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Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 01.06.1995
Aktenzeichen: C-42/94
Rechtsgebiete: belgisches Code Civi
Vorschriften:
belgisches Code Civi Art. 1794 |
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg
URTEIL DES GERICHTSHOFES (DRITTE KAMMER) VOM 1. JUNI 1995. - HEIDEMIJ ADVIES BV GEGEN EUROPAEISCHES PARLAMENT. - ARTIKEL 181 EWG-VERTRAG - SCHIEDSKLAUSEL - ERWEITERUNGSBAUTEN FUER DAS EUROPAEISCHE PARLAMENT IN BRUESSEL - KUENDIGUNG DES WERKVERTRAGS DURCH DAS EUROPAEISCHE PARLAMENT - SCHADENSERSATZFORDERUNG DES UNTERNEHMERS. - RECHTSSACHE C-42/94.
Entscheidungsgründe:
1 Die Klägerin, eine Gesellschaft niederländischen Rechts, hat mit Klageschrift, die am 1. Februar 1994 bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, gemäß den Artikeln 42 EGKS-Vertrag, 181 EWG-Vertrag und 153 EAG-Vertrag gegen das Europäische Parlament (im folgenden: Parlament) Klage auf Schadensersatz wegen Kündigung eines Werkvertrags erhoben.
2 Der Klägerin wurden 1990 nach einer vom Parlament veranstalteten Ausschreibung u. a. die Überwachung und Kontrolle der Hochbauarbeiten im Rahmen der Erweiterungsbauten für das Parlament in Brüssel übertragen.
3 Der am 27. Juli 1990 geschlossene Werkvertrag sah für diesen Auftrag eine Vergütung von 71 600 ECU pro Jahr vor. Dieser Betrag entsprach 200 Arbeitstagen; für einen Tag wurden folglich 358 ECU in Rechnung gestellt. Da der tatsächliche Umfang des Auftrags damals nicht genau bestimmt werden konnte, wurde für zusätzliche Leistungen eine Vergütung von 640 ECU pro Tag vereinbart (Artikel 3 des Vertrages).
4 Grundsätzlich sollte der Auftrag mit der endgültigen Abnahme der Gebäude, d. h. am 1. Juni 1996, enden. Nach Artikel 4 Absatz 5 des Werkvertrags hatte das Parlament aber "das Recht, den der Heidemij Adviesbureau BV erteilten Auftrag durch Einschreiben unter Einhaltung einer Kündigungsfrist von drei Monaten jeweils zum Ablauf eines Jahres zu kündigen".
5 In Artikel 10 des Werkvertrags wurde die Geltung des belgischen Rechts vereinbart und dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften auf der Grundlage der Artikel 42 EGKS-Vertrag, 181 EWG-Vertrag und 153 EAG-Vertrag die Zuständigkeit für Rechtsstreitigkeiten aus dem Vertrag übertragen.
6 Auftragsbeginn war der 1. Januar 1991. Die Aufgaben erwiesen sich als deutlich umfangreicher als vorhergesehen. Anstelle des jährlichen Pauschalbetrags von 71 600 ECU zahlte das Parlament im Jahr 1991 345 302,77 ECU und im Jahr 1992 1 925 000 ECU.
7 Da es den Parteien nicht gelang, sich über eine neue Form der Vergütung zu einigen, kündigte das Parlament mit Schreiben an die Klägerin vom 21. Januar 1993 den Werkvertrag gemäß seinem Artikel 4 Absatz 5 zum 1. Juli 1993, wobei es darauf hinwies, daß für die Fortführung des Auftrags eine neue Ausschreibung erfolgen werde.
8 Im Rahmen dieser neuen Ausschreibung reichte die Klägerin am 5. April 1993 ein Angebot über 7 971 500 ECU ein. Dieses Angebot wurde vom Parlament mit Schreiben vom 11. Juni 1993 abgelehnt.
9 Mit Schreiben vom 28. Juni und 1. Juli 1993 forderte die Klägerin vom Parlament die Zahlung von 797 150 ECU, d. h. von 10 % der Angebotssumme, als Entschädigung dafür, daß ihr wegen der vorzeitigen Kündigung des Werkvertrags ein Gewinn in dieser Höhe entgangen sei. Diese Forderung wurde am 15. Juli 1993 vom Parlament zurückgewiesen.
10 Unter diesen Umständen hat die Klägerin beim Gerichtshof Klage mit den Anträgen erhoben,
° das Parlament zu verurteilen, ihr als vertraglichen Schadensersatz wegen Kündigung des Auftrags 797 150 ECU nebst Zinsen zum vertraglich vereinbarten Satz von 8 % seit dem 15. September 1993 zu zahlen;
° dem Parlament sämtliche Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.
11 Das Parlament beantragt,
° die Klage für unbegründet zu erklären und abzuweisen und der Klägerin die Kosten aufzuerlegen;
° hilfsweise, den Schadensersatzbetrag auf 20 883,33 ECU festzusetzen und der Klägerin die Kosten aufzuerlegen.
12 Die Parteien streiten über Grund und Höhe des von der Klägerin erhobenen Schadensersatzanspruchs.
Zum grundsätzlichen Bestehen eines Schadensersatzanspruchs
13 Die Klägerin beruft sich auf Artikel 1794 des belgischen Code Civil, der dem Unternehmer bei einer Kündigung des Werkvertrags durch den Besteller einen Schadensersatzanspruch zuerkenne.
14 Diese Vorschrift lautet:
"Der Besteller kann, auch wenn das Werk bereits begonnen worden ist, den zu einem Pauschalpreis geschlossenen Vertrag nach freiem Ermessen kündigen; er hat dem Unternehmer für seine gesamten Aufwendungen, seine gesamten Arbeiten und den gesamten Gewinn, den er mit diesem Vertrag hätte erzielen können, Ersatz zu leisten."
15 Das Parlament verneint einen Schadensersatzanspruch der Klägerin, da Artikel 4 Absatz 5 des Werkvertrags die Anwendung des Artikels 1794 des belgischen Code Civil ausschließe. Diese Auslegung werde durch die Haltung der Klägerin bestätigt, die die Wirksamkeit der Kündigung nie bestritten und an der neuen Ausschreibung teilgenommen habe, ohne den geringsten Protest oder Vorbehalt zum Ausdruck zu bringen.
16 Es steht fest, daß der Werkvertrag vom 27. Juli 1990 in den Anwendungsbereich des Artikels 1794 des belgischen Code Civil fällt und daß die Parteien von dieser Vorschrift abweichen können, da sie kein zwingendes Recht darstellt.
17 Artikel 4 Absatz 5 des Werkvertrags kann jedoch nicht so ausgelegt werden, daß damit hinsichtlich des Schadensersatzanspruchs des Unternehmers ausdrücklich oder stillschweigend von Artikel 1794 des belgischen Code Civil abgewichen wird.
18 Durch die Bestimmungen dieses Artikels werden nämlich nur die Modalitäten der vorzeitigen Vertragskündigung durch den Besteller festgelegt, ohne daß Regelungen hinsichtlich des Schadensersatzanspruchs des Unternehmers getroffen werden.
19 Es lässt sich nicht sagen, daß die Parteien durch ihr Schweigen zum Ausgleich jeden Schadensersatz ausschließen wollten. Aus Artikel 12 des Werkvertrags geht hervor, daß die Parteien dann, wenn sie dem Unternehmer jeden Schadensersatzanspruch nehmen wollten, dies ausdrücklich getan haben. Um jeden Schadensersatzanspruch des Unternehmers bei einer Kündigung des Werkvertrags durch das Parlament auszuschließen, die die Folge einer Kündigung der Mietverträge über die Gebäude, auf die sich der Auftrag der Heidemij BV bezieht, durch Dritte oder durch das Parlament selbst ist, haben es die Parteien so für nötig befunden, ausdrücklich zu bestimmen, daß der Werkvertrag aufgehoben wird, "ohne daß Schadensersatz wegen Kündigung geschuldet wird".
20 Ausserdem lässt sich aus dem Verhalten der Klägerin nach der Kündigung des Werkvertrags nicht auf das Bestehen einer stillschweigenden Vereinbarung schließen, die jeden Schadensersatzanspruch ausschließen würde. Hierzu genügt die Feststellung, daß die Kündigung ein einseitiges Rechtsgeschäft des Parlaments ist, dem die Klägerin nicht entgegentreten musste, und daß das Unterbleiben eines Protestes der Klägerin sich ebensogut dadurch erklären lässt, daß sie ihre Chancen auf den Zuschlag im Rahmen der neuen Ausschreibung nicht beeinträchtigen wollte.
21 Nach alledem hat die Klägerin gemäß Artikel 1794 des belgischen Code Civil wegen der Kündigung des Werkvertrags einen Schadensersatzanspruch.
Zur Höhe des Schadensersatzes
22 Die Parteien stimmen darin überein, daß der Schadensersatz auf 10 % des Wertes der noch durchzuführenden Arbeiten anzusetzen ist, sind aber hinsichtlich des Wertes dieser Arbeiten unterschiedlicher Ansicht.
23 Die Klägerin, die der Auffassung ist, daß der jährliche Pauschalbetrag von 71 600 ECU den tatsächlichen Umfang des Auftrags nicht widerspiegele, trägt vor, daß der in ihrem Angebot vom 5. April 1993 genannte Betrag, nämlich 7 971 500 ECU, die Bedeutung berücksichtige, die der Auftrag in den Jahren 1991 bis 1993 erlangt habe, und die einzige angemessene Berechnungsgrundlage sei, es sei denn, man stütze sich auf den Gesamtbetrag, den ihr Nachfolger erhalten werde.
24 Dagegen führt das Parlament aus, daß der Schadensersatz auf der Grundlage des in dem Werkvertrag vorgesehenen Pauschalbetrags von 71 600 ECU zu berechnen sei.
25 Entgegen dem Vorbringen der Klägerin kann das Volumen der noch durchzuführenden Arbeiten nicht auf der Grundlage eines von ihr im Hinblick auf den Abschluß eines neuen Werkvertrags vorgelegten Voranschlags berechnet werden, sondern nur auf der Grundlage der Vergütung, auf die sie Anspruch gehabt hätte, wenn der gekündigte Vertrag bis zum Ende seiner Laufzeit durchgeführt worden wäre.
26 Nach Artikel 3 Absatz 1 dritter Gedankenstrich des Werkvertrags vom 27. Juli 1990 hatte die Klägerin nur Anspruch auf einen jährlichen Pauschalbetrag von 71 600 ECU, da jede zusätzliche Leistung von der Zustimmung des Bestellers abhing.
27 Infolge der Kündigung des Werkvertrags hat die Klägerin also nur die Chance verloren, daß bei ihr über die 200 Arbeitstage hinaus, denen der jährliche Pauschalbetrag entsprach, weitere Leistungen in Auftrag gegeben worden wären.
28 Nach den im belgischen Recht allgemein anerkannten Grundsätzen muß der Verlust dieser Chance konkret bewertet werden.
29 Insoweit ergibt sich aus den Verhandlungen über die Festsetzung einer neuen Vergütung sowie aus dem Schreiben des Parlaments vom 12. November 1993, daß dieses die Dienstleistungen der Klägerin und insbesondere ihre zusätzlichen Leistungen als zu kostspielig ansah. Unter diesen Umständen lässt sich nicht sagen, daß die Klägerin durch den Verlust der Chance, zusätzliche Leistungen zu erbringen, einen Schaden erlitten hat.
30 Der Schadensersatz, den die Klägerin beanspruchen kann, beläuft sich folglich auf 10 % des Betrages, den sie als jährliche Pauschalvergütung vom 1. Juli 1993 bis 1. Juni 1996 erhalten hätte (208 833,33 ECU), also auf 20 883,33 ECU.
31 Die Verzugszinsen sind nicht auf der Grundlage des Artikels 7 des Werkvertrags, der sich nur auf die Bezahlung ordnungsgemäß durchgeführter Arbeiten bezieht, sondern gemäß Artikel 1153 des belgischen Code Civil zu berechnen, wonach sie ab dem Eintritt des Verzugs geschuldet werden.
32 Da die Klägerin das Parlament mit Schreiben vom 17. August 1993 in Verzug gesetzt hat, fordert sie zu Recht Verzugszinsen seit dem 15. September 1993.
33 Gemäß Artikel 1153 des belgischen Code Civil sind die Zinsen zu dem in Belgien geltenden gesetzlichen Satz, d. h. gegenwärtig zum Satz von 8 %, zu berechnen.
34 Nach alledem ist das Parlament zu verurteilen, der Klägerin 20 883,33 ECU nebst Verzugszinsen in Höhe von 8 % seit dem 15. September 1993 zu zahlen.
Kostenentscheidung:
Kosten
35 Nach Artikel 69 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da der Beklagte mit seinem Vorbringen unterlegen ist, sind ihm die Kosten aufzuerlegen.
Tenor:
Aus diesen Gründen
hat
DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)
für Recht erkannt und entschieden:
1) Der Beklagte wird verurteilt, der Klägerin 20 883,33 ECU nebst Verzugszinsen in Höhe von 8 % seit dem 15. September 1993 zu zahlen.
2) Im übrigen wird die Klage abgewiesen.
3) Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Ende der Entscheidung
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