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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 08.06.1994
Aktenzeichen: C-383/92
Rechtsgebiete: BetrVG, RL 75/129, EWGVtr


Vorschriften:

BetrVG § 102
RL 75/129
EWGVtr Art. 100
EWGVtr Art. 5
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

1. Trotz der Begrenztheit der von der Richtlinie 75/129 angestrebten Harmonisierung der Vorschriften über Massenentlassungen stellt eine nationale Regelung, die kein Verfahren zur Bestellung der Vertreter der Arbeitnehmer in einem Unternehmen vorgesehen hat, wenn der Arbeitgeber solche Vertreter nicht anerkennt, und damit dem Arbeitgeber die Möglichkeit lässt, den zugunsten der Arbeitnehmer in den Artikeln 2 und 3 der Richtlinie 75/129 vorgesehenen Schutz zu umgehen, einen Verstoß gegen diese Richtlinie dar.

2. Die Richtlinie 75/129 gilt nach ihrem Artikel 1 Absatz 1 Buchstabe a für Massenentlassungen, worunter Entlassungen aus einem oder mehreren Gründen, die nicht in der Person der Arbeitnehmer liegen, einschließlich der Entlassungen infolge einer Neuordnung des Unternehmens, die in keinerlei Beziehung zu dessen Geschäftsvolumen steht, zu verstehen sind.

Der Geltungsbereich der Richtlinie 75/129 kann daher nicht auf Entlassungen aus wirtschaftlichen Gründen beschränkt werden, d. h. auf Entlassungen, die nach ihrer Definition durch die Einstellung oder Einschränkung des Betriebs des Unternehmens und durch eine Abnahme der Nachfrage nach einer besonderen Art von Arbeiten bedingt sind.

3. Eine nationale Regelung, die den Arbeitgeber lediglich dazu verpflichtet, die Gewerkschaftsvertreter wegen der beabsichtigten Massenentlassungen zu konsultieren, deren Vorbringen "zu berücksichtigen", dazu Stellung zu nehmen und im Falle der Ablehnung "dies zu begründen", während Artikel 2 Absatz 1 der Richtlinie die Verpflichtung enthält, die Vertreter zu konsultieren, "um zu einer Einigung zu gelangen", und sich die Konsultationen nach Artikel 2 Absatz 2 der Richtlinie "zumindest auf die Möglichkeit" erstrecken müssen, "Massenentlassungen zu vermeiden oder einzuschränken sowie ihre Folge zu mildern", stellt keine ordnungsgemässe Umsetzung der Richtlinie 75/129 über Massenentlassungen dar.

4. Enthält eine gemeinschaftsrechtliche Richtlinie keine besondere Sanktion für den Fall eines Verstosses gegen ihre Vorschriften oder verweist sie insoweit auf die nationalen Rechts- und Verwaltungsvorschriften, so sind die Mitgliedstaaten nach Artikel 5 EWG-Vertrag verpflichtet, alle geeigneten Maßnahmen zu treffen, um die Geltung und die Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts zu gewährleisten. Dabei müssen die Mitgliedstaaten, denen allerdings die Wahl der Sanktionen verbleibt, darauf achten, daß die Verstösse gegen das Gemeinschaftsrecht nach sachlichen und verfahrensrechtlichen Regeln geahndet werden, die denjenigen entsprechen, die für nach Art und Schwere gleichartige Verstösse gegen nationales Recht gelten, wobei die Sanktion jedenfalls wirksam, verhältnismässig und abschreckend sein muß.

Eine Entschädigung, die teilweise mit verschiedenen Beträgen zusammenfällt, deren Zahlung ein Arbeitnehmer aufgrund des Arbeitsvertrags oder wegen Bruchs dieses Vertrages verlangen kann, kann nicht als hinreichend abschreckend für einen Arbeitgeber angesehen werden, der im Fall einer Massenentlassung seiner Pflicht zur Information und Konsultation der Arbeitnehmervertreter nach der Richtlinie 75/129 nicht nachkommt.


URTEIL DES GERICHTSHOFES VOM 8. JUNI 1994. - KOMMISSION DER EUROPAEISCHEN GEMEINSCHAFTEN GEGEN VEREINIGTES KOENIGREICH GROSSBRITANNIEN UND NORDIRLAND. - MASSENENTLASSUNGEN. - RECHTSSACHE C-383/92.

Entscheidungsgründe:

1 Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften hat mit Klageschrift, die am 21. Oktober 1992 bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, gemäß Artikel 169 EWG-Vertrag Klage auf Feststellung erhoben, daß das Vereinigte Königreich gegen seine Verpflichtungen aus dem EWG-Vertrag verstossen hat, indem es verschiedene Bestimmungen der Richtlinie 75/129/EWG des Rates vom 17. Februar 1975 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen (ABl. L 48, S. 29, nachstehend: die Richtlinie) nicht ordnungsgemäß in innerstaatliches Recht umgesetzt hat.

2 Die namentlich auf Artikel 100 EWG-Vertrag gestützte Richtlinie soll "unter Berücksichtigung der Notwendigkeit einer ausgewogenen wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung in der Gemeinschaft... den Schutz der Arbeitnehmer bei Massenentlassungen... verstärken" (erste Begründungserwägung). Nach der zweiten Begründungserwägung der Richtlinie bestehen trotz einer konvergierenden Entwicklung weiterhin Unterschiede zwischen den in den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft geltenden Bestimmungen hinsichtlich der Voraussetzungen und des Verfahrens für Massenentlassungen sowie hinsichtlich der Maßnahmen, die die Folgen dieser Entlassungen für die Arbeitnehmer mildern könnten. Nach der dritten Begründungserwägung können diese Unterschiede sich auf das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes unmittelbar auswirken. "Daher muß auf diese Angleichung auf dem Wege des Fortschritts im Sinne des Artikels 117 des Vertrages hingewirkt werden" (fünfte Begründungserwägung).

3 Die Richtlinie gilt nach ihrem Artikel 1 Absatz 1 Buchstabe a für "Massenentlassungen..., die ein Arbeitgeber aus einem oder mehreren Gründen, die nicht in der Person der Arbeitnehmer liegen, vornimmt und bei denen... die Zahl der Entlassungen" dasjenige der beiden in der Richtlinie aufgestellten Kriterien erfuellt, für das der Mitgliedstaat sich entschieden hat.

4 Artikel 2 der Richtlinie sieht ein Verfahren zur Konsultation und Information der Arbeitnehmervertreter vor.

5 Die Artikel 3 und 4 der Richtlinie enthalten die Verfahrensregeln für Massenentlassungen. Nach Artikel 3 hat der Arbeitgeber der zuständigen Behörde alle beabsichtigten Massenentlassungen schriftlich anzuzeigen. Die Arbeitnehmervertreter werden über diese Anzeige informiert und können Bemerkungen an die zuständige Behörde richten. Artikel 4 sieht u. a. vor, daß Massenentlassungen nicht vor Ablauf einer Frist von dreissig Tagen nach Eingang der Anzeige der beabsichtigten Entlassung bei der Behörde wirksam werden können. Diese Frist muß von der zuständigen Behörde dazu benutzt werden, nach Lösungen für die durch die beabsichtigten Massenentlassungen aufgeworfenen Probleme zu suchen.

6 Gemäß Artikel 6 Absatz 1 der Richtlinie müssen die Mitgliedstaaten die erforderlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften in Kraft setzen, um der Richtlinie binnen zwei Jahren nach ihrer Bekanntgabe nachzukommen. Die Richtlinie ist den Mitgliedstaaten am 19. Februar 1975 bekanntgegeben worden, so daß diese Frist am 19. Februar 1977 abgelaufen ist.

7 Die Bestimmungen der Richtlinie wurden im Vereinigten Königreich durch den Employment Protection Act 1975 (Gesetz von 1975 über den Arbeitnehmerschutz, nachstehend: EPA) durchgeführt.

8 Nach Ansicht der Kommission hat das Vereinigte Königreich gegen seine Verpflichtungen aus der Richtlinie und Artikel 5 des Vertrages aus folgenden Gründen verstossen. Erstens gewährleiste der EPA nicht, daß die Vertreter der Arbeitnehmer in allen von der Richtlinie erfassten Fällen informiert und konsultiert würden, denn weder in diesem Gesetz noch in einer anderen Bestimmung des britischen Rechts sei die Bestellung von Arbeitnehmervertretern vorgesehen, wenn der Arbeitgeber solche Vertreter nicht anerkenne. Zweitens sei der auf "Entlassungen aus wirtschaftlichen Gründen" beschränkte Anwendungsbereich des EPA enger als der der Richtlinie, die für alle Entlassungen aus nicht in der Person des Arbeitnehmers liegenden Gründen gelte. Drittens sei nach dem EPA nicht gewährleistet, daß die Konsultation der Arbeitnehmer im Hinblick auf eine Einigung erfolge und sich auf die Möglichkeit erstrecke, Massenentlassungen zu vermeiden oder einzuschränken sowie ihre Folgen zu mildern. Viertens enthalte der EPA keine wirksamen Sanktionen gegenüber dem Arbeitgeber, der die in der Richtlinie vorgesehenen Pflichten zur Information und Konsultation der Arbeitnehmervertreter nicht beachte.

Zur ersten Rüge

9 Die erste Rüge der Kommission betrifft die Umsetzung der Artikel 2 und 3 der Richtlinie in britisches Recht.

10 Nach Artikel 2 der Richtlinie hat der Arbeitgeber, wenn er Massenentlassungen vorzunehmen beabsichtigt, die Arbeitnehmervertreter zu konsultieren, um zu einer Einigung zu gelangen. Diese Konsultationen erstrecken sich zumindest auf die Möglichkeit, Massenentlassungen zu vermeiden oder einzuschränken sowie ihre Folgen zu mildern. Der Arbeitgeber hat den Arbeitnehmervertretern die zweckdienlichen Auskünfte zu erteilen und in jedem Fall schriftlich die Gründe der Entlassung, die Zahl der zu entlassenden Arbeitnehmer, die Zahl der in der Regel beschäftigten Arbeitnehmer und den Zeitraum, in dem die Entlassungen vorgenommen werden sollen, mitzuteilen.

11 Der Arbeitgeber hat gemäß Artikel 3 der Richtlinie der zuständigen Behörde alle beabsichtigten Massenentlassungen schriftlich anzuzeigen. Die Anzeige muß alle zweckdienlichen Angaben über die beabsichtigte Massenentlassung, die Konsultationen der Arbeitnehmervertreter und die in Artikel 2 der Richtlinie genannten Angaben enthalten (Absatz 1). Eine Abschrift dieser Anzeige ist den Arbeitnehmervertretern zu übermitteln, die etwaige Bemerkungen an die zuständige Behörde richten können (Absatz 2).

12 Nach Artikel 1 Absatz 1 Buchstabe b der Richtlinie sind "Arbeitnehmervertreter" im Sinne dieser Richtlinie "die Arbeitnehmervertreter nach den Rechtsvorschriften oder der Praxis der Mitgliedstaaten".

13 Die Kommission macht geltend, das Vereinigte Königreich habe gegen seine Verpflichtungen aus den Artikeln 2 und 3 der Richtlinie verstossen, indem es kein Verfahren zur Bestellung der Vertreter der Arbeitnehmer in einem Unternehmen vorgesehen habe, wenn der Arbeitgeber solche Vertreter nicht anerkenne. Die Artikel 2 und 3 der Richtlinie entfalteten ihre praktische Wirksamkeit nur dann, wenn die Mitgliedstaaten die entsprechenden Bestimmungen erließen, damit in einem Unternehmen, von Ausnahmen abgesehen, Arbeitnehmervertreter bestellt würden; andernfalls würden die in der Richtlinie vorgesehenen Informations- und Konsultationspflichten sowie das dort gewährte Recht, bei der Behörde Erklärungen einzureichen, nicht beachtet. Die britischen Rechtsvorschriften, die die Bestellung von Arbeitnehmervertretern in einem Unternehmen gegen den Willen des Arbeitgebers nicht zuließen, genügten dieser Voraussetzung nicht.

14 Die Regierung des Vereinigten Königreichs räumt ein, daß im Vereinigten Königreich die Vertretung der Arbeitnehmer in einem Unternehmen herkömmlicherweise von der freiwilligen Anerkennung der Gewerkschaften durch den Arbeitgeber abhänge; daher träfen den Arbeitgeber, der keine Gewerkschaft anerkenne, keine Informations- und Konsultationspflichten gemäß der Richtlinie. Die Richtlinie habe aber die Rechtsvorschriften oder die Praxis der Mitgliedstaaten hinsichtlich der Bestellung der Arbeitnehmervertreter nicht ändern wollen. Arbeitnehmervertreter seien nach Artikel 1 Absatz 1 Buchstabe b der Richtlinie die Arbeitnehmervertreter "nach den Rechtsvorschriften oder der Praxis der Mitgliedstaaten". Die Richtlinie beschränke sich auf eine Teilharmonisierung der Rechtsvorschriften über den Schutz der Arbeitnehmer bei Massenentlassungen; die Mitgliedstaaten seien nach der Richtlinie nicht verpflichtet, eine besondere Vertretung der Arbeitnehmer vorzusehen, um den in der Richtlinie festgelegten Verpflichtungen nachzukommen.

15 Den Ausführungen des Vereinigten Königreichs kann nicht gefolgt werden.

16 Der Gemeinschaftsgesetzgeber wollte mit der Harmonisierung der Rechtsvorschriften über Massenentlassungen sowohl einen vergleichbaren Schutz der Rechte der Arbeitnehmer in den verschiedenen Mitgliedstaaten gewährleisten als auch die für die Unternehmen in der Gemeinschaft mit diesen Schutzvorschriften verbundenen Belastungen einander angleichen.

17 Zu diesem Zweck stellen die Artikel 2 und 3 Absatz 2 der Richtlinie den Grundsatz auf, daß die Arbeitnehmervertreter über die Einzelheiten der beabsichtigten Entlassungen sowie über die Möglichkeit, die Zahl der Entlassungen oder deren Wirkungen zu vermindern, unterrichtet werden müssen und daß diese Vertreter Bemerkungen an die zuständige Behörde richten können müssen.

18 Nach Artikel 6 Absatz 1 der Richtlinie stand den Mitgliedstaaten eine Frist von zwei Jahren von Bekanntgabe der Richtlinie an zur Verfügung, um, falls erforderlich, ihr innerstaatliches Recht zu ändern und insoweit mit der Richtlinie in Einklang zu bringen.

19 Diese Auslegung der Artikel 2 und 3 Absatz 2 der Richtlinie wird entgegen der Ansicht des Vereinigten Königreichs durch den Wortlaut des Artikels 1 Absatz 1 Buchstabe b der Richtlinie nicht in Frage gestellt. Artikel 1 Absatz 1 Buchstabe b der Richtlinie verweist nämlich nicht einfach auf die Rechtsvorschriften, die in den Mitgliedstaaten für die Bestellung von Arbeitnehmervertretern gelten. Er überlässt den Mitgliedstaaten lediglich die Entscheidung, wie die Arbeitnehmervertreter, die nach den Artikeln 2 und 3 Absatz 2 der Richtlinie am Verfahren für die Massenentlassung je nach den Umständen beteiligt werden müssen oder können, zu bestellen sind.

20 Die von der Regierung des Vereinigten Königreichs vorgeschlagene Auslegung würde den Mitgliedstaaten erlauben, festzulegen, in welchen Fällen Arbeitnehmervertreter informiert, konsultiert und beteiligt werden können, da die Information und Konsultation von Arbeitnehmervertretern und deren Stellungnahme gegenüber der Behörde nur in den Unternehmen möglich sind, für die das nationale Recht die Bestellung von Arbeitnehmervertretern vorsieht. Diese Auslegung gäbe also den Mitgliedstaaten die Möglichkeit, den Artikeln 2 und 3 Absatz 2 der Richtlinie ihre volle Wirkung zu nehmen.

21 Wie der Gerichtshof insbesondere mit Urteil vom 6. Juli 1982 in der Rechtssache 61/81 (Kommission/Vereinigtes Königreich, Slg. 1982, 2601) bereits entschieden hat, verstossen nationale Rechtsvorschriften, durch die der den Arbeitnehmern von einer Richtlinie uneingeschränkt gewährte Schutz verhindert werden kann, gegen das Gemeinschaftsrecht.

22 Wie die Regierung des Vereinigten Königreichs weiter vorträgt, verpflichtet die Richtlinie, wenn es aufgrund des nationalen Rechts in dem Unternehmen keine Arbeitnehmervertreter gebe, die Mitgliedstaaten nicht dazu, ein besonderes System der Vertretung der Arbeitnehmer einzuführen, nur um den Anforderungen der Richtlinie zu genügen.

23 Zwar enthält die Richtlinie keine Bestimmung, die diesen Fall ausdrücklich regelt, doch ändert dies nichts an der Verpflichtung der Mitgliedstaaten gemäß den Artikeln 2 und 3 in Verbindung mit Artikel 6 der Richtlinie, die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, damit die Arbeitnehmer im Falle von Massenentlassungen über ihre Vertreter informiert und konsultiert werden und dazu Stellung nehmen können.

24 Schließlich kann sich die Regierung des Vereinigten Königreichs nicht darauf berufen, daß die Richtlinie nur eine Teilharmonisierung der Vorschriften über den Arbeitnehmerschutz vornimmt und eine Änderung der nationalen Vorschriften über die Arbeitnehmervertretung nicht beabsichtigt war.

25 Die Richtlinie nimmt zwar nur eine teilweise Harmonisierung der Vorschriften über den Schutz der Arbeitnehmer bei Massenentlassungen vor (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. Februar 1985 in der Rechtssache 284/83, Nielsen & Sön, Slg. 1985, 553). Sie sollte also die nationalen Systeme der Arbeitnehmervertretung in einem Betrieb nicht vollständig harmonisieren. Die Begrenztheit dieser Harmonisierung kann den Bestimmungen der Richtlinie, insbesondere den Artikeln 2 und 3, jedoch nicht ihre praktische Wirksamkeit nehmen. Insbesondere kann sie die Mitgliedstaaten nicht von der Verpflichtung befreien, die Maßnahmen zu treffen, die für die Bestellung von Arbeitnehmervertretern im Hinblick auf die Erfuellung der Verpflichtungen aus den Artikeln 2 und 3 der Richtlinie zweckmässig sind.

26 Die Regierung des Vereinigten Königreichs räumt selbst ein, daß beim derzeitigen Stand des britischen Rechts die von einer Massenentlassung betroffenen Arbeitnehmer nicht den Schutz nach den Artikeln 2 und 3 der Richtlinie genießen, wenn der Arbeitgeber sich einer Vertretung der Arbeitnehmer in seinem Unternehmen widersetzt.

27 Somit stellen die britischen Rechtsvorschriften, die einem Arbeitgeber die Möglichkeit lassen, den zugunsten der Arbeitnehmer in den Artikeln 2 und 3 der Richtlinie vorgesehenen Schutz zu umgehen, einen Verstoß gegen die Bestimmungen dieser Artikel dar (siehe entsprechend das vorstehend genannte Urteil Kommission/Vereinigtes Königreich).

28 Folglich ist der ersten Rüge der Kommission stattzugeben.

Zur zweiten Rüge

29 Die Kommission macht geltend, daß der Anwendungsbereich des EPA enger als der der Richtlinie sei. Nach den Artikeln 99 und 100 des EPA gelte dieser für "Entlassungen aus wirtschaftlichen Gründen", d. h. nach der Auslegung dieses Begriffs durch die britischen Gerichte in Fällen, in denen der Betrieb eines Unternehmens eingestellt oder eingeschränkt wird oder die Nachfrage nach einer besonderen Art von Arbeit abnimmt, während die Richtlinie nach ihrem Artikel 1 Absatz 1 Buchstabe a für "Massenentlassungen" gelte, d. h. für Entlassungen aus einem oder mehreren Gründen, die nicht in der Person der Arbeitnehmer lägen, worunter auch andere Entlassungen als solche "aus wirtschaftlichen Gründen" fielen.

30 Die Regierung des Vereinigten Königreichs hat in ihrer Antwort auf das Schreiben der Kommission eingeräumt, daß die Richtlinie insoweit im britischen Recht nicht vollständig durchgeführt worden sei.

31 Nach Artikel 1 Absatz 1 Buchstabe a der Richtlinie gelten als Massenentlassungen "Entlassungen, die ein Arbeitgeber aus einem oder mehreren Gründen, die nicht in der Person der Arbeitnehmer liegen, vornimmt und bei denen... die Zahl der Entlassungen" dasjenige der beiden in der Richtlinie aufgestellten Kriterien erfuellt, für das der Mitgliedstaat sich entschieden hat.

32 Der Begriff der "Entlassung aus wirtschaftlichen Gründen", der den Anwendungsbereich des EPA festlegt und dessen Auslegung durch die Kommission von der Regierung des Vereinigten Königreichs nicht widersprochen wird, deckt nicht sämtliche von der Richtlinie erfassten Fälle der "Massenentlassungen". Insbesondere erfasst er, wie die Kommission ausgeführt hat, nicht den Fall, daß die Arbeitnehmer infolge einer Neuordnung des Unternehmens entlassen werden, die in keinerlei Beziehung zu dessen Geschäftsvolumen steht.

33 Der zweiten Rüge der Kommission ist somit stattzugeben.

Zur dritten Rüge

34 Die Kommission rügt, daß der EPA die Bestimmungen des Artikels 2 Absätze 1 und 2 der Richtlinie unvollkommen umgesetzt habe, da er den Arbeitgeber lediglich dazu verpflichte, die Gewerkschaftsvertreter wegen der beabsichtigten Massenentlassungen zu konsultieren, deren Vorbringen "zu berücksichtigen", dazu Stellung zu nehmen und im Falle der Ablehnung "dies zu begründen", während Artikel 2 Absatz 1 der Richtlinie die Verpflichtung enthalte, die Vertreter zu konsultieren, "um zu einer Einigung zu gelangen", und sich die Konsultationen nach Artikel 2 Absatz 2 der Richtlinie "zumindest auf die Möglichkeit" erstrecken müssten, "Massenentlassungen zu vermeiden oder einzuschränken sowie ihre Folgen zu mildern".

35 Die Regierung des Vereinigten Königreichs räumt ein, daß ihre Rechtsvorschriften insoweit nicht der Richtlinie entsprechen.

36 Hierzu genügt die Feststellung, daß die Bestimmungen des EPA weder den Arbeitgeber entsprechend Artikel 2 Absatz 1 der Richtlinie verpflichten, die Vertreter der Arbeitnehmer zu konsultieren, "um zu einer Einigung zu gelangen", noch entsprechend Artikel 2 Absatz 2 der Richtlinie vorschreiben, daß sich die Konsultationen zumindest "auf die Möglichkeit" erstrecken müssen, "Massenentlassungen zu vermeiden oder einzuschränken sowie ihre Folgen zu mildern".

37 Der dritten Rüge der Kommission ist somit stattzugeben.

Zur vierten Rüge

38 Die Kommission macht geltend, daß die Regierung des Vereinigten Königreichs gegen ihre Verpflichtungen aus Artikel 5 EWG-Vertrag verstossen habe, da die Sanktionen nach dem EPA gegenüber dem Arbeitgeber, der seiner Verpflichtung zur Konsultation und Information der Arbeitnehmervertreter nicht nachkomme, nicht hinreichend abschreckend seien. Die Entschädigung für die Arbeitnehmer, zu der der Arbeitgeber gegebenenfalls verurteilt werden könne, wenn er die Arbeitnehmervertreter nicht informiere oder konsultiere, trete ganz oder zum Teil an die Stelle der Beträge, die er den Arbeitnehmern zu zahlen habe.

39 Die Regierung des Vereinigten Königreichs räumt ein, daß ihre Rechtsvorschriften insoweit nicht den Anforderungen des Vertrages entsprechen, und begnügt sich mit dem Hinweis, daß ein Gesetzesentwurf im Parlament eingebracht worden sei, um dem abzuhelfen.

40 Enthält eine gemeinschaftsrechtliche Richtlinie keine besondere Sanktion für den Fall eines Verstosses gegen ihre Vorschriften oder verweist sie insoweit auf die nationalen Rechts- und Verwaltungsvorschriften, so sind die Mitgliedstaaten nach Artikel 5 EWG-Vertrag verpflichtet, alle geeigneten Maßnahmen zu treffen, um die Geltung und die Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts zu gewährleisten. Dabei müssen die Mitgliedstaaten, denen allerdings die Wahl der Sanktionen verbleibt, darauf achten, daß die Verstösse gegen das Gemeinschaftsrecht nach sachlichen und verfahrensrechtlichen Regeln geahndet werden, die denjenigen entsprechen, die für nach Art und Schwere gleichartige Verstösse gegen nationales Recht gelten, wobei die Sanktion jedenfalls wirksam, verhältnismässig und abschreckend sein muß (vgl. für Gemeinschaftsverordnungen Urteile vom 21. September 1989 in der Rechtssache 68/88, Kommission/Griechenland, Slg. 1989, 2965, Randnrn. 23 und 24, und vom 2. Oktober 1991 in der Rechtssache C-7/90, Vandevenne u. a., Slg. 1991, I-4371, Randnr. 11).

41 Im vorliegenden Fall ergibt sich aus Artikel 102 Absatz 3 EPA, daß die sogenannte "Abfindung" (protective award) für einen entlassenen Arbeitnehmer, zu der der Arbeitgeber, der seiner Verpflichtung zur Konsultation und Information der Arbeitnehmervertreter gemäß diesem Gesetz nicht nachkommt, gegebenenfalls verurteilt werden kann, von den Beträgen abgezogen wird, die er sonst diesem Arbeitnehmer aufgrund des mit ihm geschlossenen Arbeitsvertrages oder wegen Bruchs dieses Vertrages zahlen muß, sofern diese Beträge die "Abfindung" übersteigen, und umgekehrt, daß diese dem Arbeitnehmer geschuldeten Beträge von der "Abfindung" abgezogen werden, wenn deren Höhe die anderen Beträge übersteigt.

42 Durch die Regelung, daß die "Abfindung" ganz oder teilweise an die Stelle der vom Arbeitgeber dem Arbeitnehmer aufgrund des mit ihm geschlossenen Arbeitsvertrages oder wegen Bruchs dieses Vertrages geschuldeten Beträge tritt, nehmen die britischen Rechtsvorschriften dieser Sanktion weitgehend ihre praktische Wirksamkeit und ihren abschreckenden Charakter. Darüber hinaus wird der Arbeitgeber durch diese Sanktion nicht einmal mild oder leicht bestraft, ausser ° und nur in diesem Masse °, wenn die "Abfindung", zu der er verurteilt wird, die von ihm sonst dem Betroffenen geschuldeten Beträge übersteigt.

43 Somit ist der vierten Rüge der Kommission stattzugeben.

44 Nach alledem hat das Vereinigte Königreich gegen seine Verpflichtungen aus der Richtlinie und Artikel 5 EWG-Vertrag verstossen, indem es keine Bestellung von Arbeitnehmervertretern vorgesehen hat, wenn der Arbeitgeber einer solchen Bestellung nicht zustimmt, indem es Rechtsvorschriften zur Durchführung der Richtlinie erlassen hat, deren Geltungsbereich enger als der der Richtlinie ist, indem es den Arbeitgeber, der Massenentlassungen beabsichtigt, nicht verpflichtet, die Vertreter der Arbeitnehmer zu den in der Richtlinie aufgeführten Punkten zu konsultieren, um zu einer Einigung zu gelangen, und indem es keine wirksame Sanktion vorgesehen hat, wenn die Arbeitnehmervertreter nicht entsprechend der Richtlinie konsultiert werden.

Kostenentscheidung:

Kosten

45 Nach Artikel 69 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei zur Tragung der Kosten zu verurteilen.

46 Da das Vereinigte Königreich mit seinem Vorbringen unterlegen ist, sind ihm die Kosten aufzuerlegen.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

für Recht erkannt und entschieden:

1) Das Vereinigte Königreich hat gegen seine Verpflichtungen aus der Richtlinie 75/129/EWG des Rates vom 17. Februar 1975 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen und gegen Artikel 5 EWG-Vertrag verstossen, indem es keine Bestellung von Arbeitnehmervertretern vorgesehen hat, wenn der Arbeitgeber einer solchen Bestellung nicht zustimmt, indem es Rechtsvorschriften zur Durchführung dieser Richtlinie erlassen hat, deren Geltungsbereich enger als der der Richtlinie ist, indem es den Arbeitgeber, der Massenentlassungen beabsichtigt, nicht verpflichtet, die Vertreter der Arbeitnehmer zu den in der Richtlinie aufgeführten Punkten zu konsultieren, um zu einer Einigung zu gelangen, und indem es keine wirksame Sanktion vorgesehen hat, wenn die Arbeitnehmervertreter nicht entsprechend der Richtlinie konsultiert werden.

2) Das Vereinigte Königreich trägt die Kosten des Verfahrens.

Ende der Entscheidung

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