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Gericht: Europäischer Gerichtshof
Beschluss verkündet am 23.03.1995
Aktenzeichen: C-458/93
Rechtsgebiete: EG-Vertrag, Verfahrensordnung
Vorschriften:
EG-Vertrag Art. 177 | |
Verfahrensordnung Art. 92 |
Die Notwendigkeit, zu einer für das nationale Gericht sachdienlichen Auslegung des Gemeinschaftsrechts zu gelangen, gebietet es, daß dieses Gericht den tatsächlichen und rechtlichen Rahmen umreisst, in dem sich die gestellten Fragen einfügen, oder daß es zumindest die tatsächlichen Annahmen erläutert, auf denen diese Fragen beruhen.
Dieses Erfordernis, das bei Fragen, die sich auf präzise technische Punkte beziehen und auch dann zu sachdienlichen Antworten führen können, wenn eine erschöpfende Darstellung ihres Zusammenhangs fehlt, als weniger zwingend anzusehen ist, ist auch deshalb geboten, weil es den Mitgliedstaaten und den anderen Beteiligten möglich sein muß, gemäß Artikel 20 der Satzung des Gerichtshofes Erklärungen abzugeben.
Der Geist der Zusammenarbeit, der den Ablauf des Vorabentscheidungsverfahrens bestimmt, verlangt es, daß das nationale Gericht die Aufgabe des Gerichtshofes berücksichtigt, zur Rechtspflege in den Mitgliedstaaten beizutragen, nicht aber, gutachterlich zu allgemeinen oder hypothetischen Fragen Stellung zu nehmen.
Daher sind Vorabentscheidungsersuchen, die zu den vom vorlegenden Gericht ins Auge gefassten rechtlichen oder tatsächlichen Umständen unzureichend genaue Angaben enthalten oder rein hypothetischen Charakters sind, offensichtlich unzulässig.
BESCHLUSS DES GERICHTSHOFES VOM 23. MAERZ 1995. - STRAFVERFAHREN GEGEN MOSTAFA SADDIK. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: PRETURA CIRCONDARIALE DI ROMA - ITALIEN. - UNZULAESSIGKEIT. - RECHTSSACHE C-458/93.
Entscheidungsgründe:
1 Die Pretura Rom hat mit Beschluß vom 24. November 1993, beim Gerichtshof eingegangen am 7. Dezember 1993, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag Fragen nach der Auslegung der Artikel 3, 9, 30, 37, 85, 86, 87, 88 und 90 EG-Vertrag zur Vorabentscheidung vorgelegt.
2 Die Pretura ist mit Strafverfolgungsmaßnahmen gegen Mostafa Saddik, einen marokkanischen Staatsangehörigen, wegen des Schmuggels von 93 Packungen ausländischer Zigaretten verschiedener Marken, deren Herkunft jedoch nicht angegeben ist, befasst.
3 Das vorlegende Gericht fragt sich erstens, ob die Strafen, mit denen Herr Saddik wegen der Nichtentrichtung von Grenzabgaben bedroht wird, mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar sind. Dem Vorlagebeschluß ist zu entnehmen, daß sich das Gericht auch fragt, ob Herr Saddik ausserdem wegen der Nichtentrichtung der Mehrwertsteuer bestraft werden kann, da es sich nach Ansicht des Gerichts um eine gegen den Vertrag verstossende Doppelbesteuerung handeln könnte. Das Ersuchen des Gerichts bezieht sich jedoch nur auf den Anklagepunkt der Nichtentrichtung von Grenzabgaben.
4 Zweitens fragt sich das vorlegende Gericht, ob das Gemeinschaftsrecht einer Regelung wie der des italienischen Monopols für verarbeitete Tabake entgegensteht, wonach der Weiterverkauf im Einzelhandel ausserhalb des Netzes zugelassener Einzelhändler verboten ist. Die Pretura weist jedoch darauf hin, daß der Anklagepunkt des rechtswidrigen Weiterverkaufs von Tabaken nicht gegen Herrn Saddik erhoben sei, dies aber später noch erfolgen könne.
5 Unter diesen Umständen hat die Pretura Rom dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
Erste Frage:
Sind die Artikel 25, 282, 292 und 341 des D.P.R. Nr. 43 vom 23. Januar 1974, soweit sie Strafvorschriften für Personen enthalten, die ausländische Waren, insbesondere im Ausland verarbeitete Tabake, in das Staatsgebiet einführen und dabei die geschuldeten Grenzabgaben hinterziehen, mit den Artikeln 3, 9 und 30 des Vertrages von Rom vereinbar?
Zweite Frage:
Verstösst Artikel 64 des Gesetzes Nr. 907 vom 17. Juli 1942 in seiner geänderten Fassung, soweit damit Verstösse gegen die Monopolregelung für den Verkauf von Monopolwaren geahndet werden, gegen die Artikel 37, 85, 86, 87, 88 und 90 des Vertrages von Rom?
Dritte Frage:
Wenn Frage 2 bejaht wird, ist dann das Gesetz Nr. 907 vom 17. Juli 1942 in seiner geänderten Fassung mit den genannten Artikeln des Vertrages von Rom vereinbar, soweit es durch eine Konzessionsregelung die Vermarktung der verarbeiteten Tabake und damit den freien Handel und den freien Verkehr mit diesen Waren beschränkt?
6 Nach ständiger Rechtsprechung ist der Gerichtshof im Rahmen eines Verfahrens nach Artikel 177 des Vertrages nicht für die Entscheidung über die Vereinbarkeit einer nationalen Maßnahme mit dem Gemeinschaftsrecht zuständig. Die Frage der Pretura Rom ist jedoch so zu verstehen, daß sie den Gerichtshof ersucht, die Artikel des Vertrages, auf die sich ihre Fragen beziehen, auszulegen, um die Vereinbarkeit der streitigen nationalen Vorschriften mit diesen Gemeinschaftsbestimmungen beurteilen zu können.
7 Der Gerichtshof stellt fest, daß die irische und die italienische Regierung sowie die Regierung des Vereinigten Königreichs ihre Erklärungen in der vorliegenden Rechtssache hauptsächlich, wenn nicht ausschließlich der Frage gewidmet haben, ob die Vorlagefragen der Pretura zulässig seien.
8 So vertritt die irische Regierung die Ansicht, mangels erwiesener Tatsachen, vor allem mangels Angaben über den Ursprung der Waren, um die es in diesem Verfahren gehe, sei die Fähigkeit der Mitgliedstaaten, den Gerichtshof bei der Prüfung der Rechtssache, insbesondere bei der Beantwortung der ersten Frage, zu unterstützen, erheblich eingeschränkt.
9 Die Regierung des Vereinigten Königreichs räumt zwar ein, daß ein überzogener Formalismus vermieden werden sollte, weist aber auch darauf hin, daß ein Mitgliedstaat das Recht, gemäß Artikel 20 des Protokolls über die Satzung des Gerichtshofes schriftliche Erklärungen abzugeben, nicht unter günstigen Bedingungen ausüben könne, wenn ein Vorabentscheidungsersuchen den tatsächlichen und rechtlichen Rahmen der Vorlagefragen eines nationalen Gerichts nicht mit hinreichender Genauigkeit angebe.
10 Die italienische Regierung hält die Zulässigkeit der ersten beiden Fragen für fraglich. Sie schließt sich den Erklärungen der irischen Regierung und der Regierung des Vereinigten Königreichs an und bemerkt darüber hinaus, daß die zweite Frage für die Entscheidung des vorlegenden Gerichts über die dem Angeklagten zur Last gelegten Handlungen keineswegs erforderlich sei.
11 Die Kommission meint, die erste Vorlagefrage erscheine erheblich und werfe keine Zulässigkeitsprobleme auf. Sie erklärt aber, der tatsächliche Zusammenhang mit dem Gegenstand des Verfahrens sei für die beiden anderen Fragen weniger klar.
12 Hierzu ist darauf hinzuweisen, daß die Notwendigkeit, zu einer für das nationale Gericht sachdienlichen Auslegung des Gemeinschaftsrechts zu gelangen, es gebietet, daß dieses Gericht den tatsächlichen und rechtlichen Rahmen umreisst, in den sich die gestellten Fragen einfügen, oder daß es zumindest die tatsächlichen Annahmen erläutert, auf denen diese Fragen beruhen (vgl. insbesondere Urteil vom 26. Januar 1993 in den verbundenen Rechtssachen C-320/90, C-321/90 und C-322/90, Telemarsicabruzzo u. a., Slg. 1993, I-393, Randnr. 6; Beschlüsse vom 19. März 1993 in der Rechtssache C-157/92, Banchero, Slg. 1993, I-1085, Randnr. 4, und vom 9. August 1994 in der Rechtssache C-378/93, La Pyramide, Slg. 1994, I-3999, Randnr. 14).
13 Ausserdem ist zu bemerken, daß, wie die irische Regierung und die Regierung des Vereinigten Königreichs zu Recht betont haben, die in den Vorlageentscheidungen erteilten Informationen nicht nur dazu dienen, dem Gerichtshof sachdienliche Antworten zu erlauben, sondern auch den Regierungen der Mitgliedstaaten und den anderen Beteiligten die Möglichkeit geben sollen, gemäß Artikel 20 der Satzung des Gerichtshofes Erklärungen abzugeben. Der Gerichtshof hat in Anbetracht der Tatsache, daß den Beteiligten nach der vorgenannten Vorschrift nur die Vorlageentscheidungen zugestellt werden, dafür zu sorgen, daß diese Möglichkeit erhalten bleibt (vgl. Urteil vom 1. April 1982 in den verbundenen Rechtssachen 141/81, 142/81 und 143/81, Holdijk, Slg. 1982, 1299, Randnr. 6).
14 Zwar ist der Gerichtshof davon ausgegangen, daß das Erfordernis, daß das vorlegende Gericht den tatsächlichen und rechtlichen Rahmen der gestellten Fragen umreisst, weniger zwingend ist, wenn die Fragen sich auf präzise technische Punkte beziehen und es dem Gerichtshof erlauben, eine sachdienliche Antwort zu geben, selbst wenn das vorlegende Gericht die rechtliche und tatsächliche Situation nicht erschöpfend dargestellt hat (vgl. Urteil vom 3. März 1994 in der Rechtssache C-316/93, Vaneetveld, Slg. 1994, I-763, Randnr. 13). Dies trifft auf den vorliegenden Fall jedoch nicht zu.
15 Es ist festzustellen, daß der Vorlagebeschluß keine ausreichenden Angaben enthält, um die vorstehend wiedergegebenen Anforderungen zu erfuellen.
16 Erstens geht der Ursprung der beschlagnahmten Tabake nicht klar aus dem Vorlagebeschluß hervor. Diese Angabe, die eine Feststellung der Zoll- und Steuerregelung ermöglicht hätte, denen die Waren hätten unterworfen werden müssen, wäre jedoch erforderlich, um auf die erste Frage eine sachdienliche Antwort zu geben.
17 Zweitens fragt die Pretura den Gerichtshof, ob der Vertrag Rechtsvorschriften entgegensteht, mit denen Verstösse gegen die italienische Regelung über den Verkauf verarbeiteter Tabake geahndet werden. Wie jedoch der Gerichtshof oben in Randnummer 4 ausgeführt hat, ist im vorliegenden Fall der Anklagepunkt des rechtswidrigen Verkaufs von Tabaken nicht gegen Herrn Saddik erhoben worden, auch wenn das nationale Gericht darauf hinweist, daß dies später noch erfolgen könne. Insoweit ist daran zu erinnern, daß der Geist der Zusammenarbeit, der den Ablauf des Vorabentscheidungsverfahrens bestimmen soll, es verlangt, daß das nationale Gericht die dem Gerichtshof übertragene Aufgabe berücksichtigt, die darin besteht, zur Rechtspflege in den Mitgliedstaaten beizutragen, nicht aber, gutachterlich zu allgemeinen oder hypothetischen Fragen Stellung zu nehmen (vgl. Urteil vom 16. Juli 1992 in der Rechtssache C-343/90, Dias, Slg. 1992, I-4673, Randnr. 17, und Beschluß La Pyramide, a. a. O., Randnr. 11).
18 Daraus folgt, daß die Angaben des Vorlagebeschlusses es dem Gerichtshof wegen ihrer zu ungenauen Bezugnahme auf die vom vorlegenden Gericht ins Auge gefassten rechtlichen und tatsächlichen Umstände oder wegen ihres rein hypothetischen Charakters nicht erlauben, eine sachdienliche Auslegung des Gemeinschaftsrechts zu geben.
19 Unter diesen Umständen ist gemäß Artikel 92 der Verfahrensordnung festzustellen, daß die dem Gerichtshof vorgelegten Vorabentscheidungsfragen offensichtlich unzulässig sind.
Kostenentscheidung:
Kosten
20 Die Auslagen der italienischen Regierung, der irischen Regierung und der Regierung des Vereinigten Königreichs sowie der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.
Tenor:
Aus diesen Gründen
hat
DER GERICHTSHOF
beschlossen:
Das von der Pretura circondariale Rom mit Beschluß vom 24. November 1993 vorgelegte Vorabentscheidungsersuchen ist unzulässig.
Luxemburg, den 23. März 1995
Ende der Entscheidung
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