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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 14.12.1995
Aktenzeichen: C-444/93
Rechtsgebiete: Richtlinie 79/7/EWG


Vorschriften:

Richtlinie 79/7/EWG Art. 4 Abs. 1
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

1. Personen, die Beschäftigungen ausüben, die als geringfügig angesehen werden, weil sie regelmässig weniger als fünfzehn Stunden in der Woche ausgeuebt werden und das Arbeitsentgelt ein Siebtel des durchschnittlichen monatlichen Arbeitsentgelts nicht übersteigt, sowie Personen, die kurzzeitige Beschäftigungen ausüben, die dadurch gekennzeichnet sind, daß sie der Natur der Sache nach auf weniger als achtzehn Stunden in der Woche beschränkt zu sein pflegen oder im voraus durch einen Arbeitsvertrag beschränkt sind, gehören zur Erwerbsbevölkerung im Sinne des Artikels 2 der Richtlinie 79/7 zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit und fallen somit in den persönlichen Anwendungsbereich der Richtlinie.

Wegen des Umstands, daß eine Person durch ihre Berufstätigkeit nur geringfügige Einkünfte erzielt, die zur Deckung ihres Lebensunterhalts nicht ausreichen, kann ihr nämlich nach Gemeinschaftsrecht weder die Arbeitnehmereigenschaft abgesprochen werden, noch kann sie von der Erwerbsbevölkerung ausgeschlossen werden.

2. Eine nationale Regelung, die Beschäftigungen mit weniger als fünfzehn Stunden in der Woche und einem Arbeitsentgelt, das regelmässig ein Siebtel der monatlichen Bezugsgrösse nicht übersteigt, von der Versicherungspflicht in den Systemen der gesetzlichen Kranken- und Rentenversicherung ausnimmt, sowie eine nationale Regelung, die Beschäftigungen, die der Natur der Sache nach auf regelmässig weniger als achtzehn Stunden in der Woche beschränkt zu sein pflegen oder im voraus durch einen Arbeitsvertrag beschränkt sind, von der Beitragspflicht in der gesetzlichen Arbeitslosenversicherung ausnimmt, stellen keine Diskriminierung aufgrund des Geschlechts im Sinne von Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie 79/7 zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit dar, selbst wenn sie erheblich mehr Frauen als Männer betreffen, wenn der nationale Gesetzgeber in vertretbarer Weise davon ausgehen konnte, daß die fraglichen Rechtsvorschriften erforderlich waren, um ein sozialpolitisches Ziel zu erreichen, das mit einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts nichts zu tun hat.

Dies ist der Fall, wenn der Ausschluß dieser Beschäftigungen von der Pflichtversicherung einem Strukturprinzip eines auf Beiträgen beruhenden Systems der sozialen Sicherheit entspricht, das einzige Mittel ist, um einer sozialen Nachfrage nach derartigen Beschäftigungen zu entsprechen, und bezweckt, die Vermehrung illegaler Beschäftigungsformen und die Zunahme von Manövern zur Umgehung der Sozialvorschriften zu vermeiden.


Urteil des Gerichtshofes vom 14. Dezember 1995. - Ursula Megner und Hildegard Scheffel gegen Innungskrankenkasse Vorderpfalz, nunmehr Innungskrankenkasse Rheinhessen-Pfalz. - Ersuchen um Vorabentscheidung: Sozialgericht Speyer - Deutschland. - Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit - Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie 79/7/EWG - Geringfügige und kurzzeitige Beschäftigungen - Ausschluß von der obligatorischen Rentenversicherung, von der Krankenversicherung und von der Beitragspflicht in der Arbeitslosenversicherung. - Rechtssache C-444/93.

Entscheidungsgründe:

1 Das Sozialgericht Speyer hat mit Beschluß vom 26. Oktober 1993, beim Gerichtshof eingegangen am 18. November 1993, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag eine Frage nach der Auslegung des Artikels 4 Absatz 1 der Richtlinie 79/7/EWG des Rates vom 19. Dezember 1978 zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit (ABl. 1979, L 6, S. 24, im folgenden: Richtlinie) zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Frage stellt sich in einem Rechtsstreit zwischen Frau Megner und Frau Scheffel (im folgenden: Klägerinnen) und der Innungskrankenkasse Rheinhessen-Pfalz (im folgenden: Beklagte).

3 Die Klägerinnen sind als Reinigungskräfte bei der Gebäudereinigungsfirma G. F. Hehl & Co. beschäftigt. Ihre normale Arbeitszeit beträgt bei einer Fünftagewoche werktäglich höchstens zwei Stunden. Ihr Arbeitsentgelt richtet sich nach dem Tarifvertrag des Gebäudereinigungshandwerks und übersteigt im Monat nicht ein Siebtel der monatlichen Bezugsgrösse.

4 Die Klägerinnen beantragten bei der Beklagten die Anerkennung ihrer Versicherungspflicht in der gesetzlichen Kranken- und Rentenversicherung sowie ihrer Beitragspflicht in der gesetzlichen Arbeitslosenversicherung.

5 Die Beklagte wies ihren Antrag mit Schreiben vom 6. März 1992 mit der Begründung zurück, sie übten geringfügige oder kurzzeitige Beschäftigungen aus, die nach deutschem Recht von der Versicherungs- und Beitragspflicht in diesen gesetzlichen Systemen befreit seien.

6 Nach § 8 Absatz 1 Nr. 1 des Vierten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB IV) liegt

"eine geringfügige Beschäftigung... vor, wenn

1. die Beschäftigung regelmässig weniger als fünfzehn Stunden in der Woche ausgeuebt wird und das Arbeitsentgelt regelmässig im Monat

a)...

b)... ein Siebtel der monatlichen Bezugsgrösse (§ 18)... nicht übersteigt".

7 Die Bezugsgrösse, auf die Buchstabe b) abstellt, wird jährlich festgesetzt. Ein Siebtel betrug für 1993 530 DM für die alten Bundesländer und 390 DM für die neuen Bundesländer.

8 Nach § 7 SGB V sind geringfügige Beschäftigungen krankenversicherungsfrei. Ausserdem sind sie nach § 5 Absatz 2 Nr. 1 SGB VI nicht rentenversicherungspflichtig.

9 Im Bereich der Arbeitslosenversicherung haben nur Personen, die eine die Beitragspflicht begründende Beschäftigung ausgeuebt oder gleichgestellte Zeiten erfuellt haben, Anspruch auf Arbeitslosengeld bzw. Arbeitslosenhilfe (§§ 100, 134, 104 und 168 Arbeitsförderungsgesetz ° AFG).

10 Nach § 169a Absätze 1 und 2 AFG sind Arbeitnehmer in einer kurzzeitigen oder in einer geringfügigen Beschäftigung beitragsfrei.

11 § 102 Absatz 1 AFG definiert die kurzzeitige Beschäftigung als

"... eine Beschäftigung, die auf weniger als 18 Stunden wöchentlich der Natur der Sache nach beschränkt zu sein pflegt oder im voraus durch einen Arbeitsvertrag beschränkt ist..."

12 Die Klägerinnen machten vor dem Sozialgericht Speyer geltend, die nationalen Vorschriften über die Befreiung von der Versicherungs- oder Beitragspflicht in diesen gesetzlichen Systemen stellten eine mittelbare Diskriminierung der Frauen dar und seien deshalb unvereinbar mit Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie. Dieser lautet:

"Der Grundsatz der Gleichbehandlung beinhaltet den Fortfall jeglicher unmittelbaren oder mittelbaren Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, insbesondere unter Bezugnahme auf den Ehe- oder Familienstand, und zwar im besonderen betreffend:

° den Anwendungsbereich der Systeme und die Bedingungen für den Zugang zu den Systemen,

° die Beitragspflicht..."

13 Da das Sozialgericht Speyer der Auffassung war, daß die Entscheidung des Rechtsstreits von der Auslegung der Richtlinie abhänge, hat es das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Ist Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie des Rates vom 19. Dezember 1978 zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit (79/7/EWG; ABl. L 6 vom 10. Januar 1979, S. 24) so auszulegen, daß eine nationale Regelung, die Beschäftigungen von regelmässig weniger als 15 Stunden in der Woche und einem regelmässigen Arbeitsentgelt bis zu einem Siebtel der monatlichen Bezugsgrösse (§ 18 Sozialgesetzbuch 4. Buch ° SGB IV) von der Versicherungspflicht in den Systemen der gesetzlichen Kranken- und Rentenversicherung ausnimmt (§ 7 Sozialgesetzbuch 5. Buch ° SGB V; § 5 Abs. 2 Nr. 1 Sozialgesetzbuch 6. Buch ° SGB VI; § 8 Abs. 1 Nr. 1 SGB IV), sowie eine nationale Regelung, die Beschäftigungen, die der Natur der Sache nach auf regelmässig weniger als 18 Stunden in der Woche beschränkt zu sein pflegen oder im voraus durch einen Arbeitsvertrag beschränkt sind, von der Beitragspflicht in der gesetzlichen Arbeitslosenversicherung ausnimmt (§ 169a Absatz 1, § 102 Absatz 1 Arbeitsförderungsgesetz °AFG °), eine Diskriminierung aufgrund des Geschlechtes darstellt, wenn hiervon erheblich mehr Frauen als Männer betroffen sind, und ist diese nicht durch objektive Faktoren gerechtfertigt, die nichts mit einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechtes zu tun haben?

14 Vor einer Auslegung des Artikels 4 Absatz 1 der Richtlinie ist zu prüfen, ob Personen, die Beschäftigungen der in der Vorabentscheidungsfrage bezeichneten Art ausüben, in den Anwendungsbereich der Richtlinie fallen.

Zum persönlichen Anwendungsbereich der Richtlinie

15 Nach Artikel 2 der Richtlinie findet diese "Anwendung auf die Erwerbsbevölkerung ° einschließlich der selbständigen, [der Arbeitnehmer und Selbständigen,](*) deren Erwerbstätigkeit durch Krankheit, Unfall oder unverschuldete Arbeitslosigkeit unterbrochen ist, und der Arbeitsuchenden ° sowie auf die im Ruhestand befindlichen oder arbeitsunfähigen Arbeitnehmer und Selbständigen".

16 Diese Bestimmung definiert den Begriff "Erwerbsbevölkerung" sehr weit dahin, daß er alle Arbeitnehmer und Selbständigen einschließlich der Arbeitsuchenden umfasst. Dagegen ist die Richtlinie nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes nicht auf Personen anwendbar, die dem Arbeitsmarkt niemals zur Verfügung standen oder ihm nicht mehr zur Verfügung stehen, ohne daß der Grund dafür im Eintritt eines der in der Richtlinie genannten Risiken liegt (vgl. Urteil vom 27. Juni 1989 in den Rechtssachen 48/88, 106/88 und 107/88, Achterberg-te Riele u. a., Slg. 1989, 1963, Randnr. 11).

17 Die deutsche Regierung und die beigeladene Firma G. F. Hehl & Co. führen aus, geringfügig Beschäftigte gehörten vor allem deshalb nicht zur Erwerbsbevölkerung im Sinne des Artikels 2 der Richtlinie, weil sie ihren Lebensunterhalt nicht mit den geringfügigen Einnahmen aus einer solchen Tätigkeit bestreiten könnten.

18 Diesem Vorbringen kann nicht gefolgt werden. Die Tatsache, daß das Einkommen des Arbeitnehmers nicht seinen ganzen Lebensunterhalt deckt, nimmt ihm nicht die Eigenschaft eines Erwerbstätigen. Daß die Bezahlung einer Tätigkeit im Lohn- oder Gehaltsverhältnis unter dem Existenzminimum liegt (vgl. Urteil vom 23. März 1982 in der Rechtssache 53/81, Levin, Slg. 1982, 1035, Randnrn. 15 und 16) oder daß die normale Arbeitszeit 18 Stunden pro Woche (vgl. Urteil vom 13. Dezember 1989 in der Rechtssache C-102/88, Ruzius-Wilbrink, Slg. 1989, 4311, Randnrn. 7 und 17) oder 12 Stunden pro Woche (vgl. Urteil vom 3. Juni 1986 in der Rechtssache 139/85, Kempf, Slg. 1986, 1741, Randnrn. 2 und 16) oder selbst 10 Stunden pro Woche (vgl. Urteil vom 13. Juli 1989 in der Rechtssache 171/88, Rinner-Kühn, Slg. 1989, 2743, Randnr. 16) nicht übersteigt, hindert nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes nicht, die Person, die diese Tätigkeit ausübt, als Arbeitnehmer im Sinne des Artikels 48 EWG-Vertrag (Urteile Levin und Kempf), des Artikels 119 EWG-Vertrag (Urteil Rinner-Kühn) oder der Richtlinie 79/7 (Urteil Ruzius-Wilbrink) anzusehen.

19 Die deutsche Regierung macht weiter geltend, im vorliegenden Fall sei dies anders, denn hier gehe es nicht um den Begriff des Arbeitnehmers im Sinne des Artikels 48 EG-Vertrag wie namentlich in der Rechtssache Levin, sondern um den sozialversicherungsrechtlichen Begriff des Beschäftigten. Die Definition dieses Begriffes liege jedoch in der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten.

20 Der Gerichtshof hat bereits im Urteil vom 19. März 1964 in der Rechtssache 75/63 (Unger, Slg. 1964, 381, Nr. 1 des Tenors) für Recht erkannt, daß sich der Begriff "Arbeitnehmer oder ihm Gleichgestellter" im Sinne der Verordnung Nr. 3 des Rates vom 25. September 1958 über die Soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer (ABl. 1958, Nr. 30, S. 561) ebenso wie der Begriff "Arbeitnehmer" im Sinne der Artikel 48 bis 51 EG-Vertrag nach Gemeinschaftsrecht bestimmte. Deshalb steht der in Randnummer 18 getroffenen Feststellung nicht entgegen, daß die Urteile Levin, Kempf und Rinner-Kühn nicht das Sozialversicherungsrecht betreffen und sich nicht auf die Auslegung des Artikels 2 der Richtlinie 79/7 beziehen, da der Begriff des Arbeitnehmers in diesen Urteilen im Hinblick auf den Gleichbehandlungsgrundsatz verdeutlicht wird.

21 Folglich gehören Personen, die geringfügige Beschäftigungen wie die in der Vorabentscheidungsfrage bezeichneten ausüben, zur Erwerbsbevölkerung im Sinne des Artikels 2 der Richtlinie und fallen damit in deren persönlichen Anwendungsbereich.

Zur Auslegung des Artikels 4 Absatz 1 der Richtlinie

22 Die Frage des vorlegenden Gerichts geht dahin, ob eine nationale Regelung, die Beschäftigungen von regelmässig weniger als fünfzehn Stunden in der Woche und einem Arbeitsentgelt, das regelmässig ein Siebtel der monatlichen Bezugsgrösse nicht übersteigt, von der Versicherungspflicht in den Systemen der gesetzlichen Kranken- und Rentenversicherung ausnimmt, sowie eine nationale Regelung, die Beschäftigungen, die der Natur der Sache nach auf regelmässig weniger als achtzehn Stunden in der Woche beschränkt zu sein pflegen oder im voraus durch einen Arbeitsvertrag beschränkt sind, von der Beitragspflicht in der gesetzlichen Arbeitslosenversicherung ausnimmt, eine Diskriminierung aufgrund des Geschlechtes im Sinne von Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie darstellen, wenn hiervon erheblich mehr Frauen als Männer betroffen sind und wenn diese Regelungen nicht durch objektive Faktoren gerechtfertigt sind, die nichts mit einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechtes zu tun haben.

23 Unstreitig bewirken die nationalen Regelungen, um die es im Ausgangsverfahren geht, keine unmittelbare Diskriminierung, da sie die geringfügig Beschäftigten nicht aufgrund ihres Geschlechts von den betreffenden gesetzlichen Systemen ausschließen. Deshalb ist zu prüfen, ob sie möglicherweise eine mittelbare Diskriminierung darstellen.

24 Nach ständiger Rechtsprechung steht Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie der Anwendung einer nationalen Maßnahme entgegen, die zwar neutral formuliert ist, tatsächlich aber einen wesentlich höheren Prozentsatz Frauen als Männer benachteiligt, sofern diese Maßnahme nicht durch objektive Faktoren gerechtfertigt ist, die nichts mit einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu tun haben. Dies ist der Fall, wenn die gewählten Mittel einem legitimen Ziel der Sozialpolitik des Mitgliedstaats dienen, um dessen Rechtsvorschriften es geht, und zur Erreichung dieses Ziels geeignet und erforderlich sind (Urteil vom 24. Februar 1994 in der Rechtssache C-343/92, Roks u. a., Slg. 1994, I-571, Randnrn. 33 und 34).

25 Im vorliegenden Fall macht die deutsche Regierung u. a. geltend, die Herausnahme der geringfügig Beschäftigten aus den genannten gesetzlichen Systemen der sozialen Sicherheit entspreche einem Strukturprinzip des deutschen Sozialversicherungssystems.

26 Die Regierung des Vereinigten Königreichs und die irische Regierung haben zur Unterstützung der Argumente der deutschen Regierung insbesondere ausgeführt, bei einem auf Beiträgen beruhenden System der hier fraglichen Art müsse das Gleichgewicht zwischen den von den Versicherten und den Arbeitgebern entrichteten Beiträgen und der Gewährung der Leistungen bei Eintritt eines der vom System erfassten Risiken aufrechterhalten werden. Die gegenwärtige Struktur dieses Systems könnte bei Abschaffung der Geringfügigkeitsgrenzen nicht beibehalten werden. Daraus würden sich schwerwiegende Probleme insbesondere für die gesetzliche Altersversicherung ergeben. Im Ergebnis könnte das genannte System nicht mehr ausschließlich aufgrund von Beiträgen funktionieren.

27 Die deutsche Regierung trägt weiter vor, es bestehe eine soziale Nachfrage nach geringfügigen Beschäftigungen. Sie halte es für erforderlich, dieser Nachfrage im Rahmen ihrer Sozialpolitik dadurch zu entsprechen, daß sie die Existenz und das Angebot von derartigen Beschäftigungen fördere. Im strukturellen Rahmen des deutschen Sozialversicherungssystems sei das einzige Mittel dazu deren Ausschluß von der Versicherungspflicht.

28 Ausserdem würden die wegfallenden Beschäftigungsverhältnisse nicht durch versicherungspflichtige Teilzeit- oder Vollzeitarbeitsplätze ersetzt werden. Es würde vielmehr aufgrund der sozialen Nachfrage nach geringfügigen Beschäftigungen zu einer Vermehrung illegaler Beschäftigungsformen (Schwarzarbeit) und einer Zunahme von Umgehungstatbeständen (z. B. Scheinselbständigkeit) kommen.

29 Beim gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts sind die Mitgliedstaaten für die Sozialpolitik zuständig (vgl. Urteil vom 7. Mai 1991 in der Rechtssache C-229/89, Kommission/Belgien, Slg. 1991, I-2205, Randnr. 22). Folglich ist es ihre Sache, die Maßnahmen zu wählen, die zur Verwirklichung ihrer sozial- und beschäftigungspolitischen Ziele geeignet sind. Bei der Ausübung dieser Zuständigkeit verfügen die Mitgliedstaaten über einen weiten Entscheidungsspielraum.

30 Das sozial- und beschäftigungspolitische Ziel, auf das sich die deutsche Regierung beruft, hat objektiv nichts mit einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu tun. Der deutsche Gesetzgeber konnte bei der Ausübung seiner Befugnis zudem in vertretbarer Weise davon ausgehen, daß die fraglichen Rechtsvorschriften zur Erreichung dieses Ziels erforderlich waren.

31 Somit können diese Rechtsvorschriften nicht als mittelbare Diskriminierung im Sinne des Artikels 4 Absatz 1 der Richtlinie angesehen werden.

32 Aufgrund dieser Erwägungen ist auf die gestellte Frage zu antworten, daß eine nationale Regelung, die Beschäftigungen von regelmässig weniger als fünfzehn Stunden in der Woche und einem Arbeitsentgelt, das regelmässig ein Siebtel der monatlichen Bezugsgrösse nicht übersteigt, von der Versicherungspflicht in den Systemen der gesetzlichen Kranken- und Rentenversicherung ausnimmt, sowie eine nationale Regelung, die Beschäftigungen, die der Natur der Sache nach auf regelmässig weniger als achtzehn Stunden in der Woche beschränkt zu sein pflegen oder im voraus durch einen Arbeitsvertrag beschränkt sind, von der Beitragspflicht in der gesetzlichen Arbeitslosenversicherung ausnimmt, keine Diskriminierung aufgrund des Geschlechts im Sinne von Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie darstellen, selbst wenn sie erheblich mehr Frauen als Männer betreffen, da der nationale Gesetzgeber in vertretbarer Weise davon ausgehen konnte, daß die fraglichen Rechtsvorschriften erforderlich waren, um ein sozialpolitisches Ziel zu erreichen, das mit einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts nichts zu tun hat.

Kostenentscheidung:

Kosten

33 Die Auslagen der deutschen Regierung, der belgischen Regierung, der französischen Regierung, der irischen Regierung und der Regierung des Vereinigten Königreichs sowie der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die Erklärungen beim Gerichtshof eingereicht haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem nationalen Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

auf die ihm vom Sozialgericht Speyer mit Beschluß vom 26. Oktober 1993 vorgelegte Frage für Recht erkannt:

Eine nationale Regelung, die Beschäftigungen mit weniger als fünfzehn Stunden in der Woche und einem Arbeitsentgelt, das regelmässig ein Siebtel der monatlichen Bezugsgrösse nicht übersteigt, von der Versicherungspflicht in den Systemen der gesetzlichen Kranken- und Rentenversicherung ausnimmt, sowie eine nationale Regelung, die Beschäftigungen, die der Natur der Sache nach auf regelmässig weniger als achtzehn Stunden in der Woche beschränkt zu sein pflegen oder im voraus durch einen Arbeitsvertrag beschränkt sind, von der Beitragspflicht in der gesetzlichen Arbeitslosenversicherung ausnimmt, stellen keine Diskriminierung aufgrund des Geschlechts im Sinne von Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie 79/7/EWG des Rates vom 19. Dezember 1978 zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit dar, selbst wenn sie erheblich mehr Frauen als Männer betreffen, da der nationale Gesetzgeber in vertretbarer Weise davon ausgehen konnte, daß die fraglichen Rechtsvorschriften erforderlich waren, um ein sozialpolitisches Ziel zu erreichen, das mit einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts nichts zu tun hat.

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