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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 22.06.1999
Aktenzeichen: C-412/97
Rechtsgebiete: EG-Vertrag


Vorschriften:

EG-Vertrag Art. 29
EG-Vertrag Art. 49
EG-Vertrag Art. 56
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

1 Artikel 34 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 29 EG) steht einer nationalen Vorschrift nicht entgegen, die das Mahnverfahren in Fällen ausschließt, in denen die Zustellung an den Schuldner in einem anderen Mitgliedstaat der Gemeinschaft zu erfolgen hätte.

Auch wenn eine solche nationale Vorschrift zwar zur Folge hat, daß für die Wirtschaftsteilnehmer je nachdem unterschiedliche Verfahrensvorschriften gelten, ob sie Waren innerhalb des betroffenen Mitgliedstaats liefern oder sie in andere Mitgliedstaaten ausführen, so ist der Umstand, daß Bürger eines Mitgliedstaats aus diesem Grund zögern würden, Waren an Kunden in anderen Mitgliedstaaten zu verkaufen, zu ungewiß und zu mittelbar, als daß die nationale Vorschrift als geeignet angesehen werden könnte, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten zu behindern.

2 Wie Artikel 106 EWG-Vertrag (später Artikel 73h EG-Vertrag, aufgehoben durch den Vertrag von Amsterdam) soll Artikel 73b Absatz 2 EG-Vertrag (jetzt Artikel 56 Absatz 2 EG) gewährleisten, daß der Schuldner, der eine Geldsumme für eine Warenlieferung oder eine Dienstleistung schuldet, seine vertragliche Verpflichtung freiwillig und ohne unzulässige Beschränkung erfuellen und der Gläubiger eine solche Zahlung frei empfangen kann. Diese Bestimmung ist jedoch nicht auf Verfahrensmodalitäten anwendbar, denen die Geltendmachung des Anspruchs eines Gläubigers gegen einen säumigen Schuldner auf Zahlung einer Geldsumme unterworfen ist.

Daher stellt eine nationale Verfahrensvorschrift, die das Mahnverfahren in Fällen ausschließt, in denen die Zustellung an den Schuldner in einem anderen Mitgliedstaat der Gemeinschaft zu erfolgen hätte, keine Beschränkung des freien Zahlungsverkehrs dar.


Urteil des Gerichtshofes (Fünfte Kammer) vom 22. Juni 1999. - ED Srl gegen Italo Fenocchio. - Ersuchen um Vorabentscheidung: Pretura circondariale di Bologna - Italien. - Freier Warenverkehr - Dienstleistungsfreiheit - Freier Kapitalverkehr - Nationale Vorschrift, die den Erlaß eines Mahnbescheids untersagt, der außerhalb des Staatsgebiets zugestellt werden müßte - Vereinbarkeit. - Rechtssache C-412/97.

Entscheidungsgründe:

1 Der Pretore in Bologna hat mit Beschluß vom 29. November 1997, beim Gerichtshof eingegangen am 5. Dezember 1997, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag (jetzt Artikel 234 EG) eine Frage nach der Auslegung der Artikel 34 und 59 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 29 EG und 49 EG) sowie des Artikels 73b EG-Vertrag (jetzt Artikel 56 EG) zur Vorabentscheidung vorgelegt, um die Vereinbarkeit einer nationalen Vorschrift, die den Erlaß eines Mahnbescheids untersagt, der ausserhalb des Staatsgebiets zugestellt werden müsste, mit diesen Bestimmungen zu beurteilen.

2 Diese Frage stellt sich in einem Rechtsstreit über ein Mahnverfahren, das die ED Srl (im folgenden: Antragstellerin), eine Gesellschaft italienischen Rechts mit Sitz in Funo di Argelato, gegen Italo Fenocchio (im folgenden: Antragsgegner), wohnhaft in Berlin, Deutschland, eingeleitet hat.

3 Die Antragstellerin lieferte dem Antragsgegner Waren im Gegenwert von 19 933 700 LIT. Da letzterer nur einen Betrag von 100 000 LIT als Anzahlung leistete und den Restbetrag nicht zahlte, hat die Antragstellerin am 6. Oktober 1997 vor dem vorlegenden Gericht gemäß Artikel 633 des Codice di procedura civile (italienische Zivilprozessordnung; im folgenden: CPC) den Erlaß eines Mahnbescheids über den geschuldeten Restbetrag nebst Zinsen und Verfahrenskosten beantragt.

4 Der Antrag erfuellte alle materiellen Voraussetzungen. Da der Schuldner in Deutschland wohnhaft war, hätte ihm der Mahnbescheid allerdings dort zugestellt werden müssen. Daher stand dem Antrag Artikel 633 Absatz 3 CPC entgegen, wonach "der Mahnbescheid nicht erlassen werden darf, wenn die nach Artikel 643 vorzunehmende Zustellung an den Antragsgegner ausserhalb Italiens oder der unter italienischer Hoheit stehenden Gebiete zu erfolgen hätte".

5 Das vorlegende Gericht führt aus, daß das Mahnverfahren dazu diene, sich zuegig und kostengünstig einen Vollstreckungstitel gegen den Schuldner einer ausstehenden Forderung zu verschaffen. Das Verfahren sei durch eine summarische Prüfung gekennzeichnet, bei der der Antragsteller seine Forderung nur darlegen und mit geeigneten Urkunden beweisen müsse. Der Mahnbescheid werde vom Gericht ohne vorherige Anhörung der anderen Partei und ohne streitige Verhandlung erlassen. Der Schuldner sei berechtigt, gegen den Mahnbescheid Widerspruch einzulegen, wodurch zwischen den Parteien ein ordentliches streitiges Verfahren eingeleitet werde.

6 Das Verbot, auf dieses Verfahren zurückzugreifen, wenn der Schuldner im Ausland wohne, sei ursprünglich durch das Ziel gerechtfertigt gewesen, zu vermeiden, daß letzterer von einem gegen ihn erlassenen Mahnbescheid nicht oder erst nach Ablauf der Widerspruchsfrist Kenntnis erhalte, was ihn an der Wahrnehmung seiner Verfahrensrechte hindern würde. Wenn dieser Grund 1940, als die Vorschrift erlassen worden sei, seine Berechtigung gehabt habe, so sei er heutzutage, da die Zustellung im Ausland keine grösseren Schwierigkeiten mehr bereite und die Widerspruchsfristen ausreichend lang seien, nicht mehr zu rechtfertigen. Das gelte insbesondere für die Unterzeichnerstaaten des Haager Übereinkommens vom 15. November 1965 über die Zustellung gerichtlicher und aussergerichtlicher Schriftstücke im Ausland in Zivil- oder Handelssachen, dessen Artikel 10 Buchstabe a die Zustellung durch die Post gestatte.

7 Das vorlegende Gericht stellt sich daher die Frage, ob das Verbot mit Artikel 34 und 59 sowie mit Artikel 73b EG-Vertrag vereinbar sei. In Italien ansässige Unternehmen könnten dazu veranlasst werden, Geschäftsbeziehungen mit Kunden, die ihre Tätigkeit in diesem Mitgliedstaat ausübten, gegenüber solchen mit ausländischen Kunden zu bevorzugen, da ihnen nur gegenüber italienischen Kunden der besondere Rechtsschutz und die geringeren Kosten des Mahnverfahrens zugute kämen. Aus diesem Grund könnten der freie Warenverkehr sowie, da das Mahnverfahren auch auf Forderungen aus Dienstleistungen angewandt werden könne, die Dienstleistungsfreiheit beeinträchtigt sein. Da die Forderungen auf Geld gerichtet seien, könne das in Rede stehende Verbot auch eine Verletzung des freien Kapitalverkehrs darstellen.

8 Die fragliche Vorschrift sei im übrigen bereits im Rahmen eines vor der Corte costituzionale erhobenen Einwands der Verfassungswidrigkeit geprüft worden. In ihrem ablehnenden Beschluß (vgl. Beschluß Nr. 364 vom 27. Juni 1989, Giurisprudenza costituzionale 1990, IV, S. 1661) habe diese entschieden, daß sich den Gemeinschaftsverträgen keine allgemeinen Grundsätze entnehmen ließen, die Auswirkungen auf das Verfahrensrecht hätten, da dieser Bereich dem innerstaatlichen Recht der Mitgliedstaaten zuzuordnen sei. Das Verbot, einen Mahnbescheid zu erlassen, der im Ausland zugestellt werden müsste, bedeute lediglich, daß der durch dieses Verfahren gewährte Schutz ausgeschlossen sei, nicht aber, daß kein zuständiges Gericht vorhanden sei, da ja die Erhebung einer gewöhnlichen Klage möglich bleibe.

9 Das vorlegende Gericht hat das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Ist das in Artikel 633 Absatz 3 CPC vorgesehene Verbot, einen Mahnbescheid zu erlassen, wenn die Zustellung an den Antragsgegner ausserhalb Italiens oder der unter italienischer Hoheit stehenden Gebiete zu erfolgen hätte, als eine Beschränkung oder Maßnahme gleicher Wirkung anzusehen, die geeignet ist, den durch die Artikel 34, 59 und 73b EG-Vertrag gewährleisteten freien Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potentiell zu behindern?

Artikel 34 EG-Vertrag

10 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes bezieht sich Artikel 34 EG-Vertrag auf nationale Maßnahmen, die spezifische Beschränkungen der Ausfuhrströme bezwecken oder bewirken und unterschiedliche Bedingungen für den Binnenhandel innerhalb eines Mitgliedstaats und seinen Aussenhandel schaffen, so daß die nationale Produktion oder der Binnenmarkt des betroffenen Staates einen besonderen Vorteil erlangt (vgl. insbesondere Urteil vom 7. Februar 1984 in der Rechtssache 237/82, Jongeneel Kaas u. a., Slg. 1984, 483, Randnr. 22).

11 Die unter Randnummer 4 genannte nationale Vorschrift hat zwar zur Folge, daß für die Wirtschaftsteilnehmer je nachdem unterschiedliche Verfahrensvorschriften gelten, ob sie Waren innerhalb des betroffenen Mitgliedstaats liefern oder sie in andere Mitgliedstaaten ausführen. Wie die französische und die österreichische Regierung jedoch zu Recht geltend gemacht haben, ist der Umstand, daß Bürger eines Mitgliedstaats aus diesem Grund zögern würden, Waren an Kunden in anderen Mitgliedstaaten zu verkaufen, zu ungewiß und zu mittelbar, als daß die fragliche nationale Vorschrift als geeignet angesehen werden könnte, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten zu behindern (vgl. in anderem Zusammenhang die Urteile vom 7. März 1990 in der Rechtssache C-69/88, Krantz, Slg. 1990, I-583, Randnr. 11, vom 24. Januar 1991 in der Rechtssache C-339/89, Alsthom Atlantique, Slg. 1991, I-107, Randnrn. 14 und 15, und vom 13. Oktober 1993 in der Rechtssache C-93/92, CMC Motorradcenter, Slg. 1993, I-5009, Randnr. 12).

12 Zu diesem Teil der Frage ist daher festzustellen, daß Artikel 34 EG-Vertrag einer nationalen Vorschrift nicht entgegensteht, die das Mahnverfahren in Fällen ausschließt, in denen die Zustellung an den Schuldner in einem anderen Mitgliedstaat der Gemeinschaft zu erfolgen hätte.

Artikel 59 EG-Vertrag

13 Wie die Kommission und die meisten Mitgliedstaaten, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, angemerkt haben, lässt sich hierzu lediglich feststellen, daß das Ausgangsverfahren keinen Bezug zu einer Dienstleistung aufweist.

14 Folglich ist auf den Teil der Frage, der sich auf Artikel 59 EG-Vertrag bezieht, nicht zu antworten.

Artikel 73b EG-Vertrag

15 Artikel 73b Absatz 2 EG-Vertrag lautet:

"Im Rahmen der Bestimmungen dieses Kapitels sind alle Beschränkungen des Zahlungsverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten sowie zwischen den Mitgliedstaaten und dritten Ländern verboten."

16 Um die Bedeutung dieser Bestimmung festzustellen, ist sie mit dem vormaligen Artikel 106 Absatz 1 EWG-Vertrag (später Artikel 73 h Absatz 1 EG-Vertrag [aufgehoben durch den Vertrag von Amsterdam]) zu vergleichen, den sie ersetzt:

"Jeder Mitgliedstaat verpflichtet sich, in der Währung des Mitgliedstaats, in dem der Gläubiger oder der Begünstigte ansässig ist, die Zahlungen zu genehmigen, die sich auf den Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr beziehen, sowie den Transfer von Kapitalbeträgen und Arbeitsentgelten zu gestatten, soweit der Waren-, Dienstleistungs-, Kapital- und Personenverkehr zwischen den Mitgliedstaaten nach diesem Vertrag liberalisiert ist."

17 Wie Artikel 106 EWG-Vertrag soll Artikel 73b Absatz 2 EG-Vertrag gewährleisten, daß der Schuldner, der eine Geldsumme für eine Warenlieferung oder eine Dienstleistung schuldet, seine vertragliche Verpflichtung freiwillig und ohne unzulässige Beschränkung erfuellen und der Gläubiger eine solche Zahlung frei empfangen kann. Diese Bestimmung ist jedoch nicht auf Verfahrensmodalitäten anwendbar, denen die Geltendmachung des Anspruchs eines Gläubigers gegen einen säumigen Schuldner auf Zahlung einer Geldsumme unterworfen ist.

18 Dem vorlegenden Gericht ist daher zu antworten, daß eine nationale Verfahrensvorschrift wie die im Ausgangsverfahren streitige keine Beschränkung des freien Zahlungsverkehrs darstellt.

Kostenentscheidung:

Kosten

19 Die Auslagen der italienischen, der französischen und der österreichischen Regierung sowie der Kommission, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

(Fünfte Kammer)

auf die ihm vom Pretore in Bologna mit Beschluß vom 29. November 1997 vorgelegte Frage für Recht erkannt:

1. Artikel 34 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 29 EG) steht einer nationalen Vorschrift nicht entgegen, die das Mahnverfahren in Fällen ausschließt, in denen die Zustellung an den Schuldner in einem anderen Mitgliedstaat der Gemeinschaft zu erfolgen hätte.

2. Eine nationale Verfahrensvorschrift wie die im Ausgangsverfahren streitige stellt keine Beschränkung des freien Zahlungsverkehrs dar.

Ende der Entscheidung

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