternehmen wie die im Gesetz Nr. 1386/1983 vorgesehenen anwendbar.

37 Daher ist dem vorlegenden Gericht zu antworten, daß die Artikel 25 Absatz 1 und 29 Absatz 1 der Zweiten Richtlinie dahin auszulegen sind, daß sie der Anwendung einer Regelung entgegenstehen, die es zur Sicherung der Sanierung und der Fortsetzung des Betriebs von Unternehmen, die für die Volkswirtschaft eines Mitgliedstaats von besonderer Bedeutung sind und die sich wegen ihrer Verschuldung in einer aussergewöhnlichen Situation befinden, erlaubt, die Erhöhung des Grundkapitals durch Verwaltungsakt und ohne Beschluß der Hauptversammlung zu beschließen sowie durch Verwaltungsakt die Zuteilung der neuen Aktien zu beschließen, ohne daß diese vorzugsweise den Aktionären im Verhältnis zu dem durch ihre Aktien vertretenen Teil des Kapitals angeboten werden.

Zur unmittelbaren Wirkung der Artikel 25 Absatz 1 und 29 Absatz 1 der Zweiten Richtlinie

38 Wie der Gerichtshof im Urteil vom 30. Mai 1991, a. a. O., ausgeführt hat, kann sich der einzelne vor den staatlichen Gerichten den öffentlichen Stellen gegenüber auf Artikel 25 Absatz 1 der Richtlinie berufen.

39 Zu Artikel 29 Absatz 1 der Richtlinie ist festzustellen, daß diese Bestimmung klar und genau formuliert ist und daß sie, ohne insoweit Bedingungen vorzusehen, festlegt, daß bei jeder Erhöhung des gezeichneten Kapitals durch Bareinlagen die Aktien vorzugsweise den Aktionären im Verhältnis zu dem durch ihre Aktien vertretenen Teil des Kapitals angeboten werden müssen.

40 Die Unbedingtheit dieser Bestimmung wird durch Artikel 29 Absatz 4 der Zweiten Richtlinie nicht berührt. Dieser Absatz erlaubt es der Hauptversammlung unter bestimmten, genau festgelegten Voraussetzungen, das Bezugsrecht der Aktionäre auszuschließen oder zu beschränken. Diese punktülle Abweichungsbestimmung lässt den Mitgliedstaaten keine Möglichkeit, andere Ausnahmen von diesem Recht als die ausdrücklich vorgesehene einzuführen.

41 Die gleiche Feststellung gilt für Artikel 29 Absatz 5 der Zweiten Richtlinie, wonach die Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats vorsehen können, daß die Satzung, der Errichtungsakt oder die Hauptversammlung dem Organ der Gesellschaft, das die Erhöhung des gezeichneten Kapitals innerhalb der Grenzen des genehmigten Kapitals beschließen kann, die Befugnis einräumen kann, das Bezugsrecht auszuschließen oder zu beschränken.

42 Gleiches gilt für Artikel 41 Absatz 1 der Zweiten Richtlinie, wonach die Mitgliedstaaten von Artikel 29 abweichen können, soweit dies zur Förderung der Beteiligung der Arbeitnehmer oder anderer durch einzelstaatliches Recht festgelegter Gruppen von Personen am Kapital der Unternehmen erforderlich ist. Auch diese Abweichungsbestimmung ist strikt auf den vorgesehenen Fall beschränkt.

43 Somit ist dem vorlegenden Gericht zu antworten, daß sich der einzelne vor den staatlichen Gerichten den öffentlichen Stellen gegenüber sowohl auf Artikel 25 Absatz 1 als auch auf Artikel 29 Absatz 1 der Zweiten Richtlinie berufen kann.

Kostenentscheidung:

Kosten

44 Die Auslagen der griechischen Regierung und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die Erklärungen vor dem Gerichtshof abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

auf die ihm vom Polymeles Protodikeio Athen mit Urteil vom 2. Oktober 1989 vorgelegten Fragen für Recht erkannt:

Die Artikel 25 Absatz 1 und 29 Absatz 1 der Zweiten Richtlinie 77/91/EWG des Rates vom 13. Dezember 1976 zur Koordinierung der Schutzbestimmungen, die in den Mitgliedstaaten den Gesellschaften im Sinne des Artikels 58 Absatz 2 des Vertrages im Interesse der Gesellschafter sowie Dritter für die Gründung der Aktiengesellschaft sowie für die Erhaltung und Änderung ihres Kapitals vorgeschrieben sind, um diese Bestimmungen gleichwertig zu gestalten, sind dahin auszulegen, daß

1) sie der Anwendung einer Regelung entgegenstehen, die es zur Sicherung der Sanierung und der Fortsetzung des Betriebs von Unternehmen, die für die Volkswirtschaft eines Mitgliedstaats von besonderer Bedeutung sind und die sich wegen ihrer Verschuldung in einer aussergewöhnlichen Situation befinden, erlaubt, die Erhöhung des Grundkapitals durch Verwaltungsakt und ohne Beschluß der Hauptversammlung zu beschließen sowie durch Verwaltungsakt die Zuteilung der neuen Aktien zu beschließen, ohne daß diese vorzugsweise den Aktionären im Verhältnis zu dem durch ihre Aktien vertretenen Teil des Kapitals angeboten werden;

2) sich der einzelne vor den staatlichen Gerichten den öffentlichen Stellen gegenüber auf sie berufen kann.

Ende der Entscheidung

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