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Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 06.04.1995
Aktenzeichen: C-439/93
Rechtsgebiete: EWG-Vertrag
Vorschriften:
EWG-Vertrag Art. 177 |
Der Begriff "Streitigkeiten aus dem Betrieb einer Zweigniederlassung, einer Agentur oder einer sonstigen Niederlassung" in Artikel 5 Nr. 5 des Übereinkommens vom 27. September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen in der Fassung des Übereinkommens vom 9. Oktober 1978 über den Beitritt des Königreichs Dänemark, Irlands und des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland setzt nicht voraus, daß die von der Zweigniederlassung im Namen des Stammhauses eingegangenen streitigen Verpflichtungen in dem Vertragsstaat zu erfuellen sind, in dem sich die Zweigniederlassung befindet.
URTEIL DES GERICHTSHOFES VOM 6. APRIL 1995. - LLOYD'S REGISTER OF SHIPPING GEGEN SOCIETE CAMPENON BERNARD. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: COUR DE CASSATION - FRANKREICH. - BRUESSELER UEBEREINKOMMEN - ARTIKEL 5 NR. 5 - STREITIGKEIT BETREFFEND DEN BETRIEB EINER ZWEIGNIEDERLASSUNG. - RECHTSSACHE C-439/93.
Entscheidungsgründe:
1 Die französische Cour de cassation hat mit Urteil vom 26. Oktober 1993, beim Gerichtshof eingegangen am 10. November 1993, gemäß dem Protokoll vom 3. Juni 1971 betreffend die Auslegung des Übereinkommens vom 27. September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen durch den Gerichtshof eine Frage nach der Auslegung des Artikels 5 Nr. 5 dieses Übereinkommens (ABl. 1972, L 299, S. 32) in der Fassung des Übereinkommens vom 9. Oktober 1978 über den Beitritt des Königreichs Dänemark, Irlands und des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland (ABl. L 304, S. 1, geänderter Text S. 77; im folgenden: Übereinkommen) zur Vorabentscheidung vorgelegt.
2 Diese Frage stellt sich in einem Rechtsstreit zwischen der Gesellschaft französischen Rechts Campenon Bernard (im folgenden: Firma Campenon Bernard) mit Sitz in Clichy (Frankreich) und The Lloyd' s Register of Shipping (im folgenden: Lloyd' s Register), charity (gemeinnützige Einrichtung) englischen Rechts mit Sitz in London, über die ordnungsgemässe Ausführung eines Auftrags betreffend die Kontrolle von Betonstählen.
3 Ende November 1985 nahm die Firma Campenon Bernard Kontakt zur französischen Zweigniederlassung von Lloyd' s Register auf, um Betonstähle kontrollieren zu lassen, die sie für den Bau einer Autobahn in Kuwait verwenden wollte. Der Auftrag ging dahin, zu prüfen, ob die Betonstähle einer amerikanischen technischen Norm entsprachen, die das kuwaitische Ministerium für öffentliche Arbeiten in das Lastenheft aufgenommen hatte, und gegebenenfalls ein Konformitätszeugnis auszustellen.
4 Nach Abschluß der Verhandlungen erteilte die Firma Campenon Bernard der französischen Zweigniederlassung mit Schreiben vom 3. Dezember 1985 den Auftrag. In dem Schreiben hieß es, daß die Inspektion in Spanien von der spanischen Zweigniederlassung von Lloyd' s Register durchgeführt werden sollte. Es wurde weiter angegeben, daß die Zahlung in Peseten erfolgen würde. Am 9. Dezember 1985 erklärte die französische Zweigniederlassung von Lloyd' s Register die Annahme des Auftrags.
5 Das kuwaitische Ministerium für öffentliche Arbeiten wies die Betonstähle wegen Nichteinhaltung der amerikanischen technischen Norm zurück, obwohl die spanische Zweigniederlassung von Lloyd' s Register Konformitätszeugnisse ausgestellt hatte.
6 Auf Druck der französischen Zweigniederlassung von Lloyd' s Register bezahlte die Firma Campenon Bernard am 2. Februar 1988 die ihr von der spanischen Zweigniederlassung erteilte Rechnung, wobei sie sich ihre Rechte vorbehielt. Unter dem Vorwurf, Lloyd' s Register habe zu Unrecht die Übereinstimmung der Stähle mit der amerikanischen technischen Norm festgestellt, erhob sie sodann beim Tribunal de commerce Paris Klage auf Schadensersatz gegen Lloyd' s Register über dessen französische Zweigniederlassung.
7 Lloyd' s Register rügte die mangelnde Zuständigkeit der französischen Gerichte.
8 Diese Rüge wurde in erster Instanz aufgrund innerstaatlichen Rechts zurückgewiesen. Erst in der Berufungsinstanz wurde sie im Hinblick auf Artikel 5 Nrn. 1 und 5 des Übereinkommens geprüft, die bestimmen:
"Eine Person, die ihren Wohnsitz in dem Hoheitsgebiet eines Vertragsstaats hat, kann in einem anderen Vertragsstaat verklagt werden:
1. wenn ein Vertrag oder Ansprüche aus einem Vertrag den Gegenstand des Verfahrens bilden, vor dem Gericht des Ortes, an dem die Verpflichtung erfuellt worden ist oder zu erfuellen wäre;
...
5. wenn es sich um Streitigkeiten aus dem Betrieb einer Zweigniederlassung, einer Agentur oder einer sonstigen Niederlassung handelt, vor dem Gericht des Ortes, an dem sich diese befindet".
9 In ihrem Urteil vom 5. Juni 1991 entschied die Cour d' appel Paris, der Rechtsstreit betreffe den Betrieb der französischen Zweigniederlassung von Lloyd' s Register und falle daher in ihre Zuständigkeit. Diese Zweigniederlassung sei der einzige Gesprächspartner der Firma Campenon Bernard gewesen, da sie die Verhandlungen geführt und den Vertrag geschlossen sowie später von dieser Firma Zahlung verlangt habe. Es komme nicht darauf an, daß die Verpflichtungen in Spanien erfuellt worden seien. Artikel 5 Nr. 5 des Übereinkommens verlange nicht, daß die Verpflichtungen in dem Vertragsstaat erfuellt werden müssten, in dem sich der Mittelpunkt geschäftlicher Tätigkeit befinde. Würde eine solche Einschränkung zugelassen, so käme Artikel 5 Nr. 5 gegenüber Artikel 5 Nr. 1 keine Bedeutung mehr zu, da dieser bereits die Zuständigkeit des Gerichts des Erfuellungsorts der streitigen Verpflichtung begründe.
10 Lloyd' s Register hat hiergegen Kassationsbeschwerde eingelegt und unter anderem einen Verstoß gegen Artikel 5 Nr. 5 des Übereinkommens gerügt. Seiner Auffassung nach liegt eine Streitigkeit aus dem Betrieb einer Zweigniederlassung, einer Agentur oder einer sonstigen Niederlassung im Sinne dieser Vorschrift nur vor, wenn die von einem solchen Mittelpunkt geschäftlicher Tätigkeit eingegangenen Verpflichtungen in dem Vertragsstaat erfuellt werden müssen, in dem sich dieser Mittelpunkt befindet.
11 Unter diesen Umständen hat die Cour de cassation dem Gerichtshof mit Urteil vom 26. Oktober folgende Frage vorgelegt:
Setzt in Anbetracht des Artikels 5 Nr. 1 des Übereinkommens vom 27. September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen der Begriff "Streitigkeiten aus dem Betrieb einer Zweigniederlassung, einer Agentur oder einer sonstigen Niederlassung" in Artikel 5 Nr. 5 des Übereinkommens notwendigerweise voraus, daß die von der Zweigniederlassung im Namen des Stammhauses eingegangenen streitigen Verpflichtungen in dem Vertragsstaat zu erfuellen sind, in dem sich die Zweigniederlassung befindet?
12 Lloyd' s Register macht geltend, der Gerichtshof habe in seinem Urteil vom 22. November 1978 in der Rechtssache 33/78 (Somafer, Slg. 1978, 2183, Randnr. 13) festgestellt, daß die in Artikel 5 Nr. 5 aufgestellte Regel Rechtsstreitigkeiten betreffe, die sich auf Verbindlichkeiten bezögen, die von einer solchen Niederlassung im Namen des Stammhauses eingegangen seien, sofern die Verbindlichkeiten im Vertragsstaat der Niederlassung zu erfuellen seien.
13 Ein solches Lokalisierungserfordernis entspreche dem Bedürfnis einer geordneten Rechtspflege, das dieser Vorschrift zugrunde liege. Es solle nämlich die Möglichkeit eröffnen, einen Rechtsstreit, der in der tatsächlichen Tätigkeit einer Niederlassung begründet sei, aus praktischen Gründen wie aus Gründen der erleichterten Beweisführung von dem Gericht des Ortes entscheiden zu lassen, an dem sie sich befinde.
14 Da sich eine Niederlassung zudem nicht darauf beschränken könne, Bestellungen an das Stammhaus zu übermitteln, sondern auch an ihrer Ausführung teilnehmen müsse und das Tätigkeitsgebiet einer Niederlassung insoweit natürlich auf das Gebiet des Vertragsstaats beschränkt sei, in dem sie niedergelassen sei, sei die in Artikel 5 Nr. 5 vorgesehene Zuständigkeit nur gegeben, wenn die von der Niederlassung im Namen ihres Stammhauses eingegangenen Verpflichtungen im Gebiet des Vertragsstaats zu erfuellen seien, in dem sie sich befinde.
15 Diesem Vorbringen kann nicht gefolgt werden.
16 Erstens verlangt Artikel 5 Nr. 5 des Übereinkommens seinem Wortlaut nach nicht, daß die von einer Zweigniederlassung eingegangenen Verbindlichkeiten in dem Vertragsstaat erfuellt werden müssen, in dem sie sich befindet, um zu ihrem Betrieb zu gehören.
17 Zweitens würde die von der Lloyd' s Register vertretene Auffassung Artikel 5 Nr. 5 beinahe völlig um seine praktische Wirksamkeit bringen. Da Artikel 5 Nr. 1 es dem Kläger bereits erlaubt, eine Vertragsklage bei dem Gericht des Erfuellungsorts der Verpflichtung, die Gegenstand seiner Klage ist, zu erheben, wäre Artikel 5 Nr. 5 eine unnötige Wiederholung dieser Vorschrift, wenn er nur für die von der Zweigniederlassung eingegangenen Verpflichtungen gelten würde, die im Gebiet des Vertragsstaats zu erfuellen sind, in dem sich diese befindet. Allenfalls würde er in diesem Fall einen zweiten besonderen Gerichtsstand begründen, wenn sich ° innerhalb des Vertragsstaats der Zweigniederlassung ° der Erfuellungsort der streitigen Verpflichtung in einem anderen Gerichtsbezirk als dem der Zweigniederlassung befindet.
18 Drittens ist eine Niederlassung ein Mittelpunkt geschäftlicher Tätigkeit, der auf Dauer als Aussenstelle eines Stammhauses hervortritt, eine Geschäftsführung hat und sachlich so ausgestattet ist, daß er in der Weise Geschäfte mit Dritten betreiben kann, daß diese, obgleich sie wissen, daß möglicherweise ein Rechtsverhältnis mit dem im Ausland ansässigen Stammhaus begründet wird, sich nicht unmittelbar an dieses zu wenden brauchen (siehe Urteil Somafer, a. a. O., Randnr. 12).
19 Im Sinne des Artikel 5 Nr. 5 des Übereinkommens ist eine Zweigniederlassung, eine Agentur oder eine sonstige Niederlassung also eine Einheit, die als hauptsächlicher, wenn nicht ausschließlicher Gesprächspartner von Dritten in Vertragsverhandlungen auftreten kann.
20 Allerdings besteht nicht notwendigerweise eine enge Verbindung zwischen der Einheit, mit der ein Kunde verhandelt und der er einen Auftrag erteilt, und dem Ort, an dem dieser ausgeführt wird. Verpflichtungen können daher auch dann zum Betrieb einer Niederlassung im Sinne des Artikel 5 Nr. 5 des Übereinkommens gehören, wenn sie ausserhalb des Vertragsstaats dieser Niederlassung ° gegebenenfalls von einer anderen Niederlassung ° erfuellt werden.
21 Diese Auslegung entspricht im übrigen dem Zweck der besonderen Zuständigkeitsregeln. Wie sich aus dem Jenard-Bericht (ABl. 1979, C 59, insbesondere S. 22) ergibt, ermöglichen diese es dem Kläger nämlich, bei einem anderen Gericht als demjenigen des Wohnsitzes des Beklagten zu klagen, soweit eine besonders enge Verbindung zwischen dem Rechtsstreit und dem für seine Entscheidung zuständigen Gericht besteht.
22 Nach alledem ist daher auf die Frage des vorlegenden Gerichts zu antworten, daß der Begriff "Streitigkeiten aus dem Betrieb einer Zweigniederlassung, einer Agentur oder einer sonstigen Niederlassung" in Artikel 5 Nr. 5 des Übereinkommens nicht voraussetzt, daß die von der Zweigniederlassung im Namen des Stammhauses eingegangenen streitigen Verpflichtungen in dem Vertragsstaat zu erfuellen sind, in dem sich die Zweigniederlassung befindet.
Kostenentscheidung:
Kosten
23 Die Auslagen der französischen und der griechischen Regierung sowie der Regierung des Vereinigten Königreichs und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.
Tenor:
Aus diesen Gründen
hat
DER GERICHTSHOF
auf die ihm von der Cour de cassation der Französischen Republik mit Urteil vom 26. Oktober 1993 vorgelegte Frage für Recht erkannt:
Der Begriff "Streitigkeiten aus dem Betrieb einer Zweigniederlassung, einer Agentur oder einer sonstigen Niederlassung" in Artikel 5 Nr. 5 des Übereinkommens vom 27. September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen in der Fassung des Übereinkommens vom 9. Oktober 1978 über den Beitritt des Königreichs Dänemark, Irlands und des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland setzt nicht voraus, daß die von der Zweigniederlassung im Namen des Stammhauses eingegangenen streitigen Verpflichtungen in dem Vertragsstaat zu erfuellen sind, in dem sich die Zweigniederlassung befindet.
Ende der Entscheidung
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