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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 13.07.1995
Aktenzeichen: C-391/93
Rechtsgebiete: EWG-Vertrag, Verordnung (EWG) Nr. 1408/71


Vorschriften:

EWG-Vertrag Artikel 177
Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 Art. 25 Abs. 4
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

1. Artikel 25 Absatz 4 der Verordnung Nr. 1408/71 ist dahin auszulegen, daß der zuständige Träger auch über einen Antrag auf Verlängerung des Zeitraums der Übernahme von Leistungen bei Krankheit an einen arbeitslosen Arbeitnehmer, der von der Möglichkeit Gebrauch gemacht hat, sich in einen anderen als den zuständigen Mitgliedstaat zu begeben, um dort eine Beschäftigung zu suchen, zu entscheiden hat, der von dem arbeitslosen Arbeitnehmer nicht ausdrücklich gestellt wurde, sich aber aus einem Antrag auf Geldleistungen bei Krankheit ableiten lässt, der kurz vor Ablauf der Frist des Artikels 25 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 bei dem Krankenversicherungsträger des Ortes, an den sich der Arbeitslose begeben hat, eingereicht wurde.

Zum einen verlangen nämlich weder Artikel 25 Absatz 4 der Verordnung Nr. 1408/71 noch Artikel 26 Absatz 6 der Verordnung Nr. 574/72 für die Verlängerung des Zeitraums der Übernahme von Leistungen bei Krankheit die Einreichung eines förmlichen Antrags seitens des Arbeitslosen, und zum anderen gibt es unter den Krankheitsfällen, die die Verlängerung dieses Zeitraums rechtfertigen können, solche, die die Einreichung eines förmlichen Antrags ausschließen.

2. Die Rücksichtnahme auf die Gesundheit des Arbeitslosen gebietet es, den Begriff der höheren Gewalt, der in Artikel 25 Absatz 4 der Verordnung Nr. 1408/71 verwendet wird, um die Fälle zu umschreiben, in denen der Anspruch eines Arbeitslosen, der sich in einen anderen als den zuständigen Mitgliedstaat begeben hat, auf Leistungen bei Krankheit nach Ablauf der Frist des Artikels 25 Absatz 1 aufrechterhalten werden kann, auf ungewöhnliche und unvorhersehbare Umstände auszudehnen, deren Folgen nur um den Preis unverhältnismässiger Opfer vermeidbar wären. Der zuständige Träger hat also für die Feststellung, ob ein Fall höherer Gewalt vorliegt, die Umstände des Einzelfalls zu beurteilen, um festzustellen, ob von dem arbeitslosen Arbeitnehmer vernünftigerweise die Rückkehr in den zuständigen Staat verlangt werden kann. Er hat dabei nicht nur die Gefahr einer erheblichen Verschlechterung des Gesundheitszustands des Arbeitnehmers oder einer Minderung seiner Heilungschancen durch die Rückreise, sondern auch die Beschwerlichkeit der Anstrengung, die dieser dadurch auf sich nehmen müsste, zu berücksichtigen. Dabei kann zum einen der Begriff der höheren Gewalt nicht auf die absolute Unmöglichkeit der Rückkehr in den zuständigen Staat beschränkt werden, und zum anderen kann die physische Reisefähigkeit als solche nicht die Feststellung des Vorliegens eines solchen Falls höherer Gewalt ausschließen.


URTEIL DES GERICHTSHOFES (ERSTE KAMMER) VOM 13. JULI 1995. - UMBERTO PERROTTA GEGEN ALLGEMEINE ORTSKRANKENKASSE MUENCHEN. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: BUNDESSOZIALGERICHT - DEUTSCHLAND. - SOZIALE SICHERHEIT - ARBEITSLOSER, DEM GESTATTET WURDE, SICH IN EINEM ANDEREN ALS DEM ZUSTAENDIGEN MITGLIEDSTAAT AUFZUHALTEN - GEWAEHRUNG VON LEISTUNGEN BEI KRANKHEIT - VERLAENGERUNG DER AUFENTHALTSDAUER. - RECHTSSACHE C-391/93.

Entscheidungsgründe:

1 Das Bundessozialgericht hat mit Beschluß vom 15. Juli 1993, beim Gerichtshof eingegangen am 23. August 1993, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag mehrere Fragen nach der Auslegung von Artikel 25 Absätze 1 und 4 und Artikel 69 Absatz 1 Buchstabe c der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in ihrer durch die Verordnung (EWG) Nr. 2001/83 des Rates vom 2. Juni 1983 (ABl. L 230, S. 6) geänderten und aktualisierten Fassung zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Fragen stellen sich in einem Rechtsstreit zwischen Umberto Perrotta (nachstehend: Kläger) und der Allgemeinen Ortskrankenkasse München (nachstehend: Beklagte) über einen Antrag auf Krankengeld.

3 Gemäß Artikel 69 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 behält ein vollarbeitsloser Arbeitnehmer oder Selbständiger, der die Voraussetzungen für einen Leistungsanspruch nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats erfuellt und sich in einen oder mehrere andere Mitgliedstaaten begibt, um dort eine Beschäftigung zu suchen,... den Anspruch auf diese Leistungen unter folgenden Voraussetzungen: Zum einen muß der Arbeitslose grundsätzlich während mindestens vier Wochen nach Beginn der Arbeitslosigkeit bei der Arbeitsverwaltung des zuständigen Staates als Arbeitssuchender gemeldet sein und dieser zur Verfügung stehen (Buchstabe a); zum anderen muß er sich bei der Arbeitsverwaltung jedes Mitgliedstaats, in den er sich begibt, als Arbeitssuchender melden und sich der dortigen Kontrolle unterwerfen (Buchstabe b). Sind diese Voraussetzungen erfuellt, behält er den Leistungsanspruch während höchstens drei Monaten von dem Zeitpunkt an, von dem an er der Arbeitsverwaltung des Staates, den er verlassen hat, nicht mehr zur Verfügung stand; dabei darf die Gesamtdauer der Leistungsgewährung den Zeitraum nicht überschreiten, für den nach den Rechtsvorschriften dieses Staates Anspruch auf Leistungen besteht (Buchstabe c).

4 Gemäß Artikel 69 Absatz 2 hat der Arbeitnehmer weiterhin Anspruch auf Leistungen nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Staates, wenn er vor Ablauf des genannten Zeitraums in den zuständigen Staat zurückkehrt; er verliert jedoch jeden Anspruch, wenn er nicht vor Ablauf dieses Zeitraums dorthin zurückkehrt, ausser in Ausnahmefällen, in denen die zuständige Arbeitsverwaltung oder der zuständige Träger diese Frist verlängern kann.

5 Ferner sieht Artikel 25 Absatz 1 der genannten Verordnung für die Gewährung von Leistungen bei Krankheit folgendes vor:

Ein arbeitsloser Arbeitnehmer oder Selbständiger, auf den Artikel 69 Absatz 1... Anwendung findet und der die nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Staates erforderlichen Voraussetzungen für den Anspruch auf Sach- und Geldleistungen... erfuellt, erhält während des in Artikel 69 Absatz 1 Buchstabe c) vorgesehenen Zeitraums

a) Sachleistungen für Rechnung des zuständigen Trägers vom Träger des Mitgliedstaats, in dem er eine Beschäftigung sucht, nach den für diesen Träger geltenden Rechtsvorschriften, als ob er bei diesem versichert wäre;

b) Geldleistungen vom zuständigen Träger nach den für diesen Träger geltenden Rechtsvorschriften...

6 Artikel 25 Absatz 4 bestimmt:

Der zuständige Träger kann den in Absatz 1 genannten Zeitraum in Fällen höherer Gewalt bis zu der Hoechstdauer verlängern, die in den für den zuständigen Träger geltenden Rechtsvorschriften vorgesehen ist; innerstaatliche Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats, die die Gewährung von Leistungen bei Krankheit während eines längeren Zeitraums erlauben, bleiben unberührt.

7 Schließlich bestimmt Artikel 26 Absatz 6 der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 des Rates vom 21. März 1972 über die Durchführung der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 in der durch die genannte Verordnung Nr. 2001/83 geänderten und aktualisierten Fassung insoweit:

In den Fällen des Artikels 25 Absatz 4 der Verordnung unterrichtet der Träger der Krankenversicherung des Ortes, an den sich der Arbeitslose begeben hat, den zuständigen Träger der Krankenversicherung und den zuständigen Träger der Arbeitslosenversicherung unter Angabe von Gründen davon, daß er die Voraussetzungen für die Weitergewährung der Geld- und Sachleistungen für gegeben hält; er fügt der Mitteilung an den zuständigen Träger der Krankenversicherung einen ausführlichen Bericht des Arztes, der die Kontrolluntersuchung durchgeführt hat, über den Zustand des Erkrankten und die voraussichtliche Dauer des Vorliegens der Voraussetzungen für die Anwendung von Artikel 25 Absatz 4 der Verordnung bei. Der zuständige Träger der Krankenversicherung entscheidet über die Weitergewährung der Leistungen an den erkrankten Arbeitslosen.

8 Der Kläger, ein italienischer Staatsangehöriger, meldete sich nach einer versicherungspflichtigen Beschäftigung als Bauhelfer in der Bundesrepublik Deutschland am 8. Januar 1985 beim Arbeitsamt München arbeitslos und erhielt Arbeitslosengeld nach den deutschen Rechtsvorschriften.

9 Danach wurde ihm vom Arbeitsamt gemäß Artikel 69 der Verordnung Nr. 1408/71 gestattet, sich für einen Zeitraum von drei Monaten bis zum 19. März 1985 zur Arbeitssuche nach Italien zu begeben. Während seines Aufenthalts in Italien bezog er weiter über den Versicherungsträger des Aufenthaltsstaats Arbeitslosengeld aus der deutschen Arbeitslosenversicherung.

10 Am 15. März 1985 erkrankte der Kläger und befand sich vom 25. April bis zum 9. Mai 1985 in einem Krankenhaus in Italien. Am 19. März 1985, d. h. am letzten Tag des Dreimonatszeitraums, für den er die Genehmigung erhalten hatte, sich in Italien aufzuhalten, stellte er über den italienischen Krankenversicherungsträger einen Antrag auf Geldleistungen bei Krankheit, der am 28. März 1985 bei der Beklagten auf Formblatt E 115 nebst Arztbericht einging. Die Beklagte gewährte die Leistungen bei Krankheit für die fünf verbleibenden Tage des Dreimonatszeitraums, d. h. für den 15. bis 19. März 1985. Im übrigen lehnte sie den Antrag durch Bescheid vom 29. April 1985 mit der Begründung ab, der Zeitraum des Artikels 69 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 sei am 19. März 1985 abgelaufen. Zwischen den Parteien ist unstreitig, daß die Krankheit des Klägers bis zum 19. Juni 1985 andauerte und daß er nach diesem Datum nach Deutschland zurückkehrte.

11 Mit seinem am 2. August 1985 erhobenen Widerspruch machte der Kläger geltend, er sei bereits ab 15. März 1985 arbeits- und reiseunfähig gewesen, und stellte bei der Beklagten den Antrag, den Dreimonatszeitraum deshalb zu verlängern und ihm Krankengeld für die gesamte Dauer seiner Arbeitsunfähigkeit zu gewähren.

12 Vor Erlaß einer Entscheidung wandte sich die Beklagte wegen einer eventuellen Verlängerung der Frist gemäß Artikel 69 Absatz 2 der Verordnung Nr. 1408/71 an das Arbeitsamt. Das Arbeitsamt lehnte es jedoch ab, eine Entscheidung in diesem Sinne zu treffen, da es in diesem Fall um einen Antrag auf Verlängerung der Frist für die Zahlung von Leistungen bei Krankheit nach Artikel 25 Absatz 4 der Verordnung Nr. 1408/71 gehe und die Entscheidung darüber in die Zuständigkeit der Krankenkasse falle. Diese wies den Widerspruch mit Bescheid vom 29. April 1986 mit der Begründung zurück, nach Ablauf des genehmigten Aufenthalts in einem anderen als dem zuständigen Mitgliedstaat bestehe kein Krankengeldanspruch mehr, eine etwaige Verlängerung dieses Zeitraums sei nur im Fall "höherer Gewalt" im Sinne des Artikels 25 Absatz 4 der Verordnung Nr. 1408/71 möglich und die Krankheit des Klägers könne nicht als eine solche angesehen werden.

13 Der Kläger erhob gegen den Bescheid der Beklagten Klage beim Sozialgericht. Gegen das klageabweisende Urteil legte er beim Landessozialgericht Berufung ein, die zurückgewiesen wurde, weil Krankheit oder krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit als solche kein Fall höherer Gewalt seien und die Erkrankung des Klägers ° nach den Ausführungen des vom Landessozialgericht gehörten medizinischen Sachverständigen handelte es sich um eine rheumatische Arthritis der kleinen Handgelenke und degenerative Wirbelsäulenveränderungen ° nicht so schwerwiegend gewesen sei, daß er deshalb nicht rechtzeitig vor Ablauf der Dreimonatsfrist mit üblichen Verkehrsmitteln nach München hätte zurückreisen können.

14 Der Kläger legte gegen diese Entscheidung Revision zum Bundessozialgericht ein, das dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt hat:

1a) Hat der zuständige Träger der Krankenversicherung einen Antrag auf Geldleistungen wegen Arbeitsunfähigkeit, der am letzten Tag des in Artikel 25 Absatz 1 iVm Artikel 69 Absatz 1 Buchstabe c der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 vorgesehenen Zeitraums bei dem Träger der Krankenversicherung des Ortes gestellt worden ist, an den sich der Arbeitslose begeben hat, gleichzeitig als ° rechtzeitig eingegangenen ° Antrag auf Verlängerung des Zeitraums nach Artikel 25 Absatz 4 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 zu behandeln, selbst wenn die Verlängerung ausdrücklich erstmalig nach Erlaß des die beantragte Geldleistung ablehnenden Bescheides beantragt wird?

b) Wenn nein, darf der genannte Zeitraum noch auf einen nach Fristablauf gestellten Antrag verlängert werden?

2) Setzt die nach Artikel 25 Absatz 4 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 vom zuständigen Träger zu treffende Ermessensentscheidung voraus, daß der arbeitslose Arbeitnehmer durch höhere Gewalt daran gehindert war, innerhalb der Dreimonatsfrist des Artikels 25 Absatz 1 iVm Artikel 69 Absatz 1 Buchstabe c der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 in den für die Leistungen aus der Krankenversicherung zuständigen Staat zurückzukehren, oder ist im Rahmen der Ermessensentscheidung auch darüber zu befinden, ob ein Fall höherer Gewalt vorliegt?

3) Muß ein Fall höherer Gewalt im Sinne von Artikel 25 Absatz 4 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 angenommen werden, wenn der arbeitsunfähige Arbeitslose wegen der bei ihm bestehenden Krankheit nicht innerhalb der Dreimonatsfrist in den zuständigen Staat zurückgekehrt ist, obwohl er reisefähig war?

15 Zunächst ist der Standpunkt des Klägers zu prüfen, Artikel 25 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 schließe den Krankenversicherungsschutz nur dann aus, wenn die Krankheit nach Ablauf des Dreimonatszeitraums des Artikels 69 Absatz 1 Buchstabe c eintrete. Dagegen bleibe der Krankenversicherungsschutz zu Lasten des zuständigen Mitgliedstaats für die Krankheiten, die schon vor Ablauf dieses Zeitraums begonnen hätten, jedoch über dessen Ende hinaus andauerten, selbst dann bestehen, wenn der Leistungsanspruch nach den nationalen Rechtsvorschriften einen Wohnort im Inland voraussetze.

16 Der Kläger ist deshalb der Auffassung, die Fragen des vorlegenden Gerichts beruhten auf einer falschen Auslegung von Artikel 25 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 und seien für die Entscheidung des Rechtsstreits nicht erheblich, da ihnen die Annahme zugrunde liege, diese Bestimmung gebe ihm im vorliegenden Fall keinen Anspruch auf Weiterzahlung der Leistungen nach Ablauf des Dreimonatszeitraums.

17 Dieser Auslegung von Artikel 25 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 ist nicht zu folgen. Insoweit genügt die Feststellung, daß diese Bestimmung die Gewährung von Leistungen bei Krankheit an arbeitslose Arbeitnehmer, denen es gestattet wurde, sich zur Beschäftigungssuche in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben, während des in Artikel 69 Absatz 1 Buchstabe c) vorgesehenen Zeitraums regelt. Gerade weil der Kläger die Weitergewährung von Leistungen bei Krankheit im Gebiet des Staates, in den er sich begeben hat, über diesen Zeitraum hinaus beantragt hat, findet Artikel 25 Absatz 4, auf den sich die Vorabentscheidungsfragen beziehen, im vorliegenden Fall Anwendung.

Zur ersten Frage

18 Mit der ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im wesentlichen wissen, ob Artikel 25 Absatz 4 der Verordnung Nr. 1408/71 dahin auszulegen ist, daß der zuständige Träger auch über einen Antrag auf Verlängerung des Zeitraums der Übernahme von Leistungen bei Krankheit zu entscheiden hat, der von dem arbeitslosen Arbeitnehmer nicht ausdrücklich gestellt wurde, sich aber aus einem Antrag auf Geldleistungen wegen Krankheit ableiten lässt, der kurz vor Ablauf der Frist des Artikels 25 Absatz 1 der Verordnung bei dem Krankenversicherungsträger des Ortes, an den sich der Arbeitslose begeben hat, eingereicht wurde. Für den Fall der Verneinung stellt das vorlegende Gericht die Frage, ob der zuständige Träger wirksam über einen ausdrücklichen Verlängerungsantrag entscheiden kann, der nach Ablauf der Frist eingereicht wurde.

19 Insoweit ist festzustellen, daß weder Artikel 25 Absatz 4 der Verordnung Nr. 1408/71 noch Artikel 26 Absatz 6 der Verordnung Nr. 574/72 für die Verlängerung des Zeitraums der Übernahme von Leistungen bei Krankheit die Einreichung eines förmlichen Antrags seitens des Arbeitslosen verlangen. Zudem gibt es unter den Krankheitsfällen, die die Verlängerung dieses Zeitraums rechtfertigen können, solche, die die Einreichung eines förmlichen Antrags ausschließen.

20 In einem Fall wie dem vorliegenden kann der zuständige Träger vernünftigerweise davon ausgehen, daß ein Arbeitsloser, der kurz vor Ablauf des Dreimonatszeitraums, für den ihm gestattet worden war, sich in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben, über die Krankenkasse dieses Mitgliedstaats einen Antrag auf Krankengeld eingereicht hat, diese Leistungen während der gesamten Dauer seiner Krankheit weiter beziehen und folglich den Zeitraum der Übernahme nach Artikel 25 Absatz 1 der Verordnung verlängert erhalten möchte.

21 Folglich ist auf den ersten Teil der ersten Frage zu antworten, daß Artikel 25 Absatz 4 der Verordnung Nr. 1408/71 dahin auszulegen ist, daß der zuständige Träger auch über einen Antrag auf Verlängerung des Zeitraums der Übernahme von Leistungen bei Krankheit zu entscheiden hat, der von dem arbeitslosen Arbeitnehmer nicht ausdrücklich gestellt wurde, sich aber aus einem Antrag auf Geldleistungen bei Krankheit ableiten lässt, der kurz vor Ablauf der Frist des Artikels 25 Absatz 1 der Verordnung bei dem Krankenversicherungsträger des Ortes, an den sich der Arbeitslose begeben hat, eingereicht wurde.

22 Angesichts dieser Anwort braucht der zweite Teil der ersten Frage nicht beantwortet zu werden.

Zur zweiten und zur dritten Frage

23 Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob dem zuständigen Träger gemäß Artikel 25 Absatz 4 der Verordnung Nr. 1408/71 in der Frage des Vorliegens eines Falles höherer Gewalt ein Ermessen zusteht. Mit seiner dritten Frage möchte es im wesentlichen wissen, ob ein Fall höherer Gewalt im Sinne dieser Bestimmung angenommen werden kann, wenn der Arbeitslose trotz seiner krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit reisefähig ist.

24 Diese Fragen sind gemeinsam zu behandeln.

25 Nach ständiger Rechtsprechung hat der Begriff der höheren Gewalt in den verschiedenen Bereichen der Anwendung des Gemeinschaftsrechts nicht den gleichen Inhalt, so daß seine Bedeutung anhand des rechtlichen Rahmens festzulegen ist, in dem er seine Wirkungen entfalten soll (vgl. Urteil vom 13. Oktober 1993 in der Rechtssache C-124/92, An Bord Bainne Cooperative Ltd und Compagnie Inter-Agra, Slg. 1993, I-5061, Randnr. 10).

26 Im vorliegenden Fall sollen mit der Verwendung des Begriffs der höheren Gewalt in Artikel 25 Absatz 4 der Verordnung die Fälle umschrieben werden, in denen der Anspruch eines Arbeitslosen, der sich in einen anderen als den zuständigen Mitgliedstaat begeben hat, auf Leistungen bei Krankheit nach Ablauf der Frist des Artikels 25 Absatz 1 aufrechterhalten werden kann.

27 Die Rücksichtnahme auf die Gesundheit des Arbeitslosen gebietet es, den Begriff der höheren Gewalt des Artikels 25 Absatz 4 nicht auf die absolute Unmöglichkeit einer Rückkehr in den zuständigen Staat zu beschränken. Dieser Begriff ist in einem weiteren Sinne auf ungewöhnliche und unvorhersehbare Umstände auszudehnen, die vom Willen des Arbeitslosen unabhängig sind und deren Folgen trotz aller aufgewandten Sorgfalt nur um den Preis unverhältnismässiger Opfer vermeidbar wären.

28 Der zuständige Träger muß also für die Feststellung, ob ein Fall höherer Gewalt im Sinne des Artikels 25 Absatz 4 vorliegt, die Umstände des Einzelfalls beurteilen, um insbesondere festzustellen, ob die Rückkehr in den zuständigen Staat möglicherweise zu einer erheblichen Verschlechterung des Gesundheitszustands des Arbeitslosen führt, seine Heilungschancen beeinträchtigt oder ihm eine Anstrengung abverlangt, die ihm vernünftigerweise nicht zugemutet werden sollte.

29 Folglich kann die Reisefähigkeit als solche die Verlängerung gemäß Artikel 25 Absatz 4 nicht von vornherein ausschließen.

30 Nach Auffassung des Klägers erfuellt ein arbeitsloser Arbeitnehmer, der krankheitsbedingt arbeitsunfähig ist, die Voraussetzung der höheren Gewalt im Sinne des Artikels 25 Absatz 4 unabhängig davon, ob er reisefähig sei oder nicht, soweit der Eintritt oder die Dauer der Erkrankung nicht auf eine grobe Fahrlässigkeit seinerseits zurückgehe.

31 Dieser Auffassung ist nicht zu folgen. Die Gewährung von Geldleistungen bei Krankheit nach Artikel 25 Absatz 1 an den Arbeitnehmer, der sich zur Beschäftigungssuche in einen anderen Mitgliedstaat begibt, setzt nämlich definitionsgemäß voraus, daß der Empfänger krankheitsbedingt arbeitsunfähig ist. Die Tatsache, daß der Gemeinschaftsgesetzgeber in Fällen höherer Gewalt eine Ausnahme von der Verpflichtung zur Rückkehr in den zuständigen Staat vor Ablauf der in dieser Bestimmung vorgesehenen Frist zulässt, damit der Leistungsanspruch bei Krankheit zu Lasten dieses Staates bestehenbleibt, bedeutet notwendig, daß er damit dem Begriff der höheren Gewalt eine andere Bedeutung als die einer blossen Krankheit oder krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit beimessen wollte. Sonst wäre dieses Erfordernis im Verhältnis zu dem Tatbestand, von dessen Erfuellung die Gewährung der Geld- oder Sachleistungen bei Krankheit abhängt, überfluessig.

32 Nach alledem ist auf die zweite und die dritte Frage zu antworten, daß der zuständige Träger für die Feststellung, ob ein Fall höherer Gewalt im Sinne des Artikels 25 Absatz 4 der Verordnung Nr. 1408/71 vorliegt, die Umstände des Einzelfalls zu beurteilen hat, um festzustellen, ob von dem arbeitslosen Arbeitnehmer vernünftigerweise die Rückkehr in den zuständigen Staat verlangt werden kann. Er hat dabei nicht nur die Gefahr einer erheblichen Verschlechterung des Gesundheitszustands des Arbeitnehmers oder einer Minderung seiner Heilungschancen durch die Rückreise, sondern auch die Beschwerlichkeit der Anstrengung, die dieser dadurch auf sich nehmen müsste, zu berücksichtigen. Dabei kann zum einen der Begriff der höheren Gewalt nicht auf die absolute Unmöglichkeit der Rückkehr in den zuständigen Staat beschränkt werden, und zum anderen kann die physische Reisefähigkeit als solche nicht die Feststellung des Vorliegens eines solchen Falls höherer Gewalt ausschließen.

Kostenentscheidung:

Kosten

33 Die Auslagen der deutschen und der italienischen Regierung sowie der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

auf die ihm vom Bundessozialgericht mit Beschluß vom 15. Juli 1993 vorgelegten Fragen für Recht erkannt:

1) Artikel 25 Absatz 4 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in ihrer durch die Verordnung (EWG) Nr. 2001/83 des Rates vom 2. Juni 1983 geänderten und aktualisierten Fassung ist dahin auszulegen, daß der zuständige Träger auch über einen Antrag auf Verlängerung des Zeitraums der Übernahme von Leistungen bei Krankheit zu entscheiden hat, der von dem arbeitslosen Arbeitnehmer nicht ausdrücklich gestellt wurde, sich aber aus einem Antrag auf Geldleistungen bei Krankheit ableiten lässt, der kurz vor Ablauf der Frist des Artikels 25 Absatz 1 der Verordnung bei dem Krankenversicherungsträger des Ortes, an den sich der Arbeitslose begeben hat, eingereicht wurde.

2) Der zuständige Träger hat für die Feststellung, ob ein Fall höherer Gewalt im Sinne des Artikels 25 Absatz 4 der Verordnung Nr. 1408/71 vorliegt, die Umstände des Einzelfalls zu beurteilen, um festzustellen, ob von dem arbeitslosen Arbeitnehmer vernünftigerweise die Rückkehr in den zuständigen Staat verlangt werden kann. Er hat dabei nicht nur die Gefahr einer erheblichen Verschlechterung des Gesundheitszustands des Arbeitnehmers oder einer Minderung seiner Heilungschancen durch die Rückreise, sondern auch die Beschwerlichkeit der Anstrengung, die dieser dadurch auf sich nehmen müsste, zu berücksichtigen. Dabei kann zum einen der Begriff der höheren Gewalt nicht auf die absolute Unmöglichkeit der Rückkehr in den zuständigen Staat beschränkt werden, und zum anderen kann die physische Reisefähigkeit als solche nicht die Feststellung des Vorliegens eines solchen Falls höherer Gewalt ausschließen.

Ende der Entscheidung

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