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Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 11.08.1995
Aktenzeichen: C-453/93
Rechtsgebiete: EWG-Vertrag
Vorschriften:
EWG-Vertrag Art. 177 |
Die in Artikel 13 der Sechsten Richtlinie 77/388 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern vorgesehenen Befreiungen stellen Ausnahmen von dem allgemeinen Grundsatz dar, daß jede Dienstleistung, die ein Steuerpflichtiger gegen Entgelt erbringt, der Mehrwertsteuer unterliegt. Aus diesem Grund sind die Begriffe, mit denen sie umschrieben sind, eng auszulegen. Deshalb und im Hinblick darauf, daß bei einigen der in Teil A Absatz 1 des genannten Artikels genannten Befreiungen hinsichtlich der begünstigten Wirtschaftsteilnehmer ausdrücklich auf den Begriff der "Einrichtung" Bezug genommen wird, während eine solche Angabe bei anderen Befreiungen fehlt, kann die Befreiung im erstgenannten Fall allein von juristischen Personen in Anspruch genommen werden, während im zweiten Fall auch natürliche Personen, u. a. Unternehmer, diese Möglichkeit haben.
Somit fällt ein Unternehmer, eine natürliche Person, nicht in den persönlichen Anwendungsbereich von Artikel 13 Teil A Absatz 1 Buchstabe g der Richtlinie, der die Befreiung der eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbundenen Leistungen durch Einrichtungen des öffentlichen Rechts oder andere von dem betreffenden Mitgliedstaat als Einrichtungen mit sozialem Charakter anerkannte Einrichtungen betrifft, und kann daher nicht die Gewährung einer Befreiung gemäß dieser Bestimmung verlangen.
URTEIL DES GERICHTSHOFES (ZWEITE KAMMER) VOM 11. AUGUST 1995. - W. BULTHUIS-GRIFFIOEN GEGEN INSPECTEUR DER OMZETBELASTING. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: GERECHTSHOF AMSTERDAM - NIEDERLANDE. - GEMEINSAMES UMSATZSTEUERSYSTEM - SECHSTE MEHRWERTSTEUERRICHTLINIE - BEFREIUNG - LEISTUNGEN SOZIALER ART, DIE VON EINER PRIVATPERSON ERBRACHT WERDEN - AUSSCHLUSS. - RECHTSSACHE C-453/93.
Entscheidungsgründe:
1 Der Gerechtshof Amsterdam hat mit Urteil vom 21. Juli 1993, beim Gerichtshof eingegangen am 26. November 1993, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag eine Frage nach der Auslegung von Artikel 13 Teil A der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern ° Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. L 145, S. 1; im folgenden: Sechste Richtlinie) zur Vorabentscheidung vorgelegt.
2 Diese Frage stellt sich in einem Rechtsstreit zwischen Frau Bulthuis-Griffiön und dem Inspecteur der Omzetbelasting wegen einer Befreiung von der Mehrwertsteuer gemäß Artikel 11 Absatz 1 der Wet op de omzetbelasting 1968 (Umsatzsteuergesetz; im folgenden: Gesetz von 1968).
3 In den Niederlanden sind nach Artikel 11 Absatz 1 Buchstabe f des Gesetzes von 1968 von der Mehrwertsteuer befreit:
"die... durch Verordnung festzulegenden Lieferungen und Dienstleistungen sozialer oder kultureller Art, sofern der Unternehmer keinen Gewinn anstrebt und keine schwerwiegende Störung von Wettbewerbsverhältnissen zu Unternehmern auftritt, die Gewinn anstreben".
4 Der in dieser Bestimmung vorkommende Ausdruck "Lieferungen und Dienstleistungen sozialer Art" wird in Artikel 7 des Uitvöringsbesluit omzetbelasting 1968 (Umsatzsteuer-Durchführungsverordnung; im folgenden: Durchführungsverordnung) näher erläutert, der insoweit auf Anhang B verweist. In Buchstabe b dieses Anhangs werden verschiedene Gruppen von Einrichtungen aufgezählt, deren Leistungen von der Mehrwertsteuer befreit sind, wenn sie keinen Gewinn anstreben. Zu diesen Einrichtungen gehörten in der bis zum 1. Juli 1989 geltenden Fassung "Kinderferienheime, Kindertagesstätten, Kindergärten und Freiluftschulen". In der danach anzuwendenden Fassung gehören zu dieser Gruppe "Einrichtungen zur Kinderbetreuung und Schulen für Kinder mit langwierigen Krankheiten" (Nr. 6).
5 Frau Bulthuis-Griffiön betreibt seit August 1988 in den Niederlanden eine Kindertagesstätte. Sie wird insoweit als mehrwertsteuerpflichtiger "Unternehmer" im Sinne von Artikel 7 des Gesetzes von 1968 angesehen.
6 1989 und 1990 erzielte sie Umsätze von 41 997 HFL und 41 947 HFL. Dabei überstiegen die Einnahmen die Ausgaben. Die Betriebsüberschüsse wurden Frau Bulthuis-Griffiön als Gehalt ausgezahlt.
7 Zum Zeitpunkt ihrer Steuererklärung hatte Frau Bulthuis-Griffiön keine Mehrwertsteuer entrichtet, da sie der Ansicht war, daß die von der Kindertagesstätte angebotenen Leistungen unter die in Artikel 11 Absatz 1 Buchstabe f des Gesetzes von 1968 vorgesehene Befreiung fielen. Die erzielten Überschüsse beliefen sich deshalb im Jahr 1989 auf 11 926 HFL und im Jahr 1990 auf 17 963 HFL. Falls die von der Kindertagesstätte angebotenen Leistungen dagegen nicht von der Mehrwertsteuer befreit gewesen wären, hätten sich die Betriebsüberschüsse im Jahr 1989 auf 6 371 HFL und im Jahr 1990 auf 12 014 HFL beschränkt.
8 Der Steuerinspecteur richtete an Frau Bulthuis-Griffiön einen Nacherhebungsbescheid, da er die genannte Befreiung nicht für anwendbar hielt. Da die Betroffene einen Gewinn anstrebe, erfuelle sie nicht die in Artikel 11 Absatz 1 Buchstabe f des Gesetzes von 1968 vorgesehene Bedingung.
9 Frau Bulthuis-Griffiön legte gegen den Nacherhebungsbescheid Einspruch ein, der vom Steuerinspecteur zurückgewiesen wurde. Daraufhin erhob sie beim Gerechtshof Amsterdam Klage auf Aufhebung der letztgenannten Entscheidung.
10 Nach Angaben dieses Gerichts handelt es sich bei dem von Frau Bulthuis-Griffiön betriebenen Unternehmen unstreitig um einen "Kindergarten" oder eine "Kindertagesstätte" im Sinne der alten Fassung von Anhang B der Durchführungsverordnung und um eine "Einrichtung zur Kinderbetreuung" im Sinne der neuen Fassung dieses Anhangs. Das Gericht hat dagegen Zweifel, ob auch die Bedingung des fehlenden Gewinnstrebens erfuellt ist. Frau Bulthuis-Griffiön hat hierzu vorgetragen, sie versuche zwar tatsächlich, durch ihre Tätigkeit einen Betriebsüberschuß zu erzielen, dieser sei aber niedriger als ein hypothetisches "Gehalt", das sie für die von ihr geleistete Arbeit bekommen könnte; aus diesem Grund sei sie der Ansicht, daß mit ihrer Tätigkeit kein "Gewinnstreben" im Sinne des Gesetzes von 1968 verbunden sei.
11 Der Gerechtshof Amsterdam führt aus, die durch Artikel 11 Absatz 1 Buchstabe f des Gesetzes von 1968 geschaffene Befreiung beruhe auf Artikel 13 Teil A Absatz 1 Buchstabe g der Sechsten Richtlinie, der wie folgt lautet:
"Unbeschadet sonstiger Gemeinschaftsvorschriften befreien die Mitgliedstaaten unter den Bedingungen, die sie zur Gewährleistung einer korrekten und einfachen Anwendung der nachstehenden Befreiungen sowie zur Verhütung von Steuerhinterziehungen, Steuerumgehungen und etwaigen Mißbräuchen festsetzen, von der Steuer:
...
g) die eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbundenen Dienstleistungen und Lieferungen von Gegenständen, einschließlich derjenigen der Altenheime, durch Einrichtungen des öffentlichen Rechts oder andere von dem betreffenden Mitgliedstaat als Einrichtungen mit sozialem Charakter anerkannte Einrichtungen."
12 Das Gericht weist ausserdem darauf hin, daß der Gesetzgeber, als er die Gewährung der Befreiung an die Bedingung geknüpft habe, daß die begünstigten Einrichtungen keine systematische Gewinnerzielung anstrebten, von der den Mitgliedstaaten in Artikel 13 Teil A Absatz 2 Buchstabe a der Sechsten Richtlinie eingeräumten Möglichkeit Gebrauch gemacht habe, die Gewährung einiger der in Absatz 1 vorgesehenen Befreiungen von bestimmten Bedingungen abhängig zu machen.
13 Artikel 13 Teil A Absatz 2 Buchstabe a sieht nämlich folgendes vor:
"Die Mitgliedstaaten können die Gewährung der unter Absatz 1 Buchstaben b), g), h), i), l), m) und n) vorgesehenen Befreiungen für Einrichtungen, die keine Einrichtungen des öffentlichen Rechts sind, von Fall zu Fall von der Erfuellung einer oder mehrerer der folgenden Bedingungen abhängig machen:
° Die betreffenden Einrichtungen dürfen keine systematische Gewinnerzielung anstreben; etwaige Gewinne, die trotzdem anfallen, dürfen nicht verteilt, sondern müssen zur Erhaltung oder Verbesserung der erbrachten Leistungen verwendet werden.
...
° Die Befreiungen dürfen nicht zu Wettbewerbsverzerrungen zuungunsten von der Mehrwertsteuer unterliegenden gewerblichen Unternehmen führen."
14 Nach Ansicht des Gerechtshof Amsterdam muß die Bedingung des fehlenden Gewinnstrebens in Artikel 11 Absatz 1 Buchstabe f des Gesetzes von 1968 dieselbe Bedeutung haben wie die in Artikel 13 Teil A Absatz 2 Buchstabe a der Sechsten Richtlinie enthaltene Bedingung, wonach "[d]ie betreffenden Einrichtungen... keine systematische Gewinnerzielung anstreben [dürfen]".
15 Er hat deshalb das Verfahren ausgesetzt und den Gerichtshof ersucht, im Wege der Vorabentscheidung über folgende Frage zu befinden:
Wird in einem Fall, in dem der Unternehmer eine natürliche Person ist, die strukturell gesehen ein positives Ergebnis in dem Sinne anstrebt, daß der Betrag der Einnahmen den Betrag der anfallenden Kosten übersteigt, wobei aber dieses positive Ergebnis nicht höher sein kann als ein für die vom Unternehmer selbst verrichtete Arbeit als angemessen anzusehendes Entgelt, eine systematische Gewinnerzielung im Sinne von Artikel 13 Teil A Absatz 2 Buchstabe a der Sechsten Richtlinie (77/388/EWG) des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern ° Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage angestrebt?
16 Das vorlegende Gericht ersucht den Gerichtshof mit seiner Vorlagefrage um die Auslegung der Bedingung, daß keine "systematische Gewinnerzielung" angestrebt wird, die in Artikel 13 Teil A Absatz 2 Buchstabe a der Sechsten Richtlinie enthalten ist und von der die Mitgliedstaaten die Anwendung der in Absatz 1 Buchstabe g dieses Artikels vorgesehenen Befreiung auf Einrichtungen, die keine Einrichtungen des öffentlichen Rechts sind, abhängig machen können.
17 Damit das vorlegende Gericht eine für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits nützliche Antwort erhält, ist zunächst zu prüfen, ob in einem Fall wie dem vorliegenden die Voraussetzungen für die Anwendung von Artikel 13 Teil A Absatz 1 Buchstabe g erfuellt sind. Da diese Bestimmung die Befreiung der eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbundenen Dienstleistungen durch Einrichtungen des öffentlichen Rechts oder andere von dem betreffenden Mitgliedstaat als Einrichtungen mit sozialem Charakter anerkannte Einrichtungen betrifft, ist zu ermitteln, ob ein Unternehmer wie Frau Bulthuis-Griffiön als eine solche "Einrichtung" anzusehen ist.
18 Nach ständiger Rechtsprechung stellen die in Artikel 13 der Sechsten Richtlinie vorgesehenen Befreiungen eigenständige Begriffe des Gemeinschaftsrechts dar (vgl. Urteil vom 15. Juni 1989 in der Rechtssache 348/87, Stichting Uitvöring Financiële Acties, Slg. 1989, 1737, Randnr. 11). Dies muß auch für spezielle Bedingungen gelten, von denen die Gewährung dieser Befreiungen abhängig gemacht wird, und insbesondere für diejenigen, die die Eigenschaft oder Identität des Wirtschaftsteilnehmers betreffen, der die von der Befreiung erfassten Leistungen erbringt.
19 Im selben Urteil (Randnr. 13) hat der Gerichtshof ferner entschieden, daß die Begriffe, mit denen die Steuerbefreiungen nach Artikel 13 der Sechsten Richtlinie umschrieben sind, eng auszulegen sind, da sie Ausnahmen von dem allgemeinen Grundsatz darstellen, daß jede Dienstleistung, die ein Steuerpflichtiger gegen Entgelt erbringt, der Umsatzsteuer unterliegt.
20 Bei einigen der in Artikel 13 Teil A Absatz 1 der Sechsten Richtlinie genannten Befreiungen ° darunter auch bei der, die in Buchstabe g dieser Bestimmung vorgesehen ist ° wird ausdrücklich auf den Begriff der "Einrichtung" Bezug genommen, während eine solche Angabe bei anderen Befreiungen fehlt. Folglich kann die Befreiung im erstgenannten Fall allein von juristischen Personen in Anspruch genommen werden, während im zweiten Fall auch natürliche Personen, u. a. Unternehmer, diese Möglichkeit haben.
21 Somit fällt ein Unternehmer wie Frau Bulthuis-Griffiön, bei der es sich um eine natürliche Person handelt, nicht in den persönlichen Anwendungsbereich von Artikel 13 Teil A Absatz 1 Buchstabe g der Sechsten Richtlinie.
22 Dies genügt, um die Möglichkeit für diesen Unternehmer auszuschließen, in den Genuß einer Befreiung gemäß Artikel 13 Teil A Absatz 1 Buchstabe g der Sechsten Richtlinie zu kommen.
23 Unter diesen Umständen wird die Frage für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits irrelevant, ob die Tatsache, daß dieser Unternehmer strukturell gesehen ein positives Betriebsergebnis in dem Sinne anstrebt, daß die Einnahmen die anfallenden Kosten übersteigen, wobei aber dieses positive Ergebnis nicht höher sein kann als ein für die vom Unternehmer selbst verrichtete Arbeit als angemessen anzusehendes Entgelt, das Anstreben einer systematischen Gewinnerzielung im Sinne von Artikel 13 Teil A Absatz 2 Buchstabe a der Sechsten Richtlinie darstellt.
24 Angesichts der vorstehenden Erwägungen ist dem vorlegenden Gericht zu antworten, daß Artikel 13 Teil A Absatz 1 der Sechsten Richtlinie dahin auszulegen ist, daß ein Unternehmer, eine natürliche Person, nicht die Gewährung einer Befreiung gemäß Buchstabe g dieser Bestimmung verlangen kann, der diese Gewährung ausdrücklich den Einrichtungen des öffentlichen Rechts oder anderen von dem betreffenden Mitgliedstaat als Einrichtungen mit sozialem Charakter anerkannten Einrichtungen vorbehält.
Kostenentscheidung:
Kosten
25 Die Auslagen der niederländischen Regierung und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.
Tenor:
Aus diesen Gründen
hat
DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)
auf die ihm vom Gerechtshof Amsterdam mit Urteil vom 21. Juli 1993 vorgelegte Frage für Recht erkannt:
Artikel 13 Teil A Absatz 1 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern ° Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage ist dahin auszulegen, daß ein Unternehmer, eine natürliche Person, nicht die Gewährung einer Befreiung gemäß Buchstabe g dieser Bestimmung verlangen kann, der diese Gewährung ausdrücklich Einrichtungen des öffentlichen Rechts oder anderen von dem betreffenden Mitgliedstaat als Einrichtungen mit sozialem Charakter anerkannten Einrichtungen vorbehält.
Ende der Entscheidung
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