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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 09.10.2008
Aktenzeichen: C-404/07
Rechtsgebiete: Rahmenbeschluss 2001/220/JI


Vorschriften:

Rahmenbeschluss 2001/220/JI Art. 2
Rahmenbeschluss 2001/220/JI Art. 3
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer)

9. Oktober 2008

"Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen - Rahmenbeschluss 2001/220/JI - Stellung des Opfers im Strafverfahren - Privatkläger, der an die Stelle des Staatsanwalts tritt - Aussage des Opfers als Zeuge"

Parteien:

In der Rechtssache C-404/07

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 35 EU, eingereicht vom Fovárosi Bíróság (Ungarn) mit Entscheidung vom 6. Juli 2007, beim Gerichtshof eingegangen am 27. August 2007, in dem Strafverfahren

Gyorgy Katz

gegen

István Roland Sós

erlässt

DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Rosas sowie der Richter J. N. Cunha Rodrigues (Berichterstatter) und J. Klucka, der Richterin P. Lindh und des Richters A. Arabadjiev,

Generalanwältin: J. Kokott,

Kanzler: B. Fülöp, Verwaltungsrat,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 19. Juni 2008,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

- von Herrn Katz, vertreten durch L. Kiss, ügyvéd,

- von Herrn Sós, vertreten durch L. Helmeczy, ügyvéd,

- der ungarischen Regierung, vertreten durch J. Fazekas, R. Somssich und K. Szíjjártó als Bevollmächtigte,

- der österreichischen Regierung, vertreten durch E. Riedl als Bevollmächtigten,

- der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch R. Troosters und B. Simon als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 10. Juli 2008

folgendes

Urteil

Entscheidungsgründe:

1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 2 und 3 des Rahmenbeschlusses 2001/220/JI des Rates vom 15. März 2001 über die Stellung des Opfers im Strafverfahren (ABl. L 82, S. 1, im Folgenden: Rahmenbeschluss).

2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Strafverfahrens gegen Herrn Sós, der von Herrn Katz als Ersatzprivatkläger wegen Betrugs strafrechtlich verfolgt wird.

Rechtlicher Rahmen

Das Recht der Europäischen Union

3 Im vierten Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses heißt es:

"Die Mitgliedstaaten sollten ihre Rechts- und Verwaltungsvorschriften angleichen, soweit dies für die Erreichung des Ziels erforderlich ist, um Opfern von Straftaten unabhängig davon, in welchem Land sie sich aufhalten, ein hohes Schutzniveau zu bieten."

4 Nach Art. 1 des Rahmenbeschlusses bezeichnet der Ausdruck "Opfer" im Sinne dieses Beschlusses:

"a) ... eine natürliche Person, die einen Schaden, insbesondere eine Beeinträchtigung ihrer körperlichen oder geistigen Unversehrtheit, seelisches Leid oder einen wirtschaftlichen Verlust als direkte Folge von Handlungen oder Unterlassungen erlitten hat, die einen Verstoß gegen das Strafrecht eines Mitgliedstaats darstellen".

5 Art. 2 des Rahmenbeschlusses bestimmt:

"(1) Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass in ihren Strafrechtssystemen Opfern tatsächlich und angemessen Rechnung getragen wird. Sie bemühen sich weiterhin nach Kräften, um zu gewährleisten, dass das Opfer während des Verfahrens mit der gebührenden Achtung seiner persönlichen Würde behandelt wird, und erkennen die Rechte und berechtigten Interessen des Opfers insbesondere im Rahmen des Strafverfahrens an.

(2) Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass besonders gefährdete Opfer eine ihrer Situation am besten entsprechende spezifische Behandlung erfahren."

6 Art. 3 des Rahmenbeschlusses sieht vor:

"Die Mitgliedstaaten gewährleisten, dass das Opfer im Verfahren gehört werden und Beweismaterial liefern kann.

Die Mitgliedstaaten ergreifen die gebotenen Maßnahmen, damit ihre Behörden Opfer nur in dem für das Strafverfahren erforderlichen Umfang befragen."

7 Art. 5 des Rahmenbeschlusses lautet:

"Die Mitgliedstaaten ergreifen die erforderlichen Maßnahmen, damit die Kommunikationsschwierigkeiten, die das Verständnis des als Zeuge oder Partei auftretenden Opfers für die wichtigen Phasen des betreffenden Strafverfahrens und seine Beteiligung daran beeinträchtigen, so gering wie möglich sind; sie treffen dabei Maßnahmen, wie sie vergleichbar für die Beschuldigten ergriffen werden."

8 Art. 7 des Rahmenbeschlusses bestimmt:

"Die Mitgliedstaaten bieten Opfern, die Zeuge oder Partei sind, nach den geltenden einzelstaatlichen Vorschriften die Möglichkeit, sich Ausgaben, die ihnen aufgrund ihrer rechtmäßigen Beteiligung am Strafverfahren entstanden sind, erstatten zu lassen."

9 Laut der am 14. Dezember 2005 im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlichten Unterrichtung über die Erklärungen der Französischen Republik und der Republik Ungarn zur Anerkennung der Zuständigkeit des Gerichtshofs für Vorabentscheidungen über die in Art. 35 des Vertrags über die Europäische Union genannten Rechtsakte (ABl. L 327, S. 19) hat die Republik Ungarn eine Erklärung nach Art. 35 Abs. 2 EU abgegeben, mit der sie die Zuständigkeit des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften für Entscheidungen gemäß Art. 35 Abs. 3 Buchst. a EU anerkannt hat.

10 Im Beschluss der ungarischen Regierung (kormányhatározat) 2088/2003 (V. 15.) über eine Erklärung zur Anrufung des Gerichtshofs im Wege des Vorabentscheidungsersuchens vom 15. Mai 2003 heißt es jedoch: "Die Republik Ungarn erklärt gemäß Art. 35 Abs. 2 EU, dass sie die Zuständigkeit des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften nach Art. 35 Abs. 3 Buchst. b EU anerkennt".

11 Aus der am 14. März 2008 im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlichten Unterrichtung über die Erklärungen der Republik Ungarn, der Republik Lettland, der Republik Litauen und der Republik Slowenien zur Anerkennung der Zuständigkeit des Gerichtshofs für Vorabentscheidungen über die in Art. 35 des Vertrags über die Europäische Union genannten Rechtsakte (ABl. L 70, S. 23) ergibt sich, dass die Republik Ungarn ihre frühere Erklärung zurückgenommen hat und "erklärt, dass sie die Zuständigkeit des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften gemäß Artikel 35 Absatz 2 und Artikel 35 Absatz 3 Buchstabe b des Vertrags über die Europäische Union anerkennt".

Nationales Recht

12 Art. 28 Abs. 7 des Gesetzes Nr. XIX von 1998 über das Strafverfahren (Büntetoeljárásról szóló 1998 évi XIX. törvény) bestimmt:

"Unter Beachtung der in diesem Gesetz aufgestellten Voraussetzungen erhebt der Staatsanwalt Anklage und vertritt diese, außer im Fall der Privatklage oder der Ersatzprivatklage, vor Gericht oder entscheidet, die Sache einem Mediationsverfahren zu unterwerfen, die Strafverfolgung auszusetzen oder teilweise einzustellen. Der Staatsanwalt kann die Anklage fallen lassen oder abändern. Er kann die Verfahrensakten während des gerichtlichen Verfahrens prüfen. Er ist berechtigt, zu jeder sich im Verfahren stellenden Frage, über die das Gericht zu entscheiden hat, Anträge zu stellen."

13 Art. 31 Abs. 1 dieses Gesetzes sieht vor:

"In einem Strafverfahren kann nicht als Staatsanwalt auftreten,

...

b) wer in dem Verfahren als ... Opfer, Privatkläger, Ersatzprivatkläger, Nebenkläger, Anzeigender oder sein Vertreter teilnimmt oder teilgenommen hat, und jede ihm nahestehende Person,

c) wer in der Strafsache als ... Zeuge oder als Sachverständiger oder Fachkundiger teilnimmt oder teilgenommen hat,

..."

14 In Art. 51 Abs. 1 dieses Gesetzes ist das Opfer als eine Person definiert, deren Recht oder berechtigte Interessen durch die Straftat verletzt oder gefährdet worden sind. Nach Abs. 2 dieser Vorschrift ist das Opfer berechtigt,

"a) bei den Verfahrenshandlungen anwesend zu sein und in es betreffende Verfahrensakten Einsicht zu nehmen, sofern in diesem Gesetz nichts anderes bestimmt ist,

b) in jeder Phase des Verfahrens Anträge zu stellen und Erklärungen abzugeben,

c) über seine Rechte und Pflichten im Strafverfahren vom Gericht, vom Staatsanwalt und von der Ermittlungsbehörde Auskunft zu erhalten,

d) in den in diesem Gesetz vorgesehenen Fällen Rechtsbehelfe einzulegen".

15 Art. 53 Abs. 1 des Gesetzes Nr. XIX von 1998 lautet:

"Das Opfer kann in den in diesem Gesetz vorgesehenen Fällen als Ersatzprivatkläger auftreten, wenn

a) der Staatsanwalt oder die Ermittlungsbehörde die Anzeige zurückgewiesen oder die Ermittlungen eingestellt hat,

b) der Staatsanwalt teilweise von der Anklageerhebung abgesehen hat,

c) der Staatsanwalt die Anklage fallen gelassen hat,

d) der Staatsanwalt als Ergebnis der Ermittlungen keine mit öffentlicher Anklage zu verfolgende Straftat festgestellt und daher keine Anklage erhoben oder - als Ergebnis der im Privatklageverfahren angeordneten Ermittlungen - nicht die Anklagevertretung übernommen hat,

e) der Staatsanwalt die Anklage in der Verhandlung deshalb fallen gelassen hat, weil die Straftat seiner Auffassung nach nicht mit öffentlicher Anklage zu verfolgen ist."

16 In Art. 236 des Gesetzes heißt es:

"Sofern in diesem Gesetz nichts anderes bestimmt ist, nimmt der Ersatzprivatkläger im Gerichtsverfahren die Rechte des Staatsanwalts wahr, darunter auch die Beantragung von mit der Anordnung des Entzugs oder der Einschränkung der persönlichen Freiheit des Angeklagten verbundenen Zwangsmitteln. Der Ersatzprivatkläger kann nicht den Entzug des elterlichen Aufsichtsrechts beantragen."

17 Art. 343 Abs. 5 des Gesetzes bestimmt:

"Der Ersatzprivatkläger kann die Anklage nicht erweitern."

Sachverhalt und Vorlagefrage

18 Im Rahmen einer von Herrn Katz als Ersatzprivatkläger beim Fovárosi Bíróság (Gerichtshof Budapest) gegen Herrn Sós erhobenen Strafklage wird diesem vorgeworfen, Betrügereien im Sinne von Art. 318 Abs. 1 des ungarischen Strafgesetzbuchs (Bünteto törvénykönyv) begangen und Herrn Katz einen erheblichen Schaden im Sinne von Abs. 6 Buchst. a dieser Vorschrift zugefügt zu haben. Dieses Verfahren wurde auf die in dieser Sache ergangene Einstellungsentscheidung des Staatsanwalts hin eingeleitet.

19 Der Fovárosi Bíróság erläutert, dass die von einem Ersatzprivatkläger angestrengte Strafklage eine im ungarischen Strafprozessrecht vorgesehene besondere Art der Strafverfolgung sei. Neben der Anklageerhebung durch den Staatsanwalt sehe das ungarische Recht vor, dass das Opfer kleinerer Delikte die Strafverfolgung einleiten und betreiben könne: Dabei handele es sich um die "Privatklage" ("magánvád"). Die "Ersatzprivatklage"("pótmagánvád"), um die es sich im Ausgangsverfahren handle, sei die dritte Art der Strafklage, die es dem Opfer einer Straftat ermögliche, insbesondere dann einzuschreiten, wenn der Staatsanwalt seine Strafverfolgung einstelle. Die Privatklage und die Ersatzprivatklage seien nicht mit dem Beitritt zum Strafverfahren als Nebenkläger zu verwechseln.

20 Der Antrag von Herrn Katz, ihn als Opfer im Rahmen der in Rede stehenden Ersatzprivatklage als Zeugen vorzuladen und anzuhören, wurde vom Fovárosi Bíróság zurückgewiesen, das über dieses Beweisangebot entschied und die Erörterung dieser Frage abschloss.

21 In der mündlichen Verhandlung vor dem vorlegenden Gericht machte Herr Katz geltend, dieses habe dadurch, dass es sich geweigert habe, das Opfer, das zugleich Ankläger sei, als Zeugen anzuhören, die Grundsätze des fairen Verfahrens und der Waffengleichheit verletzt, die in der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) verankert seien. Außerdem sei ihm bereits im Ermittlungsverfahren ein Schaden entstanden, weil die Ermittlungsbehörde ihrer Pflicht zur Sachverhaltsaufklärung nicht nachgekommen sei; allerdings ermögliche gerade das Rechtsinstitut des Ersatzklägers es, diesen Mangel zu beheben, damit durch die Aussage des persönlich erscheinenden Opfers die Wahrheit festgestellt werden und das Opfer Ersatz seines Schadens erlangen könne. Andernfalls werde das Opfer dem Angeklagten gegenüber benachteiligt.

22 Im Rahmen einer Sitzung, die am 6. Juli 2007 vor dem vorlegenden Gericht stattfand, eröffnete dieses das Ermittlungsverfahren erneut. Es stellte fest, dass Art. 236 des Gesetzes Nr. XIX von 1998 zwar den Privatkläger vom Verbot, als Staatsanwalt aufzutreten, ausnehme, aber keine Ausnahme vom Verbot in Art. 31 Abs. 1 des Gesetzes vorsehe, wonach ein Zeuge nicht als Staatsanwalt auftreten könne. Der Fovárosi Bíróság schloss daraus, dass ein Ersatzprivatkläger im Rahmen eines solchen Strafverfahrens nicht als Zeuge gehört werden könne. Für die Privatklage enthalte das Gesetz eine ausdrückliche Vorschrift, dass der Privatkläger als Zeuge gehört werden könne. Selbst wenn sich die Verfahren der Privatklage und der Ersatzprivatklage zweifellos ähnelten, dürften - ohne entsprechende Verweisung - auf diese beiden unterschiedlichen Verfahrensarten nicht die gleichen Regeln angewandt werden.

23 Der Fovárosi Bíróság führt aus, der ungarische Gesetzgeber habe selbst anerkannt, dass das Institut der Ersatzprivatklage ein wichtiges Instrument sei, mit dem der Untätigkeit der Justizbehörden begegnet werden könne. Es stehe zudem außer Zweifel, dass dieses Rechtsinstitut voraussetze, dass es dem Opfer tatsächlich möglich sei, mittels eines zwingenden Verfahrens eine Gerichtsentscheidung zu erwirken. Es könnte sich jedoch als schwierig, wenn nicht gar als unmöglich erweisen, dieses Ergebnis zu erreichen, wenn das Opfer, das als Ersatzprivatkläger auftrete, nicht als Zeuge gehört werden und selbst mittels seiner Aussage Beweismaterial liefern könnte, obwohl es meist das Opfer sei, das den aufzuklärenden Sachverhalt kenne.

24 Es sei jedoch auch anzuerkennen, dass der Ersatzprivatkläger, da er über die Befugnisse eines Staatsanwalts verfüge, ziemlich umfangreiche Rechte habe. Aufgrund seiner Antragsbefugnis könne er Beweismaterial liefern. Außerdem habe er das Recht, Erklärungen abzugeben.

25 Der Fovárosi Bíróság fragt sich, was es bedeutet, den Opfern "tatsächlich und angemessen" Rechnung zu tragen und zu gewährleisten, dass "das Opfer im Verfahren gehört werden und Beweismaterial liefern kann", wie es in den Art. 2 und 3 des Rahmenbeschlusses vorgesehen ist, und möchte wissen, ob das nationale Gericht in diesem Zusammenhang die Möglichkeit haben muss, das Opfer einer Straftat im Rahmen eines Ersatzprivatklageverfahrens als Zeugen anzuhören.

26 Der im ersten Rechtszug entscheidende Fovárosi Bíróság hat daher das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Sind die Art. 2 und 3 des Rahmenbeschlusses dahin auszulegen, dass dem nationalen Gericht die Möglichkeit gesichert werden muss, das Opfer einer Straftat auch im Ersatzprivatklageverfahren als Zeugen zu hören?

Zur Zulässigkeit

27 Wie sich aus Randnr. 10 des vorliegenden Urteils ergibt, hat die Republik Ungarn durch Regierungsbeschluss 2088/2003 vom 15. Mai 2003 erklärt, die Zuständigkeit des Gerichtshofs für die Entscheidung über die Gültigkeit und die Auslegung der in Art. 35 EU genannten Rechtsakte gemäß Art. 35 Abs. 3 Buchst. b EU anzuerkennen. Das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen ist in Übereinstimmung mit dieser Erklärung eingereicht worden, so dass der Fovárosi Bíróság zu den Gerichten gehört, die nach Art. 35 EU den Gerichtshof anrufen dürfen.

28 Nach Auffassung der ungarischen Regierung ist das Vorabentscheidungsersuchen dennoch unzulässig, weil es hypothetisch sei. Der Fovárosi Bíróság stelle zu Unrecht fest, dass der Ersatzprivatkläger nach ungarischem Recht im Strafverfahren nicht als Zeuge gehört werden dürfe. Die Regierung beruft sich hierfür auf das Gutachten Nr. 4/2007 der Strafkammer des Legfelsöbb Bíróság (Oberster Gerichtshof) vom 14. Mai 2007, in dem ausgeführt wurde, dass "der Anhörung eines Opfers, das als Ersatzprivatkläger auftritt, als Zeuge im Strafverfahren kein rechtliches Hindernis entgegensteht". Auch nach Ansicht von Herrn Katz steht außer Zweifel, dass der Ersatzprivatkläger nach ungarischem Recht im Strafverfahren als Zeuge gehört werden dürfe.

29 Nach Art. 46 Buchst. b EU gelten die Bestimmungen des EG-Vertrags betreffend die Zuständigkeit des Gerichtshofs und die Ausübung dieser Zuständigkeit, zu denen Art. 234 EG gehört, für die Bestimmungen des Titels VI des EU-Vertrags nach Maßgabe des Art. 35 EU. Daraus folgt, dass die Regelung des Art. 234 EG auf die Zuständigkeit des Gerichtshofs zur Vorabentscheidung nach Art. 35 EU unter den dort genannten Voraussetzungen Anwendung findet (vgl. insbesondere Urteil vom 12. August 2008, Santesteban Goicoechea, C-296/08 PPU, Slg. 2008, I-0000, Randnr. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung).

30 Art. 35 EU macht ebenso wie Art. 234 EG die Befassung des Gerichtshofs mit einem Vorabentscheidungsersuchen von der Voraussetzung abhängig, dass das nationale Gericht "eine Entscheidung darüber zum Erlass seines Urteils für erforderlich hält", so dass die Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Zulässigkeit der nach Art. 234 EG zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen grundsätzlich auf Ersuchen um Vorabentscheidung durch den Gerichtshof nach Art. 35 EU übertragbar ist (vgl. insbesondere Urteil vom 28. Juni 2007, Dell'Orto, C-467/05, Slg. 2007, I-5557, Randnr. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung).

31 Folglich kann die Vermutung der Erheblichkeit der von den nationalen Gerichten zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen nur in Ausnahmefällen ausgeräumt werden, und zwar dann, wenn die erbetene Auslegung der in diesen Fragen erwähnten Bestimmungen des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsverfahrens steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen oder rechtlichen Angaben verfügt, die für eine sachdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind. Abgesehen von solchen Fällen ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, über die ihm vorgelegten Fragen nach der Auslegung von Rechtsakten im Sinne von Art. 35 Abs. 1 EU zu entscheiden (Urteil Dell'Orto, Randnr. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung).

32 Wie sich aus den Randnrn. 18 bis 25 des vorliegenden Urteils ergibt, werden in der Vorlageentscheidung der dem Ausgangsverfahren zugrunde liegende wesentliche Sachverhalt und die unmittelbar einschlägigen Bestimmungen des anwendbaren nationalen Rechts dargestellt sowie die Gründe, aus denen das vorlegende Gericht um Auslegung des Rahmenbeschlusses ersucht, und der Zusammenhang zwischen diesem Beschluss und den im betreffenden Bereich anwendbaren nationalen Rechtsvorschriften erläutert.

33 Entgegen dem Vorbringen der ungarischen Regierung ist nicht offensichtlich, dass das sich im Ausgangsverfahren stellende Problem hypothetisch ist, zumal feststeht, dass das vorlegende Gericht den Antrag von Herrn Katz, im Rahmen des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Ersatzprivatklageverfahrens als Zeuge vernommen zu werden, mit der Begründung abgelehnt hat, das ungarische Recht sehe dieses Recht in einem solchen Fall nicht ausdrücklich vor.

34 Im Übrigen ist der Gerichtshof nicht befugt, im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens darüber zu entscheiden, wie nationale Vorschriften auszulegen sind oder ob ihre Auslegung durch das vorlegende Gericht richtig ist (vgl. insbesondere - zu Art. 234 EG - Urteil vom 14. Februar 2008, Dynamic Medien, C-244/06, Slg. 2008, I-0000, Randnr. 19).

35 Das Vorabentscheidungsersuchen ist demnach zu beantworten.

36 Dem Antrag von Herrn Katz, der Gerichtshof möge die Vorlagefrage erweitern und zusätzlich prüfen, ob der Rahmenbeschluss impliziere, dass bestimmte, dem Staatsanwalt nach ungarischem Recht zustehende Ermittlungsbefugnisse auf den Ersatzprivatkläger erstreckt werden müssten, ist dagegen nicht stattzugeben.

37 Nach Art. 35 EU können nämlich nur die nationalen Gerichte und nicht die Parteien des Ausgangsverfahrens den Gerichtshof anrufen. Damit haben auch die nationalen Gerichte zu bestimmen, welche Fragen dem Gerichtshof vorzulegen sind; die Parteien können die Fragen inhaltlich nicht ändern (vgl. Urteil Santesteban Goicoechea, Randnr. 46).

38 Eine Beantwortung der Fragen von Herrn Katz wäre zudem mit der dem Gerichtshof durch Art. 35 EU übertragenen Rolle und mit seiner Verpflichtung unvereinbar, sicherzustellen, dass die Regierungen der Mitgliedstaaten und die Verfahrensbeteiligten die Möglichkeit haben, gemäß Art. 23 der Satzung des Gerichtshofs Erklärungen abzugeben, wobei zu berücksichtigen ist, dass den Verfahrensbeteiligten nach dieser Vorschrift nur die Vorlageentscheidungen zugestellt werden (Urteil Santesteban Goicoechea, Randnr. 47).

Zur Vorlagefrage

39 Es steht fest, dass eine Person in der Lage von Herrn Katz Opfer im Sinne von Art. 1 Buchst. a des Rahmenbeschlusses ist; danach ist ein Opfer eine natürliche Person, die einen Schaden als direkte Folge von Handlungen oder Unterlassungen erlitten hat, die einen Verstoß gegen das Strafrecht eines Mitgliedstaats darstellen.

40 Wie sich aus den Art. 5 und 7 des Rahmenbeschlusses ergibt, regelt dieser die Lage des Opfers unabhängig davon, ob es als Zeuge oder als Partei auftritt.

41 Der Rahmenbeschluss enthält keine Bestimmung, die den Fall, dass das Opfer in einem Strafverfahren - wie im Ausgangsverfahren - anstelle der öffentlichen Behörde die Aufgaben des Anklägers wahrnimmt, von seinem Anwendungsbereich ausnimmt.

42 Aus dem vierten Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses ergibt sich, dass den Opfern von Straftaten ein hohes Schutzniveau zu bieten ist.

43 Nach Art. 2 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses sorgen die Mitgliedstaaten dafür, dass in ihren Strafrechtssystemen Opfern tatsächlich und angemessen Rechnung getragen wird, und erkennen die Rechte und berechtigten Interessen des Opfers insbesondere im Rahmen des Strafverfahrens an.

44 Art. 3 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses legt allgemein fest, dass die Mitgliedstaaten gewährleisten, dass das Opfer im Verfahren gehört werden und Beweismaterial liefern kann.

45 Ein als Ersatzprivatkläger auftretendes Opfer kann daher zwar die Stellung des Opfers im Sinne des Rahmenbeschlusses in Anspruch nehmen, doch enthält weder Art. 3 Abs. 1 noch eine andere Bestimmung des Rahmenbeschlusses Genaueres zum Beweisrecht, das für das Opfer im Strafverfahren gilt.

46 Es ist daher festzustellen, dass der Rahmenbeschluss den Mitgliedstaaten zwar aufgibt, zum einen den Opfern ein hohes Schutzniveau zu sichern und dafür zu sorgen, dass ihnen in ihren Strafrechtssystemen tatsächlich und angemessen Rechnung getragen wird, und zum anderen ihre Rechte und berechtigten Interessen anzuerkennen und zu gewährleisten, dass sie im Verfahren gehört werden und Beweismaterial liefern können, dass er aber den nationalen Behörden ein weites Ermessen in Bezug auf die konkrete Umsetzung dieser Ziele lässt.

47 Soll jedoch Art. 3 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses nicht ein Großteil seiner praktischen Wirksamkeit genommen und nicht gegen die Verpflichtungen aus Art. 2 Abs. 1 dieses Beschlusses verstoßen werden, setzen diese Bestimmungen jedenfalls voraus, dass das Opfer im Strafverfahren eine Aussage machen und dass diese Aussage als Beweismittel berücksichtigt werden kann.

48 Außerdem ist der Rahmenbeschluss so auszulegen, dass die Grundrechte beachtet werden; zu nennen ist dabei insbesondere das in Art. 6 EMRK verankerte Recht auf ein faires Verfahren (vgl. insbesondere Urteil vom 16. Juni 2005, Pupino, C-105/03, Slg. 2005, I-5285, Randnr. 59).

49 Das vorlegende Gericht hat sich daher insbesondere zu vergewissern, dass die Beweiserhebung im Strafverfahren insgesamt nicht die Fairness des Verfahrens im Sinne von Art. 6 EMRK nach dessen Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte beeinträchtigt (vgl. insbesondere Urteile vom 10. April 2003, Steffensen, C-276/01, Slg. 2003, I-3735, Randnr. 76, und Pupino, Randnr. 60).

50 Unter diesen Umständen ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass die Art. 2 und 3 des Rahmenbeschlusses dahin auszulegen sind, dass sie ein nationales Gericht nicht dazu verpflichten, dem Opfer einer Straftat im Rahmen eines Ersatzprivatklageverfahrens wie des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden zu gestatten, als Zeuge gehört zu werden. Besteht diese Möglichkeit nicht, muss es dem Opfer aber gestattet werden können, eine Aussage zu machen, die als Beweismittel berücksichtigt werden kann.

Kostenentscheidung:

Kosten

51 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Tenor:

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:

Die Art. 2 und 3 des Rahmenbeschlusses 2001/220/JI des Rates vom 15. März 2001 über die Stellung des Opfers im Strafverfahren sind dahin auszulegen, dass sie ein nationales Gericht nicht dazu verpflichten, dem Opfer einer Straftat im Rahmen eines Ersatzprivatklageverfahrens wie des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden zu gestatten, als Zeuge gehört zu werden. Besteht diese Möglichkeit nicht, muss es dem Opfer aber gestattet werden können, eine Aussage zu machen, die als Beweismittel berücksichtigt werden kann.

Ende der Entscheidung

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