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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 17.05.1994
Aktenzeichen: C-416/92
Rechtsgebiete: Verordnung Nr. 2290/77


Vorschriften:

Verordnung Nr. 2290/77 Art. 16
Verordnung Nr. 2290/77 Art. 10
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Aus den verschiedenen Änderungen der Verordnung Nr. 2290/77 über die Regelung der Amtsbezuege für die Mitglieder des Rechnungshofes geht hervor, daß der Gesetzgeber die Witwe in dem Fall begünstigen wollte, daß das Mitglied während seiner Amtszeit stirbt; mit dieser Fürsorge des Gesetzgebers ist jedoch stets der in Artikel 16 Absatz 2 dieser Verordnung zum Ausdruck gekommene Wille einhergegangen, zu verhindern, daß der der Witwe und den unterhaltsberechtigten Kindern gewährte Gesamtbetrag den Hoechstbetrag des Ruhegehalts übersteigen kann, auf den der Verstorbene nach seinem Ausscheiden aus dem Amt Anspruch gehabt hätte. Im Fall eines während seiner Amtszeit gestorbenen Mitglieds entspricht dieser Hoechstbetrag dem in Artikel 10 dieser Verordnung genannten Hoechstruhegehalt, d. h. 70 % des letzten Grundgehalts.


URTEIL DES GERICHTSHOFES VOM 17. MAI 1994. - H. GEGEN RECHNUNGSHOF DER EUROPAEISCHEN GEMEINSCHAFTEN. - FESTSETZUNG DER HINTERBLIEBENENVERSORGUNG FUER DIE WITWE UND DIE UNTERHALTSBERECHTIGTEN KINDER EINES WAEHREND SEINER AMTSZEIT GESTORBENEN MITGLIEDS DES RECHNUNGSHOFES. - RECHTSSACHE C-416/92.

Entscheidungsgründe:

1 Die Klägerin, Witwe von Herrn H., hat mit Klageschrift, die am 14. Dezember 1992 bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, gemäß Artikel 173 EWG-Vertrag Klage erhoben auf Nichtigerklärung der Entscheidung des Rechnungshofes vom 12. Oktober 1992, mit der dieser ihre Ansprüche auf Hinterbliebenenversorgung als Witwe und diejenigen ihrer unterhaltsberechtigten Kinder als Waisen endgültig festgesetzt hat.

2 Herr H. war Mitglied des Rechnungshofes. Er nahm seine Tätigkeit am 17. Oktober 1987 auf. Am 15. März 1992 kam er während der Ausübung seines Amtes bei einem Verkehrsunfall ums Lebens.

3 Artikel 16 Absätze 1 und 2 der Verordnung (EWG, Euratom, EGKS) Nr. 2290/77 des Rates vom 18. Oktober 1977 über die Regelung der Amtsbezuege für die Mitglieder des Rechnungshofes (ABl. L 268, S. 1) in der Fassung der Verordnung (Euratom, EGKS, EWG) Nr. 1416/81 des Rates vom 19. Mai 1981 (ABl. L 142, S. 1) lautet wie folgt:

"(1) Die Witwe und die unterhaltsberechtigten Kinder eines Mitglieds oder eines ehemaligen Mitglieds des Rechnungshofes, das im Zeitpunkt seines Todes Anspruch auf Ruhegehalt hatte, erhalten eine Hinterbliebenenversorgung.

Diese Hinterbliebenenversorgung entspricht:

- für die Witwe60 v. H.

- für jede vaterlose Waise10 v. H.

- für jede Vollwaise20 v. H.

des Ruhegehalts, auf welches das Mitglied oder das ehemalige Mitglied des Rechnungshofes am Tage seines Todes gemäß Artikel 10 Anspruch hatte.

Ist das Mitglied des Rechnungshofes jedoch während der Dauer seiner Amtszeit gestorben, so

- beträgt die Hinterbliebenenversorgung für die Witwe 36 v. H. des Grundgehalts, auf das der Betreffende im Zeitpunkt seines Todes Anspruch hatte,

- beträgt die Hinterbliebenenversorgung für die erste Vollwaise mindestens 12 v. H. des Grundgehalts, auf das der Betreffende im Zeitpunkt seines Todes Anspruch hatte. Hinterlässt der Betreffende mehrere Vollwaisen, so wird der Gesamtbetrag des Waisengeldes zu gleichen Teilen auf die berechtigten Waisen aufgeteilt.

(2) Der Gesamtbetrag der auf diese Weise gezahlten Hinterbliebenenversorgung darf jedoch den bei ihrer Berechnung zugrunde gelegten Betrag des Ruhegehalts des Mitglieds oder des ehemaligen Mitglieds des Rechnungshofes nicht überschreiten. Gegebenenfalls wird der Hoechstbetrag der zu zahlenden Hinterbliebenenversorgung im Verhältnis der in Absatz 1 vorgesehenen Hundertsätze auf die Betreffenden verteilt."

4 Der Betrag des Ruhegehalts des Mitglieds oder des ehemaligen Mitglieds wird nach Artikel 10 Absatz 1 festgesetzt, der folgendes bestimmt:

"Das Ruhegehalt beträgt für jedes volle Jahr der Amtstätigkeit 4,50 v. H. des letzten Grundgehalts und für jeden vollen Monat ein Zwölftel dieses Betrages. Das Hoechstruhegehalt beträgt 70 v. H. des letzten Grundgehalts."

5 In der angefochtenen Entscheidung stellte der Rechnungshof zunächst fest, daß der Verstorbene, der sein Amt vier Jahre und vier Monate lang ausgeuebt habe, Anspruch auf ein Bruttoruhegehalt in Höhe von 19,5 % seines letzten Grundgehalts gehabt habe, wovon die Krankenversicherungsbeiträge und die Steuern abzuziehen seien. Von diesem Betrag ausgehend errechnete der Rechnungshof den monatlichen Betrag des Waisengelds für die beiden Kinder des Verstorbenen nach Artikel 16 Absatz 1 Unterabsatz 2 der Verordnung Nr. 2290/77. Da Herr H. während seiner Amtszeit gestorben war, ermittelte der Rechnungshof die Hinterbliebenenversorgung seiner Witwe nach Artikel 16 Absatz 1 Unterabsatz 3 erster Gedankenstrich dieser Verordnung. Von diesem Betrag zog er sodann die Beiträge für die Krankenkasse sowie die Steuern ab.

6 Da der Gesamtbetrag der Hinterbliebenenversorgung den Betrag des Ruhegehalts überstieg, den Herr H. nach den vier Jahren und vier Monaten seiner Amtsausübung beanspruchen konnte, wandte der Rechnungshof Artikel 16 Absatz 2 der Verordnung Nr. 2290/77 an und kürzte die Hinterbliebenenversorgung für die Witwe und die Waisen anteilig.

7 Zur Stützung ihrer Klage macht die Klägerin einen Verstoß gegen Artikel 16 der Verordnung Nr. 2290/77 und das Diskriminierungsverbot geltend.

8 Nach Ansicht der Klägerin ist die Hinterbliebenenversorgung für sie als Witwe nach den besonderen Bestimmungen des Artikels 16 Absatz 1 Unterabsatz 3 zu berechnen, die für den Fall anwendbar seien, daß ein Mitglied während seiner Amtszeit gestorben sei. So beruhe das Witwengeld auf dem "Grundgehalt, auf das der Betreffende im Zeitpunkt seines Todes Anspruch hatte", und nicht auf einem "Ruhegehalt des Mitglieds oder des ehemaligen Mitglieds" im Sinne des Absatzes 2 dieses Artikels. Infolgedessen sei die in diesem Absatz vorgesehene Kürzung bei der Ermittlung ihrer Ansprüche auf Hinterbliebenenversorgung nicht anwendbar.

9 Der Rechnungshof vertritt dagegen die Auffassung, Artikel 16 Absatz 2 sei auf den "Gesamtbetrag der [nach Absatz 1] gezahlten Hinterbliebenenversorgung" anwendbar. Die Kürzung sei daher unabhängig davon, ob das Mitglied während seiner Amtszeit gestorben sei oder nicht, bei allen Hinterbliebenenrenten der Waisen und der Witwe vorzunehmen.

10 Keine der von den Parteien des Rechtsstreits vorgetragenen Lösungen führt zu annehmbaren Ergebnissen.

11 Einerseits würde eine systematische Anwendung des Artikels 16 Absatz 2 auch in den Fällen, in denen das Mitglied während seiner Amtszeit stirbt, z. B. dazu führen, daß den Überlebenden jede Versorgung dann abgesprochen würde, wenn das Mitglied stirbt, bevor es einen Anspruch auf Ruhegehalt erworben hat. Wenn sich dieser Nachteil auch im Laufe der Ausübung des Amtes immer mehr abschwächt, so verschwindet er doch erst nach dem achten Amtsjahr vollständig, d. h. dann, wenn das Mitglied nach Artikel 10 Anspruch auf ein Ruhegehalt in Höhe eines Prozentsatzes von achtmal 4,5 %, d. h. 36 % des letzten Gehalts, erworben hat, der dem für die Witwe geltenden Prozentsatz nach Artikel 16 Absatz 1 Unterabsatz 3 entspricht.

12 Folgte man andererseits der Auffassung der Klägerin, wonach Artikel 16 Absatz 2 nur die Fälle betrifft, in denen die Hinterbliebenenversorgung nach Absatz 1 Unterabsatz 2 berechnet wird, so würde diese Bestimmung, wie der Generalanwalt in Nummer 39 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, nur in dem Fall einen Sinn ergeben, in denen das während seiner Amtszeit gestorbene Mitglied beispielsweise einen Ehegatten und mehr als zehn unterhaltsberechtigte Kinder hinterließe. Nur dann könnte nämlich die Summe der Prozentsätze von 10 % für jede Waise den Hoechstbetrag des Ruhegehalts übersteigen, auf das das verstorbene Mitglied Anspruch gehabt hätte.

13 Angesichts dieser Erwägungen ist unter Zugrundelegung der Entstehungsgeschichte des Artikels 16 nach dem Zweck des Absatzes 1 Unterabsatz 3 und des Absatzes 2 zu fragen.

14 Insoweit ergibt eine Prüfung der verschiedenen Änderungen der fraglichen Regelung, daß der Gesetzgeber die Witwe in dem Fall begünstigen wollte, daß das Mitglied während seiner Amtszeit stirbt. Aus den verschiedenen Anpassungen der Prozentsätze für die Renten folgt jedoch, daß die Verfasser dieser Bestimmungen auch stets darauf bedacht waren, daß der den anspruchsberechtigten Angehörigen gezahlte Gesamtbetrag nicht den Hoechstbetrag des Ruhegehalts übersteigen kann, auf den der Verstorbene nach seinem Ausscheiden aus dem Amt Anspruch gehabt hätte.

15 Die Entwicklung der Regelung der Amtsbezuege für die Mitglieder und ehemaligen Mitglieder der Organe der Europäischen Gemeinschaften zeigt, daß Bestimmungen wie Artikel 16 Absatz 2 der Verordnung Nr. 2290/77 von Anfang an für alle Fälle der Berechnung der Hinterbliebenenversorgung gelten und dafür sorgen sollten, daß der Gesamtbetrag dieser Versorgungsleistungen nicht den Hoechstbetrag des Ruhegehalts des Mitglieds übersteigt.

16 Da Herr H. während seiner Amtszeit gestorben ist, entspricht die Obergrenze für den Gesamtbetrag der seinen anspruchsberechtigten Angehörigen zustehenden Hinterbliebenenversorgung mithin dem in Artikel 10 der Verordnung genannten "Hoechstruhegehalt", d. h. 70 % des letzten Grundgehalts.

17 Indem der Rechnungshof für den Hoechstbetrag auf den Betrag des Ruhegehalts, auf den Herr H. am Tage seines Todes Anspruch hatte, abgestellt und die den anspruchsberechtigten Angehörigen zu zahlende Hinterbliebenenversorgung entsprechend gekürzt hat, hat er gegen die Bestimmungen der Artikel 10 und 16 der Verordnung Nr. 2290/77 verstossen.

18 Die Entscheidung des Rechnungshofes vom 12. Oktober 1992 ist daher für nichtig zu erklären.

Kostenentscheidung:

Kosten

19 Da der Rechnungshof mit seinem Vorbringen unterlegen ist, ist er gemäß Artikel 69 § 2 der Verfahrensordnung zur Tragung der Kosten zu verurteilen.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

für Recht erkannt und entschieden:

1) Die Entscheidung des Rechnungshofes vom 12. Oktober 1992 über die Festsetzung der Hinterbliebenenversorgung für die Klägerin als Witwe und ihre Kinder als Waisen wird für nichtig erklärt.

2) Der Rechnungshof trägt die Kosten des Verfahrens.

Ende der Entscheidung

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