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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 09.08.1994
Aktenzeichen: C-44/93
Rechtsgebiete: EWG-Vertrag


Vorschriften:

EWG-Vertrag Art. 92
EWG-Vertrag Art. 93 Abs. 1
EWG-Vertrag Art. 93 Abs. 2
EWG-Vertrag Art. 93 Abs. 3
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Wenn eine öffentliche Einrichtung, die die Kreditversicherung für Ausfuhren in die anderen Mitgliedstaaten nur am Rande betrieb, mit Zustimmung ihrer Aufsichtsbehörde beschließt, diese Tätigkeit künftig ohne geographische Begrenzung auszuüben, mit der Folge, daß die öffentlichen Beihilfen, die sie aufgrund von Rechtsvorschriften erhält, die vor dem Inkrafttreten des EWG-Vertrags bestanden haben, künftig der ausgeweiteten Tätigkeit zugute kommen, kann dies nicht als Fall der Einführung oder Umgestaltung einer Beihilfe im Sinne des Artikels 93 Absatz 3 EWG-Vertrag angesehen werden, sofern dieser Beschluß ohne Änderung der durch Gesetz eingeführten Beihilferegelung zustande kommt.

Folglich unterliegen die unter diesen Voraussetzungen gewährten Beihilfen, da sie unter eine Beihilferegelung fallen, die vor dem Inkrafttreten des EWG-Vertrags bestand, nicht der Verpflichtung zur vorherigen Anzeige und dem Verbot der Durchführung nach Artikel 93 Absatz 3, sondern sie sind nach Artikel 93 Absatz 1 fortlaufend zu überprüfen.

Man kann die Mitgliedstaaten nämlich nicht zwingen ° ohne einen Faktor der Rechtsunsicherheit zu schaffen °, der Kommission nicht nur die neuen Beihilfen und die Umgestaltungen von Beihilfen im eigentlichen Sinne, die einem Unternehmen, das Nutznießer einer bestehenden Beihilferegelung ist, gewährt werden, anzuzeigen und ihrer präventiven Kontrolle zu unterstellen, sondern auch alle Maßnahmen, die die Tätigkeit dieses Unternehmens betreffen und sich auf das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes, auf den Wettbewerb oder auch nur für einen bestimmten Zeitraum auf die tatsächliche Höhe von Beihilfen auswirken können, die im Grundsatz bestehen, deren Höhe aber notwendig vom Umsatz des Unternehmens abhängt.


URTEIL DES GERICHTSHOFES VOM 9. AUGUST 1994. - NAMUR-LES ASSURANCES DU CREDIT SA GEGEN OFFICE NATIONAL DU DUCROIRE UND BELGISCHER STAAT. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: COUR D'APPEL DE BRUXELLES - BELGIEN. - STAATLICHE BEIHILFEN - BESTEHENDE ODER NEUE BEIHILFEN - AUSDEHNUNG DES TAETIGKEITSGEBIETS EINER OEFFENTLICHEN EINRICHTUNG, DER VOM STAAT VERGUENSTIGUNGEN GEWAEHRT WERDEN. - RECHTSSACHE C-44/93.

Entscheidungsgründe:

1 Die Cour d' appel Brüssel hat mit Urteil vom 5. Februar 1993, beim Gerichtshof eingegangen am 16. Februar 1993, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag drei Fragen nach der Auslegung der Artikel 92 und 93 EWG-Vertrag zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Fragen stellen sich in einem Rechtsstreit, in dem sich zunächst die Firmen Namur-Les assurances de crédit SA (nachstehend: Namur AC) und Compagnie belge d' assurance crédit SA (nachstehend: COBAC) einerseits und das Office national du ducroire (nachstehend: OND) und der belgische Staat andererseits gegenüberstanden.

3 Gemäß dem belgischen Gesetz vom 31. August 1939 über das OND ° eine öffentliche Einrichtung, die insbesondere den Auftrag hat, die mit Aussenhandelsgeschäften verbundenen Risiken zu decken ° genießt das OND mehrere Vorteile: staatliche Garantie, formuliert als allgemeiner Grundsatz, Kapitalausstattung durch verzinsliche Staatsanleihen, staatliche Deckung des jährlichen Haushaltsdefizits, Befreiung von der Steuer auf Versicherungsverträge und der Körperschaftsteuer.

4 Das OND und die Firma COBAC, das älteste private Kreditversicherungsunternehmen Belgiens, waren seit 1935 miteinander durch einen Rückversicherungsvertrag verbunden, wonach das OND "im Wege der freiwilligen Rückversicherung die Inanspruchnahme aller oder eines Teils der von der Compagnie als Erstversicherer eingegangenen Verbindlichkeiten" absicherte. Dieser Vertrag, der keine besondere Beschränkung des Tätigkeitsgebiets des OND enthielt, wurde später durch einen Zusammenarbeitsvertrag ersetzt, nach dem das OND die mit Ausfuhrgeschäften über Güter und Dienstleistungen nach Westeuropa zusammenhängenden Handelsrisiken, die normalerweise von der COBAC übernommen wurden, nur ausnahmsweise versicherte. Das OND kündigte den letztgenannten Vertrag zum Ende des Jahres 1988 mit der Begründung, er stelle eine durch die gemeinschaftsrechtlichen Wettbewerbsvorschriften verbotene Marktaufteilung dar, und trat im Jahr 1989 mit Zustimmung der die Aufsicht führenden Minister in den Kreditversicherungsmarkt für Risiken in Westeuropa ein.

5 Da die Firmen COBAC und Namur AC, ein weiteres auf diesem Markt tätiges Privatunternehmen, der Auffassung waren, daß die Ausdehnung des Tätigkeitsgebiets des OND wegen seiner ihm vom Staat gewährten Vorteile den Wettbewerb verfälschen könne, reichten sie bei der Kommission eine Beschwerde ein, die auf einen Verstoß gegen die Artikel 92 und 93 gestützt war. Ausserdem wandten sie sich an die nationalen Gerichte insbesondere mit dem Begehren, die Tätigkeit des OND auf dem Gebiet der Kreditversicherung für Ausfuhren in die Mitgliedstaaten bis zum Erlaß einer Entscheidung der Kommission über die Vereinbarkeit der gewährten Beihilfen oder einer gerichtlichen Entscheidung des Rechtsstreits zwischen ihnen und dem OND und dem belgischen Staat auszusetzen.

6 Der Präsident des Tribunal de première instance Brüssel vertrat in der Entscheidung über die einstweilige Anordnung die Auffassung, daß die streitigen Beihilfen unter Artikel 93 Absatz 1 EWG-Vertrag fielen, und erklärte sich für unzuständig, über die Rechtssache zu befinden, da diese Bestimmung keine unmittelbare Wirkung habe.

7 Die dann mit der Rechtssache befasste Cour d' appel Brüssel ist der Auffassung, daß die Lösung des Rechtsstreits von der Auslegung der Artikel 92 und 93 EWG-Vertrag abhänge, und hat dem Gerichtshof folgende Vorabentscheidungsfragen vorgelegt:

1) Ist Artikel 93 Absatz 3 EWG-Vertrag dahin auszulegen, daß als Einführung oder Umgestaltung einer Beihilfe die Entscheidung eines Mitgliedstaats anzusehen ist, einer öffentlichen Einrichtung, die die Kreditversicherung für Ausfuhren in die anderen Mitgliedstaaten nur am Rande betrieb, nach Inkrafttreten des EWG-Vertrags zu erlauben, diese Tätigkeit künftig unbegrenzt auszuüben, mit der Folge, daß die Beihilfen, die dieser Staat dieser Einrichtung aufgrund von Rechtsvorschriften gewährt hat, die vor dem Inkrafttreten des EWG-Vertrages bestanden haben, künftig allein aufgrund dieses Umstands für die Ausübung der somit ausgeweiteten Tätigkeit Anwendung finden?

2) Ist Artikel 93 EWG-Vertrag dahin auszulegen, daß eine neue Beihilfe als unter die Regelung für bestehende Beihilfen fallend anzusehen ist, die der Kommission nicht gemäß Artikel 93 Absatz 3 mitgeteilt worden und Gegenstand einer Beschwerde bei der Kommission gewesen ist, wenn die Kommission das Verfahren nach Artikel 93 Absatz 2 EWG-Vertrag nicht innerhalb einer angemessenen Frist eröffnet hat, nachdem sie die Vorprüfung der Beihilfe durchgeführt und an den betreffenden Mitgliedstaat ein entsprechendes Auskunftsverlangen gerichtet hat, in dem sie ausgeführt hat, daß sie sich bei Nichtbeantwortung oder nicht hinreichender Beantwortung bis zum Ablauf der gesetzten Frist gezwungen sehen werde, dieses Verfahren zu eröffnen, und nachdem dem Verlangen nachgekommen worden ist?

3) Ist Artikel 92 Absatz 1 EWG-Vertrag dahin auszulegen, daß als Einführung oder Umgestaltung einer Beihilfe die Verhaltensweise eines Mitgliedstaats anzusehen ist, die darin besteht,

a) über die Vertreter der Minister im Verwaltungsrat einer öffentlichen Einrichtung mit eigener Rechtspersönlichkeit entsprechend den für diese Einrichtung geltenden Rechtsvorschriften eine allgemeine Leitlinie mitzuteilen, die die Ausweitung einer Beihilfe bedeutet;

b) sich nicht durch Tätigwerden der Vertreter der Minister im Verwaltungsrat einer solchen öffentlichen Einrichtung einer Entscheidung des Verwaltungsrats zu widersetzen, die die Ausweitung einer Beihilfe bedeutet, insbesondere durch Nichtherbeiführen der Aufhebung dieser Entscheidung, obwohl die für diese öffentliche Einrichtung geltenden Rechtsvorschriften die Aufhebung durch den Staat nach der Aussetzung dieser Entscheidung durch die Vertreter der Minister zuließen?

8 Nach Erlaß dieses Vorlageurteils nahm die COBAC ihre Klage zurück. Die Namur AC erklärte ihre Absicht, das Verfahren allein fortzuführen.

9 Zur Beantwortung der von dem nationalen Gericht vorgelegten Vorabentscheidungsfragen ist zunächst auf die Struktur des Artikels 93 EWG-Vertrag und die sich daraus einerseits für die Kommission und andererseits für die Mitgliedstaaten und ihre Gerichte ergebenden Befugnissen und Verpflichtungen im Hinblick auf bestehende und neue Beihilfen hinzuweisen. Sodann sind die erste und die dritte Frage gemeinsam zu prüfen, mit denen das vorlegende Gericht wissen möchte, ob die Entscheidung eines Mitgliedstaats, einer öffentlichen Einrichtung, die staatliche Beihilfen erhält, die Ausdehnung ihres Tätigkeitsgebiets zu gestatten, oder die von diesem Mitgliedstaat gegenüber einer dahin gehenden Entscheidung der öffentlichen Einrichtung eingenommene Haltung, wie sie im Vorlageurteil beschrieben ist, der Einführung oder Umgestaltung einer Beihilfe im Sinne des Artikels 93 Absatz 3 gleichzustellen ist. Schließlich wird gegebenenfalls die zweite Frage zu beantworten sein, ob eine neue Beihilfe, die nicht ordnungsgemäß angezeigt worden ist, gleichwohl als bestehende Beihilfe angesehen werden kann, wenn die Kommission, nachdem sie über das Bestehen dieser Beihilfe durch eine Beschwerde unterrichtet wurde, nach einer ersten Prüfung nicht innerhalb einer angemessenen Frist das Verfahren nach Artikel 93 Absatz 2 eröffnet hat.

Zur Unterscheidung zwischen bestehenden und neuen Beihilfen und zur Aufteilung der Befugnisse und Verpflichtungen zwischen der Kommission einerseits und den Mitgliedstaaten und den nationalen Gerichten andererseits

10 Artikel 93 EWG-Vertrag, der der Kommission die fortlaufende Überprüfung und die Kontrolle staatlicher oder aus staatlichen Mitteln gewährter Beihilfen ermöglichen soll, sieht für bestehende und für neue Beihilfen unterschiedliche Verfahren vor.

11 Bestehende Beihilfen überprüft die Kommission nach Artikel 93 Absatz 1 fortlaufend in Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten. Im Rahmen dieser Überprüfung schlägt die Kommission ihnen die zweckdienlichen Maßnahmen vor, die die fortschreitende Entwicklung und das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes erfordern. Stellt die Kommission fest, nachdem sie den Beteiligten eine Frist zur Äusserung gesetzt hat, daß eine von einem Staat oder aus staatlichen Mitteln gewährte Beihilfe mit dem Gemeinsamen Markt nach Artikel 92 unvereinbar ist oder daß sie mißbräuchlich angewandt wird, so entscheidet sie gemäß Artikel 93 Absatz 2, daß der betreffende Staat sie binnen einer von ihr bestimmten Frist aufzuheben oder umzugestalten hat (Urteil vom 30. Juni 1992 in der Rechtssache C-47/91, Italien/Kommission, Slg. 1992, I-4145, Randnr. 23). Bei bestehenden Beihilfen liegt die Initiative also bei der Kommission.

12 In bezug auf neue Beihilfen sieht Artikel 93 Absatz 3 vor, daß die Kommission von jeder beabsichtigten Einführung oder Umgestaltung von Beihilfen so rechtzeitig unterrichtet wird, daß sie sich dazu äussern kann. Sie nimmt dann eine erste Überprüfung der beabsichtigten Beihilfen vor. Wenn sie nach Abschluß dieser Überprüfung der Auffassung ist, daß ein derartiges Vorhaben nach Artikel 92 mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbar ist, leitet sie das in Artikel 93 Absatz 2 vorgesehene förmliche Prüfungsverfahren ein. In einem solchen Fall darf der betreffende Mitgliedstaat gemäß Artikel 93 Absatz 3 Satz 3 die beabsichtigte Maßnahme nicht durchführen, bevor die Kommission eine abschließende Entscheidung erlassen hat. Neue Beihilfen sind somit einer präventiven Kontrolle durch die Kommission unterworfen und dürfen grundsätzlich nicht durchgeführt werden, solange diese sie nicht für mit dem Vertrag vereinbar erklärt hat (Urteil Italien/Kommission, a. a. O., Randnr. 24). Diese letztgenannte Regel bedarf jedoch der Abmilderung durch die Rechtsprechung des Gerichtshofes, nach der für den Fall, daß die Kommission es unterlässt, ein förmliches Verfahren einzuleiten, obwohl sie durch einen Mitgliedstaat von der beabsichtigten Einführung oder Umgestaltung einer Beihilfe unterrichtet worden ist, der betreffende Staat nach Ablauf der zur ersten Prüfung des Vorhabens ausreichenden Frist die geplante Beihilfemaßnahme unter der Bedingung durchführen darf, daß er dies der Kommission zuvor anzeigt; damit fällt die Beihilfe dann unter die Regelung für bestehende Beihilfen (Urteil vom 11. Dezember 1973 in der Rechtssache 120/73, Lorenz, Slg. 1973, 1471, Randnr. 6).

13 Sowohl aus dem Inhalt als auch aus den Zielsetzungen dieser Bestimmungen ergibt sich, daß als bestehende Beihilfen im Sinne des Artikels 93 Absatz 1 die Beihilfen, die vor dem Inkrafttreten des EWG-Vertrages bestanden, und die Beihilfen anzusehen sind, die unter den Voraussetzungen des Artikels 93 Absatz 3 einschließlich derjenigen, die sich aus der Auslegung dieser Vorschrift durch den Gerichtshof im genannten Urteil Lorenz ergeben, ordnungsgemäß durchgeführt werden durften. Als neue Beihilfen, für die die Anzeigepflicht des Artikels 93 Absatz 3 gilt, sind dagegen die Maßnahmen anzusehen, die auf die Einführung oder Umgestaltung von Beihilfen gerichtet sind, wobei sich die Umgestaltung auf bestehende Beihilfen oder auf der Kommission mitgeteilte ursprüngliche Vorhaben beziehen kann (vgl. Urteil vom 9. Oktober 1984 in den verbundenen Rechtssachen 91/83 und 127/83, Heineken Brouwerijen, Slg. 1984, 3435, Randnrn. 17 f.).

14 In diesem Rahmen nehmen die Kommission und die nationalen Gerichte voneinander verschiedene Aufgaben und Befugnisse wahr.

15 Was die Kommission anbelangt, hat der Gerichtshof in dem Urteil vom 22. März 1977 in der Rechtssache 78/76 (Steinike & Weinlig, Slg. 1977, 595, Randnr. 9) festgestellt, daß der Vertrag in Artikel 93 der Kommission die fortlaufende Überprüfung der Beihilfen übertragen hat und somit davon ausgeht, daß die Feststellung der Unvereinbarkeit einer Beihilfe mit dem Gemeinsamen Markt in einem geeigneten Verfahren zu erfolgen hat, dessen Durchführung vorbehaltlich der Kontrolle durch den Gerichtshof Sache der Kommission ist.

16 Die nationalen Gerichte werden tätig aufgrund der unmittelbaren Wirkung des Artikels 93 Absatz 3 EWG-Vertrag, der dem betreffenden Mitgliedstaat in bezug auf Vorhaben zur Einführung oder Umgestaltung von Beihilfen die Durchführung der beabsichtigten Maßnahme untersagt, bevor die Kommission eine abschließende Entscheidung erlassen hat oder die im Urteil Lorenz aufgestellten Voraussetzungen vorliegen. Dabei kann ein nationales Gericht Veranlassung haben, den in Artikel 92 enthaltenen Begriff der Beihilfe auszulegen und anzuwenden, um zu bestimmen, ob eine ohne Beachtung des in Artikel 93 Absatz 3 vorgesehenen Vorprüfungsverfahrens eingeführte staatliche Maßnahme diesem Verfahren hätte unterworfen werden müssen (Urteil Steinike & Weinlig, a. a. O., Randnr. 14).

17 Wie der Gerichtshof im Urteil vom 21. November 1991 in der Rechtssache C-354/90 (Fédération nationale du commerce extérieur des produits alimentaires und Syndicat national des négociants et transformateurs de saumon, Slg. 1991, I-5505, Randnr. 14) festgestellt hat, unterscheidet sich die der Kommission durch die Artikel 92 und 93 EWG-Vertrag vorbehaltene zentrale und ausschließliche Rolle bei der Feststellung der etwaigen Unvereinbarkeit einer Beihilfe mit dem Gemeinsamen Markt grundlegend von derjenigen, die den nationalen Gerichten hinsichtlich des Schutzes der Rechte zukommt, die der Bürger aus der unmittelbaren Wirkung des in Artikel 93 Absatz 3 Satz 3 EWG-Vertrag enthaltenen Verbots zieht. Wenn diese Gerichte insoweit eine Entscheidung treffen, äussern sie sich dabei nicht über die Vereinbarkeit der Beihilfemaßnahmen mit dem Gemeinsamen Markt, da für diese abschließende Einschätzung ausschließlich die Kommission ° unter der Kontrolle des Gerichtshofes ° zuständig ist.

18 In dieser Situation stellen sich in dem Ausgangsrechtsstreit nur die Fragen nach der Wahl des angemessenen Kontrollverfahrens, d. h. nach der Wahl zwischen Absatz 1 und Absatz 3 des Artikels 93, und nicht nach der Vereinbarkeit oder Unvereinbarkeit der streitigen Maßnahmen mit dem Gemeinsamen Markt. Wenn diese Fragen eine Auslegung des Begriffs der Beihilfe im Sinne von Artikel 92 Absatz 1 erfordern, so nur zur Feststellung, ob die im Vorlageurteil beschriebenen Maßnahmen unter das Verfahren des Artikels 93 Absatz 3 fallen oder nicht.

Zur ersten und zur dritten Frage

19 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Entscheidung eines Mitgliedstaats, mit der er einer öffentlichen Einrichtung, der er aufgrund von vor dem Inkrafttreten des EWG-Vertrages erlassenen Rechtsvorschriften Vorteile gewährt, die Ausdehnung ihres Tätigkeitsgebiets gestattet, der Einführung oder Umgestaltung einer Beihilfe gleichzustellen und daher der Anzeigepflicht und dem Verbot der Durchführung des Artikels 93 Absatz 3 EWG-Vertrag zu unterwerfen ist, sofern diese Vorteile für die neue Tätigkeit gelten.

20 Die Namur AC, die französische und die niederländische Regierung sowie die Kommission schlagen vor, diese Frage zu bejahen. Sie machen im wesentlichen geltend, daß die Ausdehnung des Tätigkeitsgebiets des OND nicht als vernachlässigbare Umgestaltung bereits bestehender Beihilfen angesehen werden könne, da es dieser öffentlichen Einrichtung dadurch ermöglicht worden sei, mit den privaten Gesellschaften für Ausfuhrkreditversicherungen in Wettbewerb zu treten und dabei die Vorteile, über die sie verfügt, zu behalten.

21 Die belgische Regierung und das OND sind dagegen der Auffassung, daß die fraglichen Beihilfen, die 1939 eingeführt worden seien, unter die Regelung für bestehende Beihilfen des Artikels 93 Absatz 1 EWG-Vertrag fielen und daß die erfolgte Umgestaltung nicht der Verpflichtung zur Unterrichtung nach Absatz 3 dieses Artikels unterworfen sei.

22 Um festzustellen, ob eine Entscheidung, mit der einem öffentlichen Unternehmen wie dem OND, das vom Staat gewährte Vorteile genießt, die Ausdehnung seines Tätigkeitsgebiets gestattet wird, als Einführung oder Umgestaltung von Beihilfen im Sinne des Artikels 93 Absatz 3 angesehen werden kann, sind diese Vorteile sowie die Natur und die Tragweite der fraglichen Entscheidung unter Berücksichtigung der im Vorlageurteil enthaltenen, durch die Stellungnahmen der Betroffenen und die Antworten auf die Fragen des Gerichtshofes ergänzten Angaben zu überprüfen.

23 Wie in Randnummer 3 dieses Urteils festgestellt, wurden die Vorteile, die das OND genießt, dieser Einrichtung durch eine vor dem Inkrafttreten des EWG-Vertrages erlassene Rechtsvorschrift gewährt. Gemäß dem Gesetz vom 31. August 1939 war das OND unter staatlicher Garantie tätig (Artikel 1), es war mit Kapital aus Staatsanleihen (Artikel 5) und den Einnahmen daraus (Artikel 7) ausgestattet, es bildete spezielle Reservefonds, die insbesondere die Deckung seines Haushaltsdefizits durch den Staat ermöglichten (Artikel 18), und es war zu denselben Bedingungen wie der Staat von Abgaben und Steuern befreit (Artikel 23). Abgesehen von Anpassungen, die den Kern dieser Vorteile nicht berührten, bestanden diese Rechtsvorschriften am 1. Februar 1989, dem für den Ausgangsrechtsstreit entscheidungserheblichen Zeitpunkt, unverändert fort.

24 Diese Rechtsvorschriften bestimmten den Zweck des OND und die Bereiche seines Handelns sehr allgemein. In seiner ursprünglichen Fassung hieß es in Artikel 3 des Gesetzes einfach: "Zweck des OND ist die Förderung der Ausfuhr durch die Gewährung von Garantien, die dazu geeignet sind, die damit verbundenen Risiken, insbesondere Kreditrisiken, zu mindern." In der Fassung dieses Artikels 3, wie sie im für den Ausgangsrechtsstreit entscheidungserheblichen Zeitpunkt galt, war der Zweck des OND definiert als "Förderung des Aussenhandels und der belgischen Investitionen im Ausland", und es war dort insbesondere vorgesehen, daß das OND zur Erfuellung seiner Aufgabe "Garantien gewähren [kann], die geeignet sind, die Risiken, insbesondere die Kreditrisiken, zu vermindern, die mit den Aussenhandelsgeschäften verbunden sind... ". Diese Rechtsvorschriften enthielten keine sachliche oder räumliche Beschränkung des Tätigkeitsgebiets des OND in der Ausfuhrkreditversicherung.

25 Dieses Tätigkeitsgebiet wurde später nicht durch Gesetz, sondern durch die Wirkung von Änderungen der zwischen dem OND und der COBAC getroffenen Vereinbarungen beschränkt. Wie oben in Randnummer 4 dieses Urteils festgestellt, war die ursprüngliche Vereinbarung zwischen diesen beiden Einrichtungen ein blosser Rückversicherungsvertrag, der aber später durch einen Zusammenarbeitsvertrag ersetzt wurde, der insbesondere eine Aufteilung der Risiken und Märkte umfasste. Nach diesem letzteren Vertrag war die COBAC für die Versicherung von Handelsrisiken im Zusammenhang mit Ausfuhrgeschäften mit den Ländern Westeuropas allein zuständig, und das OND wurde auf diesem Markt nur zur Deckung bestimmter Risiken mit besonderen Merkmalen tätig. Dagegen konnten die beiden Vertragsparteien für die Versicherung von Handelsrisiken bei der Ausfuhr in die Vereinigten Staaten und nach Kanada sowie von Risiken bei bestimmten internationalen Geschäften miteinander in Wettbewerb treten.

26 Mit Wirkung vom 1. Februar 1989 wurde diese Beschränkung des Tätigkeitsgebiets des OND nach einer Entscheidung, die das OND im Einvernehmen mit den die Aufsicht führenden Ministern getroffen hatte, aufgehoben. Im einzelnen ermächtigte der Verwaltungsrat die Direktion des OND am 27. Juni 1988, den Vertrag mit der COBAC zu kündigen und die zum Aufbau der Direktversicherung auf dem europäischen Markt erforderlichen Maßnahmen zu treffen. Am 4. Januar 1989 verlangten die die Aufsicht führenden Minister, an die der Generaldirektor des OND am 10. August 1988 herangetreten war, die beabsichtigte Aufnahme der Versicherung von Handelsrisiken in Westeuropa bis zum 1. Februar 1989 auszusetzen. An diesem Tag stimmten die Minister den Empfehlungen einer aus Mitgliedern ihrer Kabinette zusammengesetzten Arbeitsgruppe zu, "einen allmählichen und vorsichtigen Eintritt des OND in diesen neuen Markt zu gestatten".

27 Dieser Positionswechsel des OND und seiner Aufsichtsbehörden bewirkte die Ausdehnung der von dieser Einrichtung zuvor ° während eines Zeitraums, der sich anhand der Akten nicht bestimmen lässt ° tatsächlich ausgeuebten Tätigkeiten. So fragt das vorlegende Gericht den Gerichtshof mit seiner dritten Frage, ob als Einführung oder Umgestaltung einer Beihilfe die Verhaltensweise eines Mitgliedstaats anzusehen ist, die darin besteht, über die Vertreter der Minister im Verwaltungsrat einer öffentlichen Einrichtung auf eine allgemeine Leitlinie hinzuwirken, die die Ausweitung einer Beihilfe bedeutet, oder sich dieser Ausweitung nicht zu widersetzen.

28 Ergibt sich die Beihilfe aus früheren, nicht geänderten Rechtsvorschriften, so kann für die Anwendung des Artikels 93 Absätze 1 und 3 EWG-Vertrag die Frage, ob eine neue Beihilfe oder die Umgestaltung einer bestehenden Beihilfe vorliegt, nicht danach beurteilt werden, welche Bedeutung die Beihilfe für das Unternehmen im Lauf des Bestehens jeweils hatte und wie hoch sie insbesondere jeweils war. Maßstab für die Einstufung einer Beihilfe als neue oder umgestaltete Beihilfe sind die Bestimmungen, in denen sie vorgesehen ist, sowie die dort vorgesehenen Modalitäten und Beschränkungen.

29 Durch die am 1. Februar 1989 in Kraft getretene Entscheidung wurden die Rechtsvorschriften, mit denen dem OND die genannten Vorteile eingeräumt worden waren, nicht geändert, weder was die Natur dieser Vorteile noch was die Tätigkeiten der öffentlichen Einrichtung betrifft, für die sie galten, denn das Gesetz vom 31. August 1939 hatte dieser Einrichtung einen sehr allgemeinen Auftrag zur Verminderung der Risiken von Ausfuhrkrediten zugewiesen. Diese Entscheidung berührt also die durch diese Rechtsvorschriften eingeführte Beihilferegelung nicht. Sie erging zwar nach der Kündigung des Zusammenarbeitsvertrags mit der COBAC, doch weist nichts in den Akten darauf hin, daß das Bestehen und der Inhalt dieses Vertrages, der nur die beiden Vertragsparteien OND und COBAC band, für den Umfang der dem OND vom belgischen Staat durch das Gesetz vom 31. August 1939 gewährten Vorteile maßgeblich gewesen wäre.

30 In mehreren der beim Gerichtshof eingereichten schriftlichen Erklärungen wird die Auffassung vertreten, daß diese öffentliche Einrichtung, bevor die streitige Entscheidung erging, keine Tätigkeiten ausgeuebt habe, mit denen sie mit privaten Gesellschaften im Wettbewerb gestanden hätte, und daß sich daher die ihr gewährten Beihilfen nur auf ausserhalb des Wettbewerbs stehende Tätigkeiten bezogen hätten. Sofern dieser Umstand in der vorliegenden Rechtssache überhaupt von Belang sein sollte, obwohl das Gesetz vom 31. August 1939 dem OND eine sehr allgemeine Aufgabe zuwies, genügt die Feststellung, daß der zwischen dem OND und der COBAC geschlossene Vertrag im Gegenteil einen gewissen Wettbewerb zwischen diesen Einrichtungen vorsah. Wie in Randnummer 25 dieses Urteils festgestellt, konnten das OND und die COBAC nämlich für die Versicherung von Handelsrisiken bei der Ausfuhr in die Vereinigten Staaten und nach Kanada sowie von Risiken bei bestimmten internationalen Geschäften miteinander in Wettbewerb treten. Im entscheidungserheblichen Zeitraum kamen die bestehenden Beihilfen also nicht nur ausserhalb des Wettbewerbs stehenden Tätigkeiten zugute.

31 Selbst wenn sie ganz dem Staat zurechenbar wäre, könnte die am 1. Februar 1989 in Kraft getretene Entscheidung somit nicht als Einführung oder Umgestaltung einer Beihilfe im Sinne des Artikels 93 Absatz 3 EWG-Vertrag angesehen werden.

32 Bei Annahme des Gegenteils müsste der betreffende Staat der Kommission nämlich nicht nur die neuen Beihilfen und die Umgestaltungen von Beihilfen im eigentlichen Sinne, die einem Unternehmen, das Nutznießer einer bestehenden Beihilferegelung ist, gewährt werden, anzeigen und der präventiven Kontrolle durch die Kommission unterstellen, sondern alle Maßnahmen, die die Tätigkeit dieses Unternehmens betreffen und sich auf das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes, auf den Wettbewerb oder auch nur für einen bestimmten Zeitraum auf die tatsächliche Höhe von Beihilfen auswirken können, die im Grundsatz bestehen, deren Höhe aber notwendig vom Umsatz des Unternehmens abhängt. Letztlich könnte so im Fall eines öffentlichen Unternehmens wie des OND jeder neue Versicherungsvorgang, der ° nach den Erläuterungen des Vertreters der belgischen Regierung in der mündlichen Verhandlung ° den Aufsichtsbehörden vorzulegen ist, als eine Maßnahme angesehen werden, die unter das Verfahren des Artikels 93 Absatz 3 EWG-Vertrag fällt.

33 Eine solche Auslegung, die weder dem Wortlaut noch dem Zweck dieser Bestimmung, noch der in ihr vorgenommenen Aufteilung der Aufgaben zwischen der Kommission und den Mitgliedstaaten entspricht, wäre ein Faktor der Rechtsunsicherheit für die Unternehmen und für die Mitgliedstaaten, die so Maßnahmen ganz unterschiedlicher Art zunächst anzeigen müssten und nicht durchführen könnten, obwohl sie kaum als neue Beihilfen eingeordnet werden könnten. Was den Sachverhalt des Ausgangsrechtsstreits anbelangt, wird das Bestehen dieser Rechtsunsicherheit überdies durch die Haltung der Kommission selbst belegt. Diese trägt nämlich vor dem Gerichtshof zur Beantwortung der ersten Frage vor, daß die dem OND gewährten Beihilfen umgestaltet worden seien, obwohl sie es nicht für erforderlich gehalten hat, auf eine ihr seit dem 1. Februar 1989 vorliegende Beschwerde in bezug auf das Bestehen und die Vereinbarkeit dieser Beihilfen hin und nachdem sie zweimal von der belgischen Regierung Auskünfte eingeholt und erhalten hatte, zu dieser Frage Stellung zu nehmen.

34 Da die unter den im Vorlageurteil beschriebenen Voraussetzungen gewährten Beihilfen unter eine Beihilferegelung fallen, die vor dem Inkrafttreten des EWG-Vertrages bestand, sind sie nach Artikel 93 Absatz 1 fortlaufend zu überprüfen. Diese Überprüfung, zu der die Initiative im Aufgabenbereich der Kommission liegt, kann die Kommission dazu veranlassen, dem betreffenden Mitgliedstaat die zweckdienlichen Maßnahmen vorzuschlagen, die das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes erfordert, und gegebenenfalls nach Durchführung des Verfahrens des Artikels 93 Absatz 2 zu entscheiden, daß die von ihr für mit dem Gemeinsamen Markt für unvereinbar gehaltenen Beihilfen abzuschaffen oder umzugestalten sind.

35 Auf die erste und die dritte Frage ist daher zu antworten, daß Artikel 93 Absatz 3 EWG-Vertrag dahin auszulegen ist, daß die ° unter Umständen, wie sie im Vorlageurteil beschrieben sind, erfolgende ° Ausdehnung des Tätigkeitsgebiets einer öffentlichen Einrichtung, der der Staat aufgrund von vor dem Inkrafttreten des EWG-Vertrages erlassenen Rechtsvorschriften Beihilfen gewährt, nicht als Einführung oder Umgestaltung einer Beihilfe angesehen werden kann, die der Verpflichtung zur vorherigen Anzeige und dem Verbot der Durchführung nach Artikel 93 Absatz 3 EWG-Vertrag unterliegt, da eine solche Ausdehnung die durch diese Rechtsvorschriften eingeführte Beihilferegelung nicht berührt.

Zur zweiten Frage

36 Angesichts der Antwort auf die erste und die dritte Frage ist die zweite Frage nicht zu beantworten.

Kostenentscheidung:

Kosten

37 Die Auslagen der französischen und der niederländischen Regierung sowie der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

auf die ihm von der Cour d' appel Brüssel mit Urteil vom 5. Februar 1993 vorgelegten Fragen für Recht erkannt:

1) Artikel 93 Absatz 3 EWG-Vertrag ist dahin auszulegen, daß die ° unter Umständen, wie sie im Vorlageurteil beschrieben sind, erfolgende ° Ausdehnung des Tätigkeitsgebiets einer öffentlichen Einrichtung, der der Staat aufgrund von vor dem Inkrafttreten des EWG-Vertrages erlassenen Rechtsvorschriften Beihilfen gewährt, nicht als Einführung oder Umgestaltung einer Beihilfe angesehen werden kann, die der Verpflichtung zur vorherigen Anzeige und dem Verbot der Durchführung nach Artikel 93 Absatz 3 EWG-Vertrag unterliegt, da eine solche Ausdehnung die durch diese Rechtsvorschriften eingeführte Beihilferegelung nicht berührt.

2) Auf die zweite Frage des vorlegenden Gerichts ist nicht zu antworten.

Ende der Entscheidung

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