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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 24.09.2002
Aktenzeichen: C-471/99
Rechtsgebiete: Verordnung 1408/71/EWG


Vorschriften:

Verordnung 1408/71/EWG Art. 79 Abs. 1
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Die Artikel 77 Absatz 2 Buchstabe b und 78 Absatz 2 Buchstabe b der Verordnung Nr. 1408/71 in der durch die Verordnung Nr. 2001/83 geänderten und aktualisierten Fassung in Verbindung mit Artikel 79 Absatz 1 dieser Verordnung sind so auszulegen, dass der zuständige Träger eines Mitgliedstaats, der nicht der Wohnstaat des Empfängers einer Alters- oder Invaliditätsrente oder der Wohnstaat des Waisen eines verstorbenen Arbeitnehmers ist, nicht verpflichtet ist, den Betroffenen Leistungen für unterhaltsberechtigte Kinder oder für Waisen zu gewähren, wenn die in den Rechtsvorschriften des Wohnstaats für die Bewilligung solcher Leistungen vorgesehenen Voraussetzungen nicht oder nicht mehr vorliegen und der Anspruch des Rentenempfängers oder derjenige von Waisen des verstorbenen Arbeitnehmers in dem anderen Mitgliedstaat allein nach dessen Recht nicht gegeben ist. Der zuständige Träger des Mitgliedstaats, der nicht der Wohnstaat ist, kann in einem solchen Fall gleichwohl verpflichtet sein, die betreffenden Leistungen aufgrund eines zwischen den entsprechenden beiden Mitgliedstaaten geschlossenen und vor dem Inkrafttreten der Verordnung in deren Rechtsordnungen aufgenommenen Abkommens über soziale Sicherheit zu gewähren, wenn die Betroffenen ein wohlerworbenes Recht darauf besitzen, dass dieses Abkommen nach dem Inkrafttreten der Verordnung weiter angewandt wird.

( vgl. Randnr. 32 und Tenor )


Urteil des Gerichtshofes (Sechste Kammer) vom 24. September 2002. - Alfredo Martínez Domínguez, Joaquín Benítez Urbano, Agapito Mateos Cruz und Carmen Calvo Fernández gegen Bundesanstalt für Arbeit, Kindergeldkasse. - Ersuchen um Vorabentscheidung: Sozialgericht Nürnberg - Deutschland. - Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 - Artikel 77 und 78 - Rentner, die nach den Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten Rente beziehen - Rentner, die nach einem vor einem Beitritt zu den Europäischen Gemeinschaften zwischen Mitgliedstaaten geschlossenen Abkommen über die soziale Sicherheit Rente beziehen - Leistungen für unterhaltsberechtigte Kinder und für Waisen von Rentnern - Anspruch auf Familienleistungen zu Lasten des zuständigen Trägers eines Mitgliedstaats, der nicht der Wohnstaat ist - Anspruchsvoraussetzungen. - Rechtssache C-471/99.

Parteien:

In der Rechtssache C-471/99

betreffend ein dem Gerichtshof nach Artikel 234 EG vom Sozialgericht Nürnberg (Deutschland) in den bei diesem anhängigen Rechtsstreitigkeiten

Alfredo Martínez Domínguez,

Joaquín Benítez Urbano,

Agapito Mateos Cruz,

Carmen Calvo Fernández

gegen

Bundesanstalt für Arbeit, Kindergeldkasse

vorgelegtes Ersuchen um Vorabentscheidung über die Auslegung der Artikel 77 Absatz 2 Buchstabe b und 78 Absatz 2 Buchstabe b in Verbindung mit Artikel 79 Absatz 1 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in der durch die Verordnung (EWG) Nr. 2001/83 des Rates vom 2. Juni 1983 geänderten und aktualisierten Fassung (ABl. L 230, S. 6)

erlässt

DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin F. Macken sowie der Richter C. Gulmann (Berichterstatter), R. Schintgen, V. Skouris und J. N. Cunha Rodrigues,

Generalanwalt: A. Tizzano

Kanzler: L. Hewlett, Verwaltungsrätin

unter Berücksichtigung der schriftlichen Erklärungen

- von Herrn Martínez Domínguez, vertreten durch A. Nicolás López, Leiter der Sozialabteilung des spanischen Generalkonsulats in Hannover,

- von Herrn Benítez Urbano, vertreten durch K. von Harbou, Beraterin für Arbeits- und Sozialfragen in der spanischen Botschaft in Bonn,

- von Herrn Mateos Cruz, vertreten durch Á. González Maeztu, Leiter der Sozialabteilung des spanischen Generalkonsulats in Stuttgart,

- der deutschen Regierung, vertreten durch W.-D. Plessing und B. Muttelsee-Schön als Bevollmächtigte,

- der spanischen Regierung, vertreten durch M. López-Monís Gallego als Bevollmächtigte,

- der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch P. Hillenkamp als Bevollmächtigten,

aufgrund des Sitzungsberichts,

nach Anhörung der mündlichen Ausführungen der deutschen Regierung, vertreten durch B. Muttelsee-Schön, und der Kommission, vertreten durch J. Sack als Bevollmächtigten, in der Sitzung vom 11. Oktober 2001,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 7. Februar 2002,

folgendes

Urteil

Entscheidungsgründe:

1 Das Sozialgericht Nürnberg hat mit Beschluss vom 22. November 1999, beim Gerichtshof eingegangen am 9. Dezember 1999, gemäß Artikel 234 EG zwei Fragen nach der Auslegung der Artikel 77 Absatz 2 Buchstabe b und 78 Absatz 2 Buchstabe b in Verbindung mit Artikel 79 Absatz 1 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in der durch die Verordnung (EWG) Nr. 2001/83 des Rates vom 2. Juni 1983 geänderten und aktualisierten Fassung (ABl. L 230, S. 6, im Folgenden: Verordnung) zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Fragen stellen sich im Rahmen von Rechtsstreitigkeiten zwischen den vier spanischen Staatsangehörigen Martínez Domínguez, Benítez Urbano, Mateos Cruz und Calvo Fernández, sämtlich mit Wohnsitz in Spanien, auf der einen und der Bundesanstalt für Arbeit, Kindergeldkasse (BAK), auf der anderen Seite über die Ablehnung von Anträgen auf Kindergeld durch die BAK.

Gemeinschaftsrecht

3 Artikel 77 - Unterhaltsberechtigte Kinder von Rentnern - der Verordnung bestimmt:

(1) Leistungen im Sinne dieses Artikels sind die Familienbeihilfen für Empfänger von Alters- oder Invaliditätsrenten, Renten wegen eines Arbeitsunfalls oder einer Berufskrankheit sowie die Kinderzuschüsse zu solchen Renten, mit Ausnahme der Kinderzulagen aus der Versicherung bei Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten.

(2) Die Leistungen werden ohne Rücksicht darauf, in welchem Mitgliedstaat die Rentner oder die Kinder wohnen, wie folgt gewährt:

a) Der Rentner, der nach den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats Rente bezieht, erhält die Leistungen nach den Rechtsvorschriften des für die Rente zuständigen Staates;

b) der Rentner, der nach den Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten Rente bezieht, erhält die Leistungen

i) nach den Rechtsvorschriften des Staates, in dessen Gebiet er wohnt, wenn Anspruch auf eine der in Absatz 1 genannten Leistungen - gegebenenfalls unter Berücksichtigung von Artikel 79 Absatz 1 Buchstabe a) - nach den Rechtsvorschriften dieses Staates besteht, oder

ii) in den anderen Fällen nach den Rechtsvorschriften des Staates, die für den Rentner die längste Zeit gegolten haben, wenn Anspruch auf eine der in Absatz 1 genannten Leistungen - gegebenenfalls unter Berücksichtigung von Artikel 79 Absatz 1 Buchstabe a) - nach den betreffenden Rechtsvorschriften besteht; wenn nach diesen Rechtsvorschriften kein Anspruch besteht, werden die Anspruchsvoraussetzungen in Bezug auf die Rechtsvorschriften der anderen in Betracht kommenden Mitgliedstaaten in der Reihenfolge der abnehmenden Dauer der nach den Rechtsvorschriften dieser Staaten zurückgelegten Versicherungs- oder Wohnzeiten geprüft."

4 Artikel 78 - Waisen - der Verordnung sieht vor:

(1) Leistungen im Sinne dieses Artikels sind Familienbeihilfen und gegebenenfalls zusätzliche oder besondere Beihilfen für Waisen sowie Waisenrenten, mit Ausnahme von Waisenrenten aus der Versicherung bei Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten.

(2) Die Leistungen für Waisen werden ohne Rücksicht darauf, in welchem Mitgliedstaat die Waisen oder die natürliche oder juristische Person, die ihren Unterhalt bestreitet, wohnen, wie folgt gewährt:

a) für Waisen eines verstorbenen Arbeitnehmers oder Selbständigen, für den die Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats gegolten haben, gemäß den Rechtsvorschriften dieses Staates;

b) für Waisen eines verstorbenen Arbeitnehmers oder Selbständigen, für den die Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten gegolten haben:

i) nach den Rechtsvorschriften des Staates, in dessen Gebiet die Waisen wohnen, wenn Anspruch auf eine der in Absatz 1 genannten Leistungen - gegebenenfalls unter Berücksichtigung von Artikel 79 Absatz 1 Buchstabe a) - nach den Rechtsvorschriften dieses Staates besteht, oder

ii) in den anderen Fällen nach den Rechtsvorschriften des Staates, die für den Verstorbenen die längste Zeit gegolten haben, wenn Anspruch auf eine der in Absatz 1 genannten Leistungen nach den Rechtsvorschriften dieses Staates gegebenenfalls unter Berücksichtigung von Artikel 79 Absatz 1 Buchstabe a) besteht; wenn nach diesen Rechtsvorschriften kein Anspruch besteht, werden die Anspruchsvoraussetzungen in Bezug auf die Rechtsvorschriften der anderen in Betracht kommenden Mitgliedstaaten in der Reihenfolge der abnehmenden Dauer der nach den Rechtsvorschriften dieser Staaten zurückgelegten Versicherungs- oder Wohnzeiten geprüft.

Die Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, die für die Gewährung der in Artikel 77 genannten Leistungen für Kinder eines Rentenberechtigten anzuwenden waren, gelten jedoch nach dem Tod des Rentenberechtigten für die Gewährung der Leistungen an die Waisen weiter."

5 In Artikel 79 - Gemeinsame Vorschriften für die Leistungen für unterhaltsberechtigte Kinder von Rentenberechtigten und für Waisen - der Verordnung heißt es:

(1) Die Leistungen nach den Artikeln 77 und 78 werden gemäß den nach diesen Artikeln bestimmten Rechtsvorschriften von dem Träger, der diese Rechtsvorschriften anzuwenden hat, zu seinen Lasten gewährt, als hätten für den Rentner oder den Verstorbenen ausschließlich die Rechtsvorschriften des zuständigen Staates gegolten.

Dabei gilt jedoch Folgendes:

a) Hängt nach diesen Rechtsvorschriften der Erwerb, die Aufrechterhaltung oder das Wiederaufleben des Leistungsanspruchs von der Dauer der Versicherungs- oder Beschäftigungszeiten, Zeiten einer selbständigen Tätigkeit oder Wohnzeiten ab, so wird diese Dauer gegebenenfalls unter Berücksichtigung des Artikels 45 beziehungsweise des Artikels 72 ermittelt;

..."

Innerstaatliches Recht

6 In Spanien wird nach dem Real Decreto Legislativo 1/1994 vom 20. Juni 1994 mit allgemeinen Rechtsvorschriften auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit (BOE Nr. 154 vom 29. Juni 1994) an versicherte Arbeitnehmer und Rentenempfänger Kindergeld für jedes unterhaltsberechtigte Kind unter 18 Jahren gezahlt, sofern das Einkommen des Empfängers einen bestimmten Betrag nicht übersteigt. In dem Decreto ist ferner ein Anspruch auf Kindergeld für jedes behinderte Kind mit einem Behinderungsgrad von mindestens 65 %, unabhängig von dessen Alter und ohne Einkommensbegrenzung vorgesehen. Für volljährige behinderte Kinder wird diese Leistung jedoch nicht gewährt, wenn sie eine eigenständige Leistung nach der Ley 13/1982 de Integración de los Minusválidos (LISMI) (Gesetz über die Integration der Behinderten) vom 7. April 1982 (BOE Nr. 103 vom 30. April 1982) beziehen, wobei sich die Betroffenen für die eine oder die andere Leistung entscheiden müssen.

7 In Deutschland ist der Anspruch auf Kindergeld im mehrfach geänderten Bundeskindergeldgesetz geregelt. Bis 31. Dezember 1995 bestand der Anspruch auf Kindergeld bis zu dem Zeitpunkt, zu dem das Kind das 16. Lebensjahr vollendete. Ab 1. Januar 1996 wurde diese Altersgrenze auf 18 Jahre angehoben. Der Anspruch auf Kindergeld besteht bei Ausbildung für einen Beruf bis zur Vollendung des 27. Lebensjahres bzw. bei Arbeitslosigkeit bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres fort. Für Kinder, die wegen einer Behinderung außerstande sind, sich selbst zu unterhalten, ist hingegen keine Altersgrenze vorgesehen. Bis 31. Dezember 1995 war der Anspruch auf Kindergeld für das erste Kind einkommensunabhängig, für die weiteren Kinder jedoch einkommensabhängig. Seit 1. Januar 1996 ist der Anspruch auf Kindergeld nicht abhängig vom Einkommen des Kindergeldberechtigten.

Ausgangsrechtsstreitigkeiten und Vorlagefragen

Rechtssachen Martínez Domínguez, Benítez Urbano und Mateos Cruz

8 Die Kläger Martínez Domínguez, Benítez Urbano und Mateos Cruz haben in Deutschland als Wanderarbeitnehmer gearbeitet. Jeder bezieht eine Rente in Spanien und eine Rente in Deutschland.

9 In Deutschland beziehen die Kläger Martínez Domínguez und Mateos Cruz Renten wegen Erwerbsunfähigkeit, der Kläger Benítez Urbano eine Altersrente. Allerdings sind ihre jeweiligen Rentenansprüche nur dank der Berücksichtigung in Spanien entrichteter Beiträge gegeben.

10 Die drei Kläger stellten 1996 und 1997 bei der BAK Anträge auf Kindergeld. Der Kläger Martínez Domínguez beantragte die Zahlung von Kindergeld für ein Kind unter 18 Jahren, weil er eine solche Leistung in Spanien wegen Überschreitens der Einkommensgrenze gemäß dem Real Decreto Legislativo 1/1994 nicht erhielt. Der Kläger Benítez Urbano beantragte Kindergeld für ein behindertes Kind über 18 Jahren, der Kläger Mateos Cruz für drei in der Ausbildung befindliche Kinder über 18 Jahren, für die er in Spanien Kindergeld bis zum Ende des Quartals bezogen hatte, in dem die Kinder jeweils das 18. Lebensjahr vollendet hatten.

11 Diese Anträge wurden abgelehnt. Die Kläger legten Widerspruch gegen die Ablehnungsbescheide ein. Diese Widersprüche wurden zurückgewiesen. 1997 und 1998 erhoben die Kläger dagegen Klage zum Sozialgericht Nürnberg.

12 Die BAK ist der Auffassung, dass bei fehlendem Rentenanspruch allein nach deutschem Recht der Wohnsitzstaat für die Gewährung der betreffenden Leistungen alleine zuständig bleibe.

Rechtssache Calvo Fernández

13 Die Klägerin Calvo Fernández ist Witwe eines 1985 verstorbenen spanischen Staatsangehörigen. Ihr Ehegatte hatte als Wanderarbeitnehmer in Deutschland gearbeitet, wo er einen Rentenanspruch nach dem am 4. Dezember 1973 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich Spanien geschlossenen bilateralen Abkommen über Soziale Sicherheit (BGBl. II 1977, S. 687) in der durch einen Zusatz vom 17. Dezember 1975 (BGBl. II 1977, S. 722) geänderten Fassung (im Folgenden: bilaterales Abkommen) erworben hatte. Er hatte in Deutschland keinen Anspruch auf Familienleistungen.

14 In Spanien wurden Halbwaisenrenten für die drei in Spanien wohnenden Kinder unter 18 Jahren gezahlt. Halbwaisenrenten wurden auch in Deutschland aufgrund des bilateralen Abkommens, und zwar sogar nach dem 1. Januar 1986, dem Zeitpunkt des Beitritts des Königreichs Spanien zu den Europäischen Gemeinschaften, gezahlt, wobei ein Anspruch auf diese Renten allein nach deutschem Recht nicht bestand.

15 Ein Antrag der Klägerin auf Kindergeld für zwei ihrer Kinder, die das 18. Lebensjahr vollendet hatten und in Ausbildung waren, wurde 1997 von der BAK abgelehnt. Der Widerspruch wurde zurückgewiesen. Die Klägerin erhob dagegen beim Sozialgericht Nürnberg Klage.

16 Die BAK machte die gleichen Einwände wie in den drei anderen Rechtssachen geltend und ergänzte, dass die Situation der Klägerin der Fallgestaltung entspreche, die im Urteil des Gerichtshofes vom 7. Mai 1998 in der Rechtssache C-113/96 (Gómez Rodríguez, Slg. 1998, I-2461) bereits geprüft worden sei.

17 Da das Sozialgericht Nürnberg der Auffassung ist, dass für eine Entscheidung in den anhängigen Rechtsstreitigkeiten eine Auslegung des Gemeinschaftsrechts erforderlich sei, hat es beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1. Ist Artikel 77 Absatz 2 Buchstabe b in Verbindung mit Artikel 79 Absatz 1 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 dahin gehend auszulegen, dass Familienbeihilfen für unterhaltsberechtigte Kinder von Rentnern, die einen Anspruch auf Rente in einem Mitgliedsstaat nicht allein aufgrund der Rechtsvorschriften des Mitgliedsstaats, sondern aufgrund der koordinierenden Vorschriften des Europäischen Sozialrechts erworben haben, als volle Leistung gezahlt werden müssen, wenn der Rentenanspruch gegenüber dem Nichtwohnsitzstaat für Zeiträume besteht oder erst ab einem Zeitraum entsteht, für die der Anspruch auf die im Wohnsitzstaat gesetzlich vorgesehenen Familienbeihilfen entweder wegen Überschreitens einer Altersgrenze oder einer Einkommensgrenze oder mangels Antragstellung nicht oder nicht mehr besteht?

2. Ist Artikel 78 Absatz 2 Buchstabe b in Verbindung mit Artikel 79 Absatz 1 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 dahin gehend auszulegen, dass Familienbeihilfen für Waisen eines verstorbenen Arbeitnehmers oder Selbständigen, für den die Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten gegolten haben, wenn ein Anspruch auf Waisenrente in einem Mitgliedsstaat, dessen Rechtsvorschriften gegolten haben, weder allein aufgrund der Rechtsvorschriften dieses Mitgliedsstaats noch aufgrund der koordinierenden Vorschriften des Europäischen Sozialrechts besteht, als volle Leistung gezahlt werden müssen, wenn der Waisenrentenanspruch gegenüber dem Wohnsitzstaat für Zeiträume besteht oder erst ab einem Zeitraum entsteht, für die der Anspruch auf die im Wohnsitzstaat gesetzlich vorgesehenen Leistungen entweder wegen Überschreitens einer Altersgrenze oder einer Einkommensgrenze oder mangels Antragstellung nicht oder nicht mehr besteht?

18 Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass den vier bei ihm anhängigen Verfahren gemeinsam sei, dass die Invaliditäts- oder Altersrentenansprüche sowie die Waisenrentenansprüche zu Lasten des deutschen Trägers nicht allein aufgrund deutscher Rechtsvorschriften bestuenden.

Zu den Vorlagefragen

19 Mit seinen beiden Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Artikel 77 Absatz 2 Buchstabe b und 78 Absatz 2 Buchstabe b der Verordnung in Verbindung mit deren Artikel 79 Absatz 1 so auszulegen sind, dass der zuständige Träger eines Mitgliedstaats, der nicht der Wohnstaat des Empfängers einer Alters- oder Invaliditätsrente oder der Wohnstaat der Waisen eines verstorbenen Arbeitnehmers ist, verpflichtet ist, den Betroffenen Leistungen für unterhaltsberechtigte Kinder oder für Waisen zu gewähren, wenn die in den Rechtsvorschriften des Wohnstaats für die Bewilligung solcher Leistungen vorgesehenen Voraussetzungen nicht oder nicht mehr vorliegen und der Anspruch des Rentenempfängers oder derjenige von Waisen des verstorbenen Arbeitnehmers in dem anderen Mitgliedstaat allein nach dessen Recht nicht gegeben ist. Es möchte außerdem wissen, ob der zuständige Träger des Mitgliedstaats, der nicht der Wohnstaat ist, in einem solchen Fall gleichwohl verpflichtet sein kann, die betreffenden Leistungen aufgrund eines zwischen den entsprechenden beiden Mitgliedstaaten geschlossenen und vor dem Inkrafttreten der Verordnung in deren Rechtsordnungen aufgenommenen Abkommens über soziale Sicherheit zu gewähren.

20 In seinem Urteil vom 27. Februar 1997 in der Rechtssache C-59/95 (Bastos Moriana u. a., Slg. 1997, I-1071) hat der Gerichtshof entschieden, dass der zuständige Träger eines Mitgliedstaats nach den Artikeln 77 Absatz 2 Buchstabe b Ziffer i und 78 Absatz 2 Buchstabe b Ziffer i der Verordnung nicht verpflichtet ist, Rentnern oder Waisen, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, der niedrigere Familienleistungen gewährt, als sie im Recht des ersten Mitgliedstaats vorgesehen sind, Familienleistungen als Zusatzleistung zu gewähren, wenn der Anspruch auf die Rente oder der Anspruch auf die Leistungen für Waisen nicht ausschließlich aufgrund von Versicherungszeiten erworben wurde, die in diesem Staat zurückgelegt wurden.

21 In Randnummer 32 des Urteils Gómez Rodríguez hat der Gerichtshof zu Artikel 78 Absatz 2 Buchstabe b der Verordnung ausgeführt, dass dann, wenn der im Wohnstaat eröffnete Leistungsanspruch erloschen ist, weil eine Altersgrenze erreicht wurde, der zuständige Träger eines anderen Mitgliedstaats nicht verpflichtet ist, den Betroffenen Leistungen zu gewähren, es sei denn, dass diese ihren Anspruch allein aufgrund von in diesem Staat zurückgelegten Versicherungszeiten erworben haben.

22 Diese Auslegung ergab sich für Artikel 77 Absatz 2 Buchstabe b und Artikel 78 Absatz 2 Buchstabe b der Verordnung bereits aus dem Urteil Bastos Moriana u. a., in dem es um Rechtsstreitigkeiten ging, die nicht nur höhere Leistungen betrafen, als sie im Wohnstaat gewährt wurden, sondern auch Kindergeld, das nach den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dem der Antrag gestellt worden war, für einen längeren Zeitraum, d. h. wegen einer höheren Altersgrenze als in den Rechtsvorschriften des Wohnstaats vorgesehen, gewährt wurde (vgl. Urteil Bastos Moriana u. a., Randnr. 5, sowie Schlussanträge des Generalanwalts Fennelly in dieser Rechtssache, Nummern 23 und 24). Der in diesem Urteil verwendete Begriff Zusatzleistung" betraf daher die Frage der Zahlung des Unterschiedsbetrages zwischen den im Wohnstaat gezahlten Leistungen und denen, die in einem anderen Mitgliedstaat gewährt wurden, ebenso wie die Frage der Gesamtzahlung einer Leistung durch den zuständigen Träger des Mitgliedstaats, in dem der Antrag gestellt worden war, über die in den Rechtsvorschriften des Wohnstaats festgelegte Altersgrenze hinaus.

23 Die Artikel 77 und 78 der Verordnung dienen nämlich der Bestimmung des Mitgliedstaats, nach dessen Recht sich die Gewährung von Leistungen für unterhaltsberechtigte Kinder von Rentnern und für Waisen regelt; die Leistungen werden dann gemäß dem in Artikel 13 Absatz 1 der Verordnung niedergelegten Grundsatz, dass nur ein nationales Recht anwendbar sein soll, grundsätzlich nach dem Recht allein dieses Mitgliedstaats gewährt (Urteil Bastos Moriana u. a., Randnr. 15).

24 Nach ständiger Rechtsprechung bleiben jedoch die Mitgliedstaaten für die Festlegung der Höhe der von ihnen gewährten Leistungen und die Dauer der Gewährung allein zuständig (Urteil Gómez Rodríguez, Randnr. 28).

25 Ist also in den Fällen der Artikel 77 Absatz 2 Buchstabe b Ziffer i und 78 Absatz 2 Buchstabe b Ziffer i der Verordnung eine der Voraussetzungen für die Gewährung einer Leistung nach dem Recht des Wohnmitgliedstaats nicht oder nicht mehr erfuellt, z. B. - wie in den Ausgangsverfahren - die Einkommenshöchstgrenze oder die Altersgrenze für die betreffenden Kinder überschritten oder die Option für die betreffende Leistung nicht ausgeübt, kann sich derjenige, der die Leistung beantragt hat, gegenüber dem zuständigen Träger eines anderen Mitgliedstaats nicht auf das in den Artikeln 77 Absatz 2 Buchstabe b Ziffer ii und 78 Absatz 2 Buchstabe b Ziffer ii der Verordnung vorgesehene Anknüpfungskriterium berufen, es sei denn, dass - gemäß den Urteilen Bastos Moriana u. a. und Gómez Rodríguez - sein Rentenanspruch oder der Anspruch des Waisen des verstorbenen Arbeitnehmers allein nach dem Recht dieses Staates gegeben ist. Die Prüfung der letztgenannten Voraussetzung, bei der es sich um eine Frage des innerstaatlichen Rechts handelt, fällt in die Zuständigkeit der nationalen Gerichte.

26 Im vierten Ausgangsverfahren waren die Rentenansprüche des Waisen des verstorbenen Arbeitnehmers in Deutschland vor dem 1. Januar 1986 nicht allein nach deutschem Recht gegeben, sondern, genau wie diejenigen des Arbeitnehmers selbst vor seinem Tod, aufgrund des bilateralen Abkommens. Nach den Angaben, die die deutsche Regierung in Beantwortung einer schriftlichen Frage des Gerichtshofes gemacht hat, wurden die betreffenden Waisenrenten auch nach dem Beitritt des Königreichs Spanien zu den Europäischen Gemeinschaften und dem Inkrafttreten der Verordnung weitergewährt, weil die nach dem bilateralen Abkommen gewährten Leistungen günstiger gewesen seien als die nach dieser Verordnung.

27 Hierzu ist von Belang, dass die Verordnung nach ihrem Artikel 6 unter bestimmten Vorbehalten im Rahmen ihres persönlichen und sachlichen Geltungsbereichs an die Stelle von Abkommen über soziale Sicherheit zwischen zwei oder mehr Mitgliedstaaten tritt.

28 Im vierten Ausgangsverfahren wurden die Ansprüche auf Waisenrente somit in Deutschland in Anwendung des in Randnummer 29 des Urteils vom 7. Februar 1991 in der Rechtssache C-227/89 (Rönfeldt, Slg. 1991, I-323) und in den Randnummern 38 bis 45 des Urteils Gómez Rodríguez dargelegten Grundsatzes weiter gezahlt, wonach der Anspruch auf eine günstigere Leistung aus einem Abkommen über soziale Sicherheit nicht aufgrund des Inkrafttretens der Verordnung verloren gehen kann.

29 In solchen Fällen besitzt der betreffende Staatsangehörige nämlich ein wohlerworbenes Recht darauf, dass dieses Abkommen nach dem Inkrafttreten der Verordnung Nr. 1408/71 weiter angewandt wird (vgl. Urteil vom 5. Februar 2002 in der Rechtssache C-277/99, Kaske, Slg. 2002, I-1261, Randnr. 26).

30 Mit anderen Worten: Fällt ein Angehöriger eines Mitgliedstaats in Bezug auf eine Vergünstigung der sozialen Sicherheit unter ein Abkommen zwischen zwei Mitgliedstaaten und ist dieses Abkommen für ihn günstiger als eine Gemeinschaftsverordnung, die später auf ihn anwendbar geworden ist, so hat er das sich aus diesem Abkommen ergebende Recht endgültig erworben. Wurden infolgedessen die Versicherungs- oder Beschäftigungszeiten, die die Grundlage für die Ansprüche des Betroffenen darstellen, zumindest teilweise zu einer Zeit zurückgelegt, zu der nur ein bilaterales Abkommen anwendbar war, so ist die Situation des Betroffenen in Bezug auf eine bestimmte Leistung insgesamt nach den Bestimmungen dieses Abkommens zu beurteilen, sofern dies für ihn günstiger ist (Urteil Kaske, Randnrn. 31 und 32).

31 Das nationale Gericht hat zu prüfen, ob ein Betroffener aus einem Abkommen über soziale Sicherheit ein wohlerworbenes Recht auf eine günstigere Leistung ableiten kann. Gegebenenfalls ist - wie sich aus Randnummer 27 des Urteils Rönfeldt ergibt - dieser Anspruch dem Anspruch auf eine Leistung gleichzustellen, die allein nach innerstaatlichem Recht des Mitgliedstaats, in dem der Antrag gestellt wurde, gegeben ist.

32 Daher ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass die Artikel 77 Absatz 2 Buchstabe b und 78 Absatz 2 Buchstabe b der Verordnung in Verbindung mit deren Artikel 79 Absatz 1 so auszulegen sind, dass der zuständige Träger eines Mitgliedstaats, der nicht der Wohnstaat des Empfängers einer Alters- oder Invaliditätsrente oder der Wohnstaat des Waisen eines verstorbenen Arbeitnehmers ist, nicht verpflichtet ist, den Betroffenen Leistungen für unterhaltsberechtigte Kinder oder für Waisen zu gewähren, wenn die in den Rechtsvorschriften des Wohnstaats für die Bewilligung solcher Leistungen vorgesehenen Voraussetzungen nicht oder nicht mehr vorliegen und der Anspruch des Rentenempfängers oder derjenige von Waisen des verstorbenen Arbeitnehmers in dem anderen Mitgliedstaat allein nach dessen Recht nicht gegeben ist. Der zuständige Träger des Mitgliedstaats, der nicht der Wohnstaat ist, kann in einem solchen Fall gleichwohl verpflichtet sein, die betreffenden Leistungen aufgrund eines zwischen den entsprechenden beiden Mitgliedstaaten geschlossenen und vor dem Inkrafttreten der Verordnung in deren Rechtsordnungen aufgenommenen Abkommens über soziale Sicherheit zu gewähren, wenn die Betroffenen ein wohlerworbenes Recht darauf besitzen, dass dieses Abkommen nach dem Inkrafttreten der Verordnung weiter angewandt wird.

Kostenentscheidung:

Kosten

33 Die Auslagen der deutschen und der spanischen Regierung sowie der Kommission, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien der Ausgangsverfahren ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreitigkeiten; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)

auf die ihm vom Sozialgericht Nürnberg mit Beschluss vom 22. November 1999 vorgelegten Fragen für Recht erkannt:

Die Artikel 77 Absatz 2 Buchstabe b und 78 Absatz 2 Buchstabe b der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in der durch die Verordnung (EWG) Nr. 2001/83 des Rates vom 2. Juni 1983 geänderten und aktualisierten Fassung in Verbindung mit Artikel 79 Absatz 1 dieser Verordnung sind so auszulegen, dass der zuständige Träger eines Mitgliedstaats, der nicht der Wohnstaat des Empfängers einer Alters- oder Invaliditätsrente oder der Wohnstaat des Waisen eines verstorbenen Arbeitnehmers ist, nicht verpflichtet ist, den Betroffenen Leistungen für unterhaltsberechtigte Kinder oder für Waisen zu gewähren, wenn die in den Rechtsvorschriften des Wohnstaats für die Bewilligung solcher Leistungen vorgesehenen Voraussetzungen nicht oder nicht mehr vorliegen und der Anspruch des Rentenempfängers oder derjenige von Waisen des verstorbenen Arbeitnehmers in dem anderen Mitgliedstaat allein nach dessen Recht nicht gegeben ist. Der zuständige Träger des Mitgliedstaats, der nicht der Wohnstaat ist, kann in einem solchen Fall gleichwohl verpflichtet sein, die betreffenden Leistungen aufgrund eines zwischen den entsprechenden beiden Mitgliedstaaten geschlossenen und vor dem Inkrafttreten der Verordnung in deren Rechtsordnungen aufgenommenen Abkommens über soziale Sicherheit zu gewähren, wenn die Betroffenen ein wohlerworbenes Recht darauf besitzen, dass dieses Abkommen nach dem Inkrafttreten der Verordnung weiter angewandt wird.

Ende der Entscheidung

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