Judicialis Rechtsprechung

Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:

Zurück

Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 10.02.1994
Aktenzeichen: C-398/92
Rechtsgebiete: EWG-Vertrag, ZPO


Vorschriften:

EWG-Vertrag Art. 177
EWG-Vertrag Art. 7
EWG-Vertrag Art. 220
ZPO § 917
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

1. Nach Artikel 220 vierter Gedankenstrich EWG-Vertrag leiten die Mitgliedstaaten, soweit erforderlich, untereinander Verhandlungen ein, um zugunsten ihrer Staatsangehörigen die Vereinfachung der Förmlichkeiten für die gegenseitige Anerkennung und Vollstreckung richterlicher Entscheidungen sicherzustellen. Diese Vorschrift bezweckt, das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes durch den Erlaß von Zuständigkeitsregeln für die damit zusammenhängenden Rechtsstreitigkeiten und soweit wie möglich die Beseitigung der Schwierigkeiten in bezug auf die Anerkennung und Vollstreckung der Urteile im Gebiet der Vertragsstaaten zu erleichtern. Daraus folgt, daß die Bestimmungen des Brüsseler Übereinkommens vom 27. September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, das auf der Grundlage dieses Artikels und in dem darin festgelegten Rahmen geschlossen wurde, und die nationalen Vorschriften, auf die das Übereinkommen verweist, im Zusammenhang mit dem EWG-Vertrag stehen.

2. Artikel 7 EWG-Vertrag in Verbindung mit Artikel 220 EWG-Vertrag und dem Brüsseler Übereinkommen steht einer nationalen Zivilprozeßvorschrift entgegen, die bei einem Urteil, das im Inland vollstreckt werden müsste, den Arrest nur zulässt, wenn ohne dessen Verhängung die Vollstreckung wahrscheinlich vereitelt oder wesentlich erschwert werden würde, während sie bei einem Urteil, das in einem anderen Mitgliedstaat vollstreckt werden müsste, den Arrest schon allein deshalb zulässt, weil die Vollstreckung im Ausland stattfinden müsste.

Die von einer derartigen Vorschrift vorgenommene Unterscheidung ist nämlich nicht durch objektive Umstände gerechtfertigt, da alle Mitgliedstaaten Vertragsparteien des genannten Übereinkommens sind und die Voraussetzungen für die Vollstreckung der Entscheidungen sowie die mit den Schwierigkeiten, die sie verursacht, verbundenen Risiken daher in allen Mitgliedstaaten die gleichen sind.


URTEIL DES GERICHTSHOFES (SECHSTE KAMMER) VOM 10. FEBRUAR 1994. - MUND & FESTER GEGEN HATREX INTERNATIONAAL TRANSPORT. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: HANSEATISCHES OBERLANDESGERICHT HAMBURG - DEUTSCHLAND. - ARREST - ZUREICHENDER GRUND: VOLLSTRECKUNG EINES URTEILS IN EINEM ANDEREN VERTRAGSSTAAT DES BRUESSELER UEBEREINKOMMENS - DISKRIMINIERUNGSVERBOT. - RECHTSSACHE C-398/92.

Entscheidungsgründe:

1 Das Hanseatische Oberlandesgericht, Hamburg, hat mit Beschluß vom 16. November 1992, beim Gerichtshof eingegangen am 23. November 1992, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag eine Frage nach der Auslegung von Artikel 7 EWG-Vertrag in Verbindung mit Artikel 220 EWG-Vertrag und dem Übereinkommen vom 27. September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 1972, L 299 S. 32) in der später geänderten Fassung (im folgenden: Brüsseler Übereinkommen) zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Frage stellt sich in einem Rechtsstreit zwischen der deutschen Firma Mund & Fester und der Firma Hatrex Internationaal Transport, einer internationalen Spedition mit Sitz in den Niederlanden, über die Anordnung eines dinglichen Arrests in das in Deutschland befindliche Vermögen der Firma Hatrex.

3 Die Firma Hatrex hatte Haselnüsse von Carsamba, Türkei, nach Hamburg transportiert, die während der Fahrt infolge einer Undichtigkeit des transportierenden Lastzugs durch Nässe beschädigt worden waren.

4 Die Firma Mund & Fester verlangte aus übergegangenem Recht des Auftraggebers Schadensersatz und stellte zur Sicherung der Beitreibung dieser Forderung am 23. Juni 1992 beim Landgericht Hamburg einen Antrag auf dinglichen Arrest gemäß § 917 der Zivilprozessordnung (ZPO) in den von der Firma Hatrex beim Transport der Haselnüsse eingesetzten Lastzug, der sich noch in Deutschland befand.

5 § 917 ZPO lautet:

"(1) Der dingliche Arrest findet statt, wenn zu besorgen ist, daß ohne dessen Verhängung die Vollstreckung des Urteils vereitelt oder wesentlich erschwert werden würde.

(2) Als ein zureichender Arrestgrund ist es anzusehen, wenn das Urteil im Ausland vollstreckt werden müsste."

6 Das Landgericht Hamburg lehnte den beantragten Arrest mit Beschluß vom gleichen Tag ab. Seiner Ansicht nach lag ein Arrestgrund im Sinne des § 917 Absatz 2 ZPO nicht vor, da es sich um die Vollstreckung eines Urteils in einem Vertragsstaat des Brüsseler Übereinkommens handele.

7 Die Firma Mund & Fester legte gegen den Beschluß des Landgerichts Hamburg beim Hanseatischen Oberlandesgericht u. a. mit der Begründung Beschwerde ein, daß die Auslegung des § 917 Absatz 2 ZPO durch das Brüsseler Übereinkommen nicht berührt werde.

8 Da das Hanseatische Oberlandesgericht der Ansicht war, daß die Entscheidung über den Arrestantrag von der Frage abhänge, ob ein Arrestgrund im Sinne des § 917 Absatz 2 ZPO vorliege, wenn ein Urteil in den Niederlanden vollstreckt werden müsste, hat es das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Ist die Notwendigkeit, einen Arrest im Ausland zu vollstrecken (§ 917 Abs. 2 ZPO), auch dann ein Arrestgrund, wenn es um die Vollstreckung in einem Land geht, das dem EWG-Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (EuGVÜ) vom 27. September 1968 beigetreten ist?

9 Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im wesentlichen wissen, ob Artikel 7 EWG-Vertrag in Verbindung mit Artikel 220 EWG-Vertrag und dem Brüsseler Übereinkommen einer nationalen Zivilprozeßvorschrift entgegensteht, die bei einem Urteil, das im Inland vollstreckt werden müsste, den Arrest nur zulässt, wenn ohne dessen Verhängung die Vollstreckung wahrscheinlich vereitelt oder wesentlich erschwert werden würde, während sie bei einem Urteil, das in einem anderen Mitgliedstaat vollstreckt werden müsste, den Arrest schon allein deshalb zulässt, weil die Vollstreckung im Ausland stattfinden müsste.

10 Für die Beantwortung dieser Frage ist zunächst zu prüfen, ob diese Vorschrift in den Anwendungsbereich des EWG-Vertrags fällt.

11 Nach Artikel 220 vierter Gedankenstrich EWG-Vertrag leiten die Mitgliedstaaten, soweit erforderlich, untereinander Verhandlungen ein, um zugunsten ihrer Staatsangehörigen die Vereinfachung der Förmlichkeiten für die gegenseitige Anerkennung und Vollstreckung richterlicher Entscheidungen sicherzustellen. Obwohl diese Vorschrift keinen unmittelbar geltenden Rechtssatz aufstellen will, sondern nur den Rahmen für Verhandlungen zwischen den Mitgliedstaaten absteckt (vgl. Urteil vom 11. Juli 1985 in der Rechtssache 137/84, Mutsch, Slg. 1985, 2681, Randnr. 11), bezweckt sie, das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes durch den Erlaß von Zuständigkeitsregeln für die damit zusammenhängenden Rechtsstreitigkeiten und soweit wie möglich die Beseitigung der Schwierigkeiten in bezug auf die Anerkennung und Vollstreckung der Urteile im Gebiet der Vertragsstaaten zu erleichtern.

12 Auf der Grundlage dieses Artikels und in dem darin festgelegten Rahmen haben die Mitgliedstaaten das Brüsseler Übereinkommen geschlossen. Folglich stehen die Bestimmungen dieses Übereinkommens, die sich auf die gerichtliche Zuständigkeit und die Vereinfachung der Förmlichkeiten für die Anerkennung und Vollstreckung der Urteile beziehen, sowie die nationalen Vorschriften, auf die das Übereinkommen verweist, im Zusammenhang mit dem EWG-Vertrag.

13 Im vorliegenden Fall ist zu prüfen, ob die nationale Vorschrift, um die es im Ausgangsverfahren geht, zu einer nach Artikel 7 EWG-Vertrag verbotenen Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit führt.

14 Nach ständiger Rechtsprechung untersagt Artikel 7 EWG-Vertrag im Anwendungsbereich des Vertrags jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit. Dieser Artikel verbietet nicht nur offensichtliche Diskriminierungen aufgrund der Staatsangehörigkeit, sondern auch alle versteckten Formen der Diskriminierung, die durch die Anwendung anderer Unterscheidungsmerkmale tatsächlich zu dem gleichen Ergebnis führen (vgl. Urteil vom 29. Oktober 1980 in der Rechtssache 22/80, Boussac, Slg. 1980, 3427, Randnr. 9).

15 Die nationale Vorschrift, um die es im Ausgangsverfahren geht, enthält eine versteckte Form der Diskriminierung.

16 Die Prüfung des § 917 Absatz 2 ZPO ergibt zwar keine offensichtliche Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit, da die Bestimmung in allen Fällen gilt, in denen ein Urteil im Ausland vollstreckt werden muß, und zwar auch dann, wenn die vom Arrest erfassten Gegenstände einem deutschen Staatsangehörigen gehören; doch ist, wie die Kommission zu Recht bemerkt, dieser letztgenannte Fall selten, da die grosse Mehrzahl der Vollstreckungen im Ausland natürliche Personen, die nicht die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, oder juristische Personen, die ihren Sitz nicht in der Bundesrepublik Deutschland haben, betrifft. Daraus folgt, daß die fragliche nationale Vorschrift tatsächlich zu dem gleichen Ergebnis führt wie eine Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit.

17 Diese Feststellung genügt jedoch nicht, um daraus auf die Unvereinbarkeit einer Vorschrift, wie sie im Ausgangsverfahren in Rede steht, mit Artikel 7 EWG-Vertrag zu schließen. Dafür ist ausserdem erforderlich, daß die fragliche Vorschrift nicht durch objektive Umstände gerechtfertigt ist.

18 Insoweit ist darauf hinzuweisen, daß der Arrest dem Gläubiger die Möglichkeit garantiert, ein späteres Urteil gegen den Schuldner tatsächlich und rechtzeitig vollstrecken zu lassen. Nach § 917 Absatz 1 ZPO ist diese Sicherungsmaßnahme zuzulassen, wenn nach den Umständen des Falles vernünftigerweise zu besorgen ist, daß ohne eine solche Maßnahme die Vollstreckung des späteren Urteils vereitelt oder wesentlich erschwert werden würde. Nach Absatz 2 dieser Vorschrift werden diese Schwierigkeiten schon allein deshalb vermutet, weil die Vollstreckung in einem anderen Staat als der Bundesrepublik Deutschland stattfinden muß.

19 Eine derartige Vermutung ist zwar gerechtfertigt, wenn die Vollstreckung des späteren Urteils im Gebiet eines Drittstaats zu erfolgen hat; sie ist es aber nicht, wenn es darum geht, das Urteil im Gebiet der Mitgliedstaaten der Gemeinschaft zu vollstrecken. Alle diese Staaten sind nämlich Vertragsparteien des Brüsseler Übereinkommens, deren Hoheitsgebiete, wie es im Bericht zu diesem Übereinkommen (ABl. 1979, C 59, S. 1, insb. S. 13) heisst, als ein einheitliches Ganzes angesehen werden können.

20 Obwohl also die Voraussetzungen für die Vollstreckung der Entscheidungen und die mit den Schwierigkeiten, die sie verursacht, verbundenen Risiken in allen Mitgliedstaaten die gleichen sind, geht § 917 Absatz 2 ZPO im wesentlichen davon aus, daß diese Risiken oder Schwierigkeiten schon allein deshalb sicher und bestimmt sind, weil die Vollstreckung im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats als in Deutschland stattfinden wird.

21 Daraus folgt, daß die nationale Vorschrift nicht durch objektive Umstände gerechtfertigt ist.

22 Nach dem Vorstehenden ist auf die vorgelegte Frage zu antworten, daß Artikel 7 EWG-Vertrag in Verbindung mit Artikel 220 EWG-Vertrag und dem Brüsseler Übereinkommen einer nationalen Zivilprozeßvorschrift entgegensteht, die bei einem Urteil, das im Inland vollstreckt werden müsste, den Arrest nur zulässt, wenn ohne dessen Verhängung die Vollstreckung wahrscheinlich vereitelt oder wesentlich erschwert werden würde, während sie bei einem Urteil, das in einem anderen Mitgliedstaat vollstreckt werden müsste, den Arrest schon allein deshalb zulässt, weil die Vollstreckung im Ausland stattfinden müsste.

Kostenentscheidung:

Kosten

23 Die Auslagen der deutschen Regierung und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)

auf die ihm vom Hanseatischen Oberlandesgericht, Hamburg, mit Beschluß vom 16. November 1992 vorgelegte Frage für Recht erkannt:

Artikel 7 EWG-Vertrag in Verbindung mit Artikel 220 EWG-Vertrag und dem Brüsseler Übereinkommen vom 27. September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen steht einer nationalen Zivilprozeßvorschrift entgegen, die bei einem Urteil, das im Inland vollstreckt werden müsste, den Arrest nur zulässt, wenn ohne dessen Verhängung die Vollstreckung wahrscheinlich vereitelt oder wesentlich erschwert werden würde, während sie bei einem Urteil, das in einem anderen Mitgliedstaat vollstreckt werden müsste, den Arrest schon allein deshalb zulässt, weil die Vollstreckung im Ausland stattfinden müsste.

Ende der Entscheidung

Zurück