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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 19.06.2003
Aktenzeichen: C-410/01
Rechtsgebiete: Richtlinie 89/665/EWG des Rates vom 21. Dezember 1989 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Anwendung der Nachprüfungsverfahren im Rahmen der Vergabe öffentlicher Liefer- und Bauaufträge, Bundesgesetz über die Vergabe von Aufträgen (Bundesvergabegesetz) von 1997 (Österreich)


Vorschriften:

Richtlinie 89/665/EWG des Rates vom 21. Dezember 1989 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Anwendung der Nachprüfungsverfahren im Rahmen der Vergabe öffentlicher Liefer- und Bauaufträge Art. 1 Abs. 3
Bundesgesetz über die Vergabe von Aufträgen (Bundesvergabegesetz) von 1997 (Österreich)
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Urteil des Gerichtshofes (Sechste Kammer) vom 19. Juni 2003. - Fritsch, Chiari & Partner, Ziviltechniker GmbH und andere gegen Autobahnen- und Schnellstraßen-Finanzierungs-AG (Asfinag). - Ersuchen um Vorabentscheidung: Bundesvergabeamt - Österreich. - Öffentliche Aufträge - Richtlinie 89/665/EWG - Nachprüfungsverfahren im Rahmen der Vergabe öffentlicher Aufträge - Artikel 1 Absatz 3 - Personen, denen das Nachprüfungsverfahren zur Verfügung stehen muss - Begriff Interesse an einem öffentlichen Auftrag. - Rechtssache C-410/01.

Parteien:

In der Rechtssache C-410/01

betreffend ein dem Gerichtshof nach Artikel 234 EG vom Bundesvergabeamt (Österreich) in dem bei diesem anhängigen Rechtsstreit

Fritsch, Chiari & Partner, Ziviltechniker GmbH u. a.

gegen

Autobahnen- und Schnellstraßen-Finanzierungs-AG (Asfinag)

vorgelegtes Ersuchen um Vorabentscheidung über die Auslegung von Artikel 1 Absatz 3 der Richtlinie 89/665/EWG des Rates vom 21. Dezember 1989 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Anwendung der Nachprüfungsverfahren im Rahmen der Vergabe öffentlicher Liefer- und Bauaufträge (ABl. L 395, S. 33) in der durch die Richtlinie 92/50/EWG des Rates vom 18. Juni 1992 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Dienstleistungsaufträge (ABl. L 209, S. 1) geänderten Fassung

erlässt

DER GERICHTSHOF

(Sechste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J.-P. Puissochet sowie der Richter R. Schintgen (Berichterstatter) und V. Skouris, der Richterin F. Macken und des Richters J. N. Cunha Rodrigues,

Generalanwalt: J. Mischo,

Kanzler: M.-F. Contet, Hauptverwaltungsrätin,

unter Berücksichtigung der schriftlichen Erklärungen

- der österreichischen Regierung, vertreten durch M. Fruhmann als Bevollmächtigten,

- der französischen Regierung, vertreten durch G. de Bergues und A. Bréville-Viéville als Bevollmächtigte,

- der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch M. Nolin als Bevollmächtigten im Beistand von Rechtsanwalt R. Roniger,

aufgrund des Sitzungsberichts,

nach Anhörung der mündlichen Ausführungen der Fritsch, Chiari & Partner, Ziviltechniker GmbH u. a., vertreten durch Rechtsanwalt S. Wurst, der österreichischen Regierung, vertreten durch M. Fruhmann, der französischen Regierung, vertreten durch S. Pailler als Bevollmächtigten, und der Kommission, vertreten durch M. Nolin im Beistand von Rechtsanwalt R. Roniger, in der Sitzung vom 16. Januar 2003,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 25. Februar 2003

folgendes

Urteil

Entscheidungsgründe:

1 Das Bundesvergabeamt hat mit Beschluss vom 8. Oktober 2001, beim Gerichtshof eingegangen am 16. Oktober 2001, gemäß Artikel 234 EG zwei Fragen nach der Auslegung von Artikel 1 Absatz 3 der Richtlinie 89/665/EWG des Rates vom 21. Dezember 1989 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Anwendung der Nachprüfungsverfahren im Rahmen der Vergabe öffentlicher Liefer- und Bauaufträge (ABl. L 395, S. 33) in der durch die Richtlinie 92/50/EWG des Rates vom 18. Juni 1992 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Dienstleistungsaufträge (ABl. L 209, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 89/665) zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Fragen stellen sich in einem Rechtsstreit zwischen mehreren Unternehmen, darunter die Fritsch, Chiari & Partner, Ziviltechniker GmbH, die sich zu einer Bietergemeinschaft zusammengeschlossen haben (im Folgenden: Antragstellerin), und der Autobahnen- und Schnellstraßen-Finanzierungs-AG (im Folgenden: Asfinag) wegen der Vergabe eines öffentlichen Dienstleistungsauftrags, für den die Antragstellerin ein Angebot eingereicht hatte.

Rechtlicher Rahmen

Gemeinschaftsregelung

3 Artikel 1 Absätze 1 und 3 der Richtlinie 89/665 bestimmt:

"(1) Die Mitgliedstaaten ergreifen die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass hinsichtlich der in den Anwendungsbereich der Richtlinien 71/305/EWG, 77/62/EWG und 92/50/EWG... fallenden Verfahren zur Vergabe öffentlicher Aufträge die Entscheidungen der Vergabebehörden wirksam und vor allem möglichst rasch nach Maßgabe der nachstehenden Artikel, insbesondere von Artikel 2 Absatz 7, auf Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht im Bereich des öffentlichen Auftragswesens oder gegen die einzelstaatlichen Vorschriften, die dieses Recht umsetzen, nachgeprüft werden können.

...

(3) Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass das Nachprüfungsverfahren entsprechend den gegebenenfalls von den Mitgliedstaaten festzulegenden Bedingungen zumindest jedem zur Verfügung steht, der ein Interesse an einem bestimmten öffentlichen Liefer- oder Bauauftrag hat oder hatte und dem durch einen behaupteten Rechtsverstoß ein Schaden entstanden ist bzw. zu entstehen droht. Die Mitgliedstaaten können insbesondere verlangen, dass derjenige, der ein Nachprüfungsverfahren einzuleiten beabsichtigt, den öffentlichen Auftraggeber zuvor von dem behaupteten Rechtsverstoß und von der beabsichtigten Nachprüfung unterrichten muss."

4 Artikel 2 Absätze 1 und 6 der Richtlinie 89/665 lautet:

"(1) Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass für die in Artikel 1 genannten Nachprüfungsverfahren die erforderlichen Befugnisse vorgesehen werden,

a) damit so schnell wie möglich im Wege der einstweiligen Verfügung vorläufige Maßnahmen ergriffen werden können, um den behaupteten Rechtsverstoß zu beseitigen oder weitere Schädigungen der betroffenen Interessen zu verhindern; dazu gehören Maßnahmen, um das Verfahren zur Vergabe eines öffentlichen Auftrags auszusetzen oder die Aussetzung zu veranlassen oder Maßnahmen der Durchführung jeder sonstigen Entscheidung der öffentlichen Auftraggeber;

b) damit die Aufhebung rechtswidriger Entscheidungen, einschließlich der Streichung diskriminierender technischer, wirtschaftlicher oder finanzieller Spezifikationen in den Ausschreibungsdokumenten, den Verdingungsunterlagen oder in jedem sonstigen sich auf das betreffende Vergabeverfahren beziehenden Dokument vorgenommen oder veranlasst werden kann;

c) damit denjenigen, die durch den Rechtsverstoß geschädigt worden sind, Schadensersatz zuerkannt werden kann.

...

(6) Die Wirkungen der Ausübung der in Absatz 1 genannten Befugnisse auf den nach Zuschlagserteilung des Auftrags geschlossenen Vertrag richten sich nach dem einzelstaatlichen Recht.

Abgesehen von dem Fall, in dem eine Entscheidung vor Zuerkennung von Schadenersatz aufgehoben werden muss, kann ein Mitgliedstaat ferner vorsehen, dass nach dem Vertragsschluss im Anschluss an die Zuschlagserteilung die Befugnisse der Nachprüfungsinstanz darauf beschränkt werden, einer durch einen Rechtsverstoß geschädigten Person Schadenersatz zuzuerkennen."

Nationale Rechtsvorschriften

5 Die Richtlinie 89/665 wurde durch das Bundesgesetz über die Vergabe von Aufträgen (Bundesvergabegesetz) von 1997 (BGBl I 1997/56, im Folgenden: BVergG) in österreichisches Recht umgesetzt. Das BVergG sieht die Schaffung einer Bundes-Vergabekontrollkommission (im Folgenden: B-VKK) und eines Bundesvergabeamts vor.

6 § 109 BVergG legt die Zuständigkeiten der B-VKK fest. Er enthält folgende Bestimmungen:

"(1) Die Bundes-Vergabekontrollkommission ist zuständig:

1. bis zur Zuschlagserteilung zur Schlichtung von Meinungsverschiedenheiten, die sich zwischen der vergebenden Stelle und einem oder mehreren Bewerbern oder Bietern bei der Vollziehung dieses Bundesgesetzes oder der hiezu ergangenen Verordnungen ergeben;

...

(6) Ein auf ein Tätigwerden gemäß Abs. 1 Z 1 gerichtetes Ersuchen ist möglichst rasch nach Kenntnis der Meinungsverschiedenheit bei der Geschäftsführung einzubringen.

(7) Wird die Bundes-Vergabekontrollkommission nicht auf Ersuchen der vergebenden Stelle tätig, so hat sie diese unverzüglich von der Aufnahme ihrer Tätigkeit zu verständigen.

(8) Die vergebende Stelle darf innerhalb von vier Wochen... ab der Verständigung gemäß Abs. 7 bei sonstiger Nichtigkeit den Zuschlag nicht erteilen..."

7 § 113 BVergG legt die Zuständigkeiten des Bundesvergabeamts fest. Er bestimmt:

"(1) Das Bundesvergabeamt ist auf Antrag zur Durchführung des Nachprüfungsverfahrens nach Maßgabe der Bestimmungen des folgenden Hauptstückes zuständig.

(2) Bis zur Zuschlagserteilung ist das Bundesvergabeamt zum Zwecke der Beseitigung von Verstößen gegen dieses Bundesgesetz und die hiezu ergangenen Verordnungen zuständig

1. zur Erlassung einstweiliger Verfügungen, sowie

2. zur Nichtigerklärung rechtswidriger Entscheidungen der vergebenden Stelle des Auftraggebers.

(3) Nach Zuschlagserteilung oder nach Abschluss des Vergabeverfahrens ist das Bundesvergabeamt zuständig, festzustellen, ob wegen eines Verstoßes gegen dieses Bundesgesetz oder die hiezu ergangenen Verordnungen der Zuschlag nicht dem Bestbieter erteilt wurde...."

8 § 115 Absatz 1 BVergG lautet:

"Ein Unternehmer, der ein Interesse am Abschluss eines dem Anwendungsbereich dieses Bundesgesetzes unterliegenden Vertrages behauptet, kann die Nachprüfung einer Entscheidung des Auftraggebers im Vergabeverfahren wegen Rechtswidrigkeit beantragen, sofern ihm durch die behauptete Rechtswidrigkeit ein Schaden entstanden ist oder zu entstehen droht."

9 Nach § 122 Absatz 1 BVergG "[hat b]ei schuldhafter Verletzung dieses Bundesgesetzes oder der auf Grund dieses Bundesgesetzes ergangenen Verordnungen durch Organe einer vergebenden Stelle... ein übergangener Bewerber oder Bieter gegen den Auftraggeber, dem das Verhalten der Organe der vergebenden Stelle zuzurechnen ist, Anspruch auf Ersatz der Kosten der Angebotstellung und der durch die Teilnahme am Vergabeverfahren entstandenen sonstigen Kosten".

10 Nach § 125 Absatz 2 BVergG ist eine - vor den Zivilgerichten zu erhebende - Schadensersatzklage nur zulässig, wenn zuvor eine Feststellung des Bundesvergabeamts gemäß § 113 Absatz 3 erfolgt ist. Das Zivilgericht, das über eine derartige Schadensersatzklage zu entscheiden hat, und die Parteien des Verfahrens vor dem Bundesvergabeamt sind an diese Feststellung gebunden.

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

11 Die Asfinag schrieb im Herbst 1999 die "Örtliche Bauüberwachung für die Errichtung und Elektro-, Haus- und Maschinentechnik der Haupt- und Nebenmautstellen sowie die Errichtung der Datenübertragungsanlage im Zuge des Projektes "LKW Maut Österreich"" öffentlich aus. Die Angebotseröffnung erfolgte am 18. November 1999.

12 Mit Schreiben vom 28. Januar 2000 wurde der Antragstellerin mitgeteilt, dass das von ihr eingereichte Angebot bei der Angebotsauswertung an zweiter Stelle eingereiht und daher nicht berücksichtigt worden sei. Mit Schreiben vom 8. Februar 2001 wurde sie über die Zuschlagserteilung an einen Konkurrenten sowie über die Vergabesumme unterrichtet.

13 Daraufhin beantragte die Antragstellerin beim Bundesvergabeamt nach § 113 Absatz 3 BVergG, im Rahmen eines Nachprüfungsverfahrens festzustellen, dass der Zuschlag nicht dem Bestbieter erteilt worden sei.

14 Vor dem Bundesvergabeamt trug die Asfinag vor, nach § 115 Absatz 1 BVergG könne nur derjenige Unternehmer die Nachprüfung einer Entscheidung des Auftragsgebers wegen Rechtswidrigkeit beantragen - sofern ihm durch die behauptete Rechtswidrigkeit ein Schaden entstanden sei oder zu entstehen drohe -, der ein Interesse am Abschluss eines dem Anwendungsbereich dieses Gesetzes unterliegenden Vertrages behaupte. Offensichtlich sei die Antragstellerin jedoch nicht daran interessiert gewesen, den Zuschlag zu erhalten, da sie keinen Schlichtungsantrag bei der B-VKK eingebracht habe, wozu sie nach § 109 Absatz 1 BVergG berechtigt gewesen wäre.

15 Zur Begründung ihrer Auffassung machte die Asfinag geltend, das Vergaberecht habe keinen Selbstzweck, sondern gestalte das vorvertragliche Schuldverhältnis aller am Vergabeverfahren Beteiligten einschließlich der Bieter. Wenn ein Bieter festzustellen glaube, dass die Zuschlagskriterien nicht dem Gesetz entsprächen, sei er insbesondere nach § 109 Absatz 6 BVergG verpflichtet, diesen Einwand zum frühestmöglichen Zeitpunkt, gegebenenfalls also noch vor der Angebotseröffnung, zu erheben. Das Wettbewerbsprinzip verbiete es einem Bieter, der die Zuschlagskriterien für nicht gesetzeskonform halte, zunächst ein Angebot einzureichen, um zu sehen, ob er Bestbieter sei, und anschließend sein Verhalten am Ergebnis der Zuschlagserteilung auszurichten, indem er keinen Antrag stelle, wenn er Bestbieter sei, und sich, wenn er den Zuschlag nicht erhalte oder nicht Bestbieter sei, an die Vergabeinstanzen wende, um durch den Widerruf der Ausschreibung eine "neue Chance" zu erhalten.

16 Aus § 109 Absatz 6 BVergG ergebe sich somit, dass die Einreichung eines Angebots, dem kein bei der B-VKK eingebrachter Schlichtungsantrag vorausgegangen sei, zur Präklusion des Rechts führe, sich auf eine Rechtswidrigkeit des Ausschreibungsverfahrens zu berufen, die bei Anwendung gehöriger Sorgfalt dem Bieter bei Abfassung seines Angebots hätte bekannt sein müssen. Hätte die Antragstellerin die B-VKK vor Ausarbeitung ihres Angebots angerufen und die Asfinag auf den von ihr behaupteten Fehler aufmerksam gemacht, so wären keine Aufwendungen für die Angebotsausarbeitung entstanden.

17 Die Antragstellerin wies den Vorwurf des mangelnden Interesses unter Hinweis darauf zurück, dass nach der ständigen Spruchpraxis der Vergabekontrollorgane mit der rechtzeitigen Abgabe eines Angebots das Interesse am Vertragsabschluss ausreichend bekundet werde.

18 Da das Bundesvergabeamt der Ansicht war, dass die auf den bei ihm anhängigen Rechtsstreit anwendbaren österreichischen Rechtsvorschriften im Licht des Artikels 1 Absatz 3 der Richtlinie 89/665 auszulegen seien und für die Entscheidung des Rechtsstreits daher eine Auslegung dieser Bestimmung erforderlich sei, hat es das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1. Ist Artikel 1 Absatz 3 der Richtlinie 89/665... in der Weise auszulegen, dass jedem Unternehmer das Nachprüfungsverfahren zur Verfügung stehen muss, der in einem Vergabeverfahren ein Angebot gelegt bzw. sich um die Teilnahme an einem Vergabeverfahren beworben hat?

2. Für den Fall der Verneinung dieser Frage:

Ist die oben zitierte Richtlinienbestimmung so zu verstehen, dass ein Unternehmer nur dann ein Interesse an einem bestimmten öffentlichen Auftrag hat oder hatte, wenn er - zusätzlich zu seiner Teilnahme am Vergabeverfahren - alle ihm gemäß den nationalen Vorschriften zur Verfügung stehenden Maßnahmen ergreift oder ergriffen hat, um die Zuschlagserteilung auf das Angebot eines anderen Bieters zu verhindern und dadurch die Zuschlagserteilung auf sein eigenes Angebot herbeizuführen?

Zur Zuständigkeit des Gerichtshofes

19 Die Kommission äußert unter Bezugnahme auf den Vorlagebeschluss des Bundesvergabeamts vom 11. Juli 2001 im Rahmen einer anderen beim Gerichtshof anhängigen Rechtssache über die Vergabe eines öffentlichen Auftrags, die unter der Nummer C-314/01 in das Register der Kanzlei des Gerichtshofes eingetragen ist, Zweifel am Gerichtscharakter des Bundesvergabeamts, weil dieses darin ausgeführt habe, dass seine Entscheidungen "keinen vollstreckbaren Auftrag an den Auftraggeber" enthielten. Die Zulässigkeit der vom Bundesvergabeamt in der vorliegenden Rechtssache vorgelegten Fragen sei daher nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes, insbesondere den Urteilen vom 12. November 1998 in der Rechtssache C-134/97 (Victoria Film, Slg. 1998, I-7023, Randnr. 14) und vom 14. Juni 2001 in der Rechtssache C-178/99 (Salzmann, Slg. 2001, I-4421, Randnr. 14), fraglich; nach dieser Rechtsprechung könnten die nationalen Gerichte den Gerichtshof nur anrufen, wenn bei ihnen ein Rechtsstreit anhängig sei und sie im Rahmen eines Verfahrens zu entscheiden hätten, das auf eine Entscheidung mit Rechtsprechungscharakter abziele.

20 Insoweit ist zu bemerken, dass das Bundesvergabeamt nach Zuschlagserteilung gemäß § 113 Absatz 3 BVergG für die Feststellung zuständig ist, dass der Zuschlag wegen eines Verstoßes gegen die einschlägige nationale Regelung nicht dem Bestbieter erteilt wurde.

21 Außerdem ergibt sich schon aus dem Wortlaut von § 125 Absatz 2 BVergG, dass eine Feststellung des Bundesvergabeamts gemäß § 113 Absatz 3 des Gesetzes nicht nur eine Zulässigkeitsvoraussetzung für jede wegen eines schuldhaften Verstoßes gegen die genannte Regelung bei den Zivilgerichten erhobene Schadensersatzklage darstellt, sondern dass sie auch die Parteien des Verfahrens vor dem Bundesvergabeamt und das angerufene Zivilgericht bindet.

22 Die Rechtsverbindlichkeit einer vom Bundesvergabeamt nach § 113 Absatz 3 BVergG erlassenen Entscheidung und damit auch der Gerichtscharakter dieses Amtes können also nicht ernsthaft in Frage gestellt werden.

23 Daraus folgt, dass der Gerichtshof für die Beantwortung der im vorliegenden Fall vom Bundesvergabeamt vorgelegten Fragen zuständig ist.

Zu den Vorlagefragen

24 In seinem Vorlagebeschluss weist das Bundesvergabeamt darauf hin, dass ein Unternehmer nach § 115 Absatz 1 BVergG die Nachprüfung einer Entscheidung des Auftraggebers beantragen könne, wenn er ein Interesse am Abschluss eines Vertrages im Rahmen eines Verfahrens zur Vergabe eines öffentlichen Auftrags behaupte und ihm durch die behauptete Rechtswidrigkeit ein Schaden entstanden sei oder zu entstehen drohe.

25 Das vorlegende Gericht erläutert außerdem, dass die Bestimmungen des § 109 Absätze 1, 6 und 8 BVergG sicherstellen sollten, dass während der Dauer des Schlichtungsverfahrens kein Vertrag geschlossen werde. Für den Fall, dass im Laufe dieses Verfahrens keine gütliche Einigung zustande komme, könne ein Unternehmer noch vor Vertragsabschluss die Nichtigerklärung jeder Entscheidung des Auftraggebers, also auch der Zuschlagsentscheidung, beantragen.

26 Daher komme es für die Entscheidung des Ausgangsverfahrens darauf an, ob § 115 Absatz 1 in Verbindung mit § 109 Absätze 1, 6 und 8 BVergG, ausgelegt im Licht des Artikels 1 Absatz 3 der Richtlinie 89/665, so zu verstehen sei, dass ein Unternehmer, dem der Auftraggeber vor Vertragsabschluss mitgeteilt habe, dass der Zuschlag einem Mitbewerber erteilt worden sei, der es jedoch unterlassen habe, die im nationalen Recht vorgesehenen Kontrollverfahren in Anspruch zu nehmen, um den Vertragsabschluss aufzuschieben und gegebenenfalls die Zuschlagsentscheidung zu seinen Gunsten abändern zu lassen, erfolgreich ein Interesse am Vertragsabschluss behaupten und ein Nachprüfungsverfahren einleiten könne, um die Rechtswidrigkeit der Zuschlagsentscheidung geltend machen und Schadensersatz fordern zu können.

27 Zu Artikel 1 Absatz 3 der Richtlinie 89/665 bemerkt das Bundesvergabeamt, der österreichische Verfassungsgerichtshof habe in seinem Erkenntnis vom 12. Juni 2001 (B 485/01-12, B 584/01-9, B 685/01-6) unter Bezugnahme auf sein Erkenntnis vom 8. März 2001 (B 707/00) die Auffassung vertreten, dass nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes (Urteil vom 28. Oktober 1999 in der Rechtssache C-81/98, Alcatel Austria u. a., Slg. 1999, I-7671, Randnrn. 34 und 35) die Legitimation zur Einleitung eines Nachprüfungsverfahrens nach Artikel 1 der Richtlinie 89/665 weit zu verstehen sei und deshalb jedem zustehen dürfte, der einen bestimmten zur Vergabe anstehenden öffentlichen Auftrag erhalten wolle. Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts stellt sich daher die Frage, ob dies auch gelte, wenn die betreffende Person die ihr vom Auftraggeber gebotene Möglichkeit, das vergaberechtliche innerstaatliche Rechtsschutzsystem auszuschöpfen, nicht wahrgenommen habe (Frage 1), oder ob die Unterlassung der Ausschöpfung aller innerstaatlichen Rechtsschutzmöglichkeiten einen Wegfall dieses Interesses bedinge (Frage 2).

28 In Anbetracht der vorstehenden Ausführungen sind die beiden Vorlagefragen so zu verstehen, dass mit ihnen geklärt werden soll, ob es gegen Artikel 1 Absatz 3 der Richtlinie 89/665 verstößt, wenn von einem Unternehmer, der sich an einem Verfahren zur Vergabe eines öffentlichen Auftrags beteiligt hat, angenommen wird, dass er sein Interesse an diesem Auftrag verloren hat, weil er nicht vor der Einleitung eines Nachprüfungsverfahrens im Sinne dieser Richtlinie eine Schlichtungskommission wie die B-VKK angerufen hat.

29 Im Licht der Zielsetzung der Richtlinie 89/665 ist zu prüfen, ob nach deren Artikel 1 Absatz 3 ein Mitgliedstaat das Interesse eines Bieters an einem bestimmten Auftrag und damit dessen Recht, die in dieser Richtlinie vorgesehenen Nachprüfungsverfahren in Anspruch zu nehmen, von der Voraussetzung abhängig machen kann, dass der Bieter vorher eine Schlichtungskommission wie die B-VKK angerufen hat.

30 Wie aus ihrer ersten und zweiten Begründungserwägung hervorgeht, zielt die Richtlinie 89/665 darauf ab, die auf einzelstaatlicher Ebene und auf Gemeinschaftsebene vorhandenen Mechanismen zu verstärken, um die tatsächliche Anwendung der Gemeinschaftsrichtlinien im Bereich des öffentlichen Auftragswesens zu sichern, und zwar insbesondere in einem Stadium, in dem Verstöße noch beseitigt werden können. Zu diesem Zweck sind die Mitgliedstaaten nach Artikel 1 Absatz 1 der Richtlinie verpflichtet, sicherzustellen, dass rechtswidrige Entscheidungen der Vergabebehörden wirksam und möglichst rasch nachgeprüft werden können (u. a. Urteile Alcatel Austria u. a., Randnrn. 33 und 34, und vom 12. Dezember 2002 in der Rechtssache C-470/99, Universale-Bau u. a., Slg. 2002, I-11617, Randnr. 74).

31 Es würde aber gegen die mit der Richtlinie 89/665 verfolgten Ziele der Schnelligkeit und Wirksamkeit verstoßen, wenn der Zugang zu den in der Richtlinie vorgesehenen Nachprüfungsverfahren von der vorherigen Anrufung einer Schlichtungskommission wie der B-VKK abhängig gemacht würde.

32 Denn die vorherige Anrufung einer derartigen Schlichtungskommission hätte unvermeidlich zur Folge, dass die Einleitung der Nachprüfungsverfahren, zu deren Schaffung die Mitgliedstaaten nach der Richtlinie 89/665 verpflichtet sind, verzögert würde.

33 Außerdem hat eine bloße Schlichtungskommission wie die B-VKK keine der Befugnisse, die die Mitgliedstaaten nach Artikel 2 Absatz 1 der Richtlinie 89/665 den für diese Nachprüfungsverfahren zuständigen Instanzen übertragen müssen, so dass ihre Anrufung nicht dazu angetan ist, die wirksame Anwendung der Gemeinschaftsrichtlinien im Bereich der Vergabe öffentlicher Aufträge zu gewährleisten.

34 Auch wenn im Übrigen Artikel 1 Absatz 3 der Richtlinie 89/665 den Mitgliedstaaten ausdrücklich die Festlegung der Bedingungen gestattet, nach denen sie jedem, der ein Interesse an einem bestimmten öffentlichen Auftrag hat oder hatte und dem durch einen behaupteten Rechtsverstoß ein Schaden entstanden ist bzw. zu entstehen droht, die in der Richtlinie vorgesehenen Nachprüfungsverfahren zur Verfügung stellen, so erlaubt das den Mitgliedstaaten doch nicht, den Begriff "Interesse an einem öffentlichen Auftrag" in einer Weise auszulegen, die die praktische Wirksamkeit der Richtlinie beeinträchtigen kann (in diesem Sinne Urteil Universale-Bau u. a., Randnr. 72).

35 Demnach ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass es gegen Artikel 1 Absatz 3 der Richtlinie 89/665 verstößt, wenn von einem Unternehmer, der sich an einem Verfahren zur Vergabe eines öffentlichen Auftrags beteiligt hat, angenommen wird, dass er sein Interesse an diesem Auftrag verloren hat, weil er nicht vor der Einleitung eines Nachprüfungsverfahrens im Sinne dieser Richtlinie eine Schlichtungskommission wie die durch das BVergG geschaffene B-VKK angerufen hat.

Kostenentscheidung:

Kosten

36 Die Auslagen der österreichischen und der französischen Regierung sowie der Kommission, die Erklärungen vor dem Gerichtshof abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

(Sechste Kammer)

auf die ihm vom Bundesvergabeamt mit Beschluss vom 8. Oktober 2001 vorgelegten Fragen für Recht erkannt:

Es verstößt gegen Artikel 1 Absatz 3 der Richtlinie 89/665/EWG des Rates vom 21. Dezember 1989 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Anwendung der Nachprüfungsverfahren im Rahmen der Vergabe öffentlicher Liefer- und Bauaufträge in der durch die Richtlinie 92/50/EWG des Rates vom 18. Juni 1992 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Dienstleistungsaufträge geänderten Fassung, wenn von einem Unternehmer, der sich an einem Verfahren zur Vergabe eines öffentlichen Auftrags beteiligt hat, angenommen wird, dass er sein Interesse an diesem Auftrag verloren hat, weil er nicht vor der Einleitung eines Nachprüfungsverfahrens im Sinne dieser Richtlinie eine Schlichtungskommission wie die durch das Bundesgesetz über die Vergabe von Aufträgen (Bundesvergabegesetz) von 1997 geschaffene Bundes-Vergabekontrollkommission angerufen hat.

Ende der Entscheidung

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