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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 19.09.1995
Aktenzeichen: C-48/94
Rechtsgebiete: RL 77/187/EWG


Vorschriften:

RL 77/187/EWG Art. 1 Abs. 1
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Artikel 1 Absatz 1 der Richtlinie 77/187 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Betriebsteilen ist dahin auszulegen, daß es nicht in den Geltungsbereich der Richtlinie fällt, wenn ein Unternehmen eine seiner Baustellen einem anderen Unternehmen zwecks Fertigstellung überträgt, wobei es sich darauf beschränkt, dem neuen Unternehmer Arbeitnehmer und Material zur Verfügung zu stellen, die zur Durchführung der fraglichen Arbeiten eingesetzt werden sollen.

Der in diesem Artikel enthaltene Begriff des "Übergangs von Unternehmen" setzt nämlich voraus, daß es um den Übergang einer auf Dauer angelegten wirtschaftlichen Einheit geht, deren Tätigkeit nicht auf die Ausführung eines bestimmten Vorhabens beschränkt ist. Dies ist bei einem Unternehmen, das eine seiner Baustellen einem anderen Unternehmen zwecks Fertigstellung überträgt, nicht der Fall. Eine solche Übertragung könnte nur dann unter die Richtlinie fallen, wenn sie mit der Übertragung einer organisierten Gesamtheit von Faktoren einherginge, die eine dauerhafte Fortsetzung der Tätigkeiten oder bestimmter Tätigkeiten des übertragenden Unternehmens erlauben würde.


URTEIL DES GERICHTSHOFES VOM 19. SEPTEMBER 1995. - LEDERNES HOVEDORGANISATION ALS MANDATAR FUER OLE RYGAARD GEGEN DANSK ARBEJDSGIVERFORENING ALS MANDATAR FUER STROE MOELLE AKUSTIK A/S. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: SOE- OG HANDELSRETTEN - DAENEMARK. - AUSLEGUNG DES ARTIKELS 1 ABSATZ 1 DER RICHTLINIE 77/187/EWG - UNTERNEHMENSUEBERGANG - VERTRAG ZWISCHEN ZWEI UNTERNEHMERN ZWECKS FERTIGSTELLUNG EINER ARBEIT MIT ZUSTIMMUNG DES BAUHERRN. - RECHTSSACHE C-48/94.

Entscheidungsgründe:

1 Das Sö- og Handelsret, Kopenhagen, hat mit Beschluß vom 2. Februar 1994, beim Gerichtshof eingegangen am 7. Februar 1994, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag eine Frage nach der Auslegung der Richtlinie 77/187/EWG des Rates vom 14. Februar 1977 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Betriebsteilen (ABl. L 61, S. 26) zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Frage stellt sich in einem Rechtsstreit zwischen Herrn Rygaard und der Firma Strö Mölle Akustik A/S (im folgenden: Firma Strö Mölle).

3 Die Richtlinie soll, wie sich aus ihrer zweiten Begründungserwägung ergibt, "die Arbeitnehmer bei einem Inhaberwechsel schützen und insbesondere die Wahrung ihrer Ansprüche gewährleisten". Hierzu schreibt sie in Artikel 3 Absatz 1 vor, daß die Rechte und Pflichten des Veräusserers aus einem zum Zeitpunkt des Übergangs bestehenden Arbeitsvertrag oder Arbeitsverhältnis auf den Erwerber übergehen, und verbietet es in Artikel 4 Absatz 1 dem Veräusserer wie dem Erwerber, den betroffenen Arbeitnehmern wegen des Übergangs zu kündigen.

4 Nach Artikel 1 Absatz 1 ist die "Richtlinie... auf den Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Betriebsteilen auf einen anderen Inhaber durch vertragliche Übertragung oder durch Verschmelzung anwendbar".

5 Herr Rygaard war Angestellter der Bautischlerei Svend Pedersen A/S (im folgenden: Firma Pedersen).

6 Dieses Unternehmen, das von der Firma SAS Service Partner A/S (im folgenden: Firma SAS) mit dem Bau einer Kantine beauftragt worden war, teilte dieser am 27. Januar 1992 mit, daß es einen Teil der Arbeiten, nämlich die Decken- und Schreinerarbeiten, von der Firma Strö Mölle fertigstellen lassen wolle.

7 Am 29. Januar 1992 gab die Firma Strö Mölle der Firma SAS ein Angebot ab.

8 Am 30. Januar 1992 schlossen die Firma SAS und die Firma Strö Mölle einen Vertrag ab, in dem es hieß:

"Die Lohnkosten..., die bereits für Arbeiten an Decken und Türen im Rahmen des pauschal vergebenen ersten Bauabschnitts (Erdgeschoß und 1. Stock) aufgewendet wurden, werden der Svend Pedersen A/S von der Strö Mölle Akustik A/S erstattet. Für etwaige weitere Lohnforderungen gegen die Svend Pedersen A/S kommt die Strö Mölle Akustik A/S nicht auf.

Die von der Svend Pedersen A/S gelieferten und bezahlten Materialien, die für die genannten Arbeiten bestimmt sind, werden von der Strö Mölle Akustik A/S unmittelbar an die Svend Pedersen A/S zurückgezahlt.

Der Preisunterschied für Fenderleisten in Höhe von 188 000 DKR ohne Mehrwertsteuer wird von der Svend Pedersen A/S an die Strö Mölle Akustik A/S gezahlt.

Die Strö Mölle Akustik A/S übernimmt zwei Lehrlinge vom 1. 2. 1992 bis etwa zum 1. 5. 1992. Voraussetzung hierfür ist, daß die Bauleitung einen überarbeiteten Zeitplan erstellt, der von der Strö Mölle Akustik A/S akzeptiert werden kann."

9 Mit Schreiben vom 31. Januar 1992 kündigte die Firma Pedersen Herrn Rygaard zum 30. April 1992. Im Kündigungsschreiben teilte sie mit, daß die Firma aufgelöst werde und die fraglichen Arbeiten von der Firma Strö Mölle übernommen würden. Ab 1. Februar 1992 werde Herr Rygaard von der Subunternehmerin übernommen, von der er bis zum Ablauf seines Arbeitsvertrags bezahlt werde.

10 Am 10. Februar 1992 nahm die Firma SAS das Angebot der Firma Strö Mölle an, und diese übernahm daraufhin Arbeiten. Herr Rygaard arbeitete bei der Firma Strö Mölle weiter bis zum 26. Mai 1992, als er eine Kündigung zum 30. Juni 1992 erhielt.

11 Im März 1992 stellte die Firma Pedersen Konkursantrag.

12 Herr Rygaard macht vor dem Sö- og Handelsret u. a. einen Anspruch auf Schadensersatz wegen ungerechtfertigter Entlassung geltend.

13 Da das Sö- og Handelsret der Ansicht ist, daß die Entscheidung des Rechtsstreits von der Auslegung der Richtlinie 77/187 abhänge, hat es dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Findet die Richtlinie 77/187/EWG des Rates Anwendung, wenn ein Unternehmer B nach Absprache mit einem Unternehmer A einen Teil der von dem Unternehmer A begonnenen Arbeiten fortsetzt und

1. zwischen dem Unternehmer A und dem Unternehmer B vereinbart wird, daß einige beim Unternehmer A beschäftigte Mitarbeiter beim Unternehmer B weiterarbeiten und daß der Unternehmer B Materialien auf der Baustelle zur Fertigstellung der Arbeiten übernimmt, und

2. die Unternehmer A und B nach der Übernahme für einen bestimmten Zeitraum gleichzeitig auf der Baustelle tätig sind?

Macht es einen Unterschied, wenn die Absprache über die Fertigstellung zwischen dem Bauherrn und dem Unternehmer B erfolgt und der Unternehmer A zustimmt?

14 Die Frage des nationalen Gerichts geht im wesentlichen dahin, ob die mit Zustimmung des Bauherrn zwecks Fertigstellung der von einem anderen Unternehmen begonnenen Arbeiten erfolgte Übernahme von zwei hierfür eingesetzten Lehrlingen und einem Angestellten sowie des hierfür verwendeten Materials einen Übergang eines Unternehmens, Betriebs oder Betriebsteils im Sinne des Artikels 1 Absatz 1 der Richtlinie darstellt.

15 Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes ergibt sich aus dem Aufbau der Richtlinie und dem Wortlaut ihres Artikels 1 Absatz 1, daß diese Richtlinie bezweckt, die Kontinuität der im Rahmen einer wirtschaftlichen Einheit bestehenden Arbeitsverhältnisse unabhängig von einem Inhaberwechsel zu gewährleisten. Daraus folgt, daß das entscheidende Kriterium für die Antwort auf die Frage, ob es sich um einen Übergang im Sinne dieser Richtlinie handelt, darin besteht, ob die fragliche Einheit ihre Identität bewahrt (vgl. insbesondere Urteil vom 18. März 1986 in der Rechtssache 24/85, Spijkers, Slg. 1986, 1119, Randnr. 11).

16 Nach dieser Rechtsprechung ist zur Feststellung, ob dieses Kriterium erfuellt ist, zunächst zu prüfen, ob der Betrieb der betreffenden Einheit von dem neuen Inhaber mit derselben oder einer gleichartigen Geschäftstätigkeit tatsächlich weitergeführt oder wiederaufgenommen wird (Urteil Spijkers, a. a. O., Randnr. 12).

17 Sodann müssen sämtliche den betreffenden Vorgang kennzeichnenden Tatsachen berücksichtigt werden. Dazu gehören namentlich die Art des betreffenden Unternehmens oder Betriebs, der Übergang oder Nichtübergang der materiellen Aktiva wie Gebäude und bewegliche Güter, der Wert der immateriellen Aktiva zum Zeitpunkt des Übergangs, die Übernahme oder Nichtübernahme der Hauptbelegschaft durch den neuen Inhaber, der Übergang oder Nichtübergang der Kundschaft sowie der Grad der Ähnlichkeit zwischen der vor und der nach dem Übergang verrichteten Tätigkeit und die Dauer einer eventuellen Unterbrechung dieser Tätigkeit. Alle diese Umstände sind jedoch nur Teilaspekte der vorzunehmenden globalen Bewertung und können deshalb nicht isoliert beurteilt werden (Urteil Spijkers, a. a. O., Randnr. 13).

18 Nach Auffassung von Herrn Rygaard sind diese Voraussetzungen im vorliegenden Fall erfuellt. Er macht hierzu geltend, die von der Firma Strö Mölle übernommenen Arbeiten seien dieselben, mit denen die Firma Pedersen beauftragt worden sei, und die Dauer der Arbeiten könne für das Vorliegen eines Unternehmensübergangs im Sinne der Richtlinie nicht entscheidend sein; in gleicher Weise sei der Umfang der übertragenen Tätigkeit im Urteil des Gerichtshofes vom 14. April 1994 in der Rechtssache C-392/92 (Schmidt, Slg. 1994, I-1311) nicht als entscheidend angesehen worden.

19 Diesem Vorbringen kann nicht gefolgt werden.

20 Die zitierte Rechtsprechung setzt voraus, daß es um den Übergang einer auf Dauer angelegten wirtschaftlichen Einheit geht, deren Tätigkeit nicht auf die Ausführung eines bestimmten Vorhabens beschränkt ist.

21 Dies ist bei einem Unternehmen, das eine seiner Baustellen einem anderen Unternehmen zwecks Fertigstellung überträgt, nicht der Fall. Eine solche Übertragung könnte nur dann unter die Richtlinie fallen, wenn sie mit der Übertragung einer organisierten Gesamtheit von Faktoren einherginge, die eine dauerhafte Fortsetzung der Tätigkeiten oder bestimmter Tätigkeiten des übertragenden Unternehmens erlauben würde.

22 Dies ist nicht der Fall, wenn dieses letztgenannte Unternehmen sich, wie im Ausgangsfall, darauf beschränkt, dem neuen Unternehmer Arbeitnehmer und Material zur Verfügung zu stellen, die zur Durchführung der fraglichen Arbeiten eingesetzt werden sollen.

23 Somit ist auf die Vorlagefrage zu antworten, daß die mit Zustimmung des Bauherrn zwecks Fertigstellung der von einem anderen Unternehmen begonnenen Arbeiten erfolgte Übernahme von zwei hierfür eingesetzten Lehrlingen und einem Angestellten sowie des hierfür verwendeten Materials keinen Übergang eines Unternehmens, Betriebs oder Betriebsteils im Sinne des Artikels 1 Absatz 1 der Richtlinie darstellt.

Kostenentscheidung:

Kosten

24 Die Auslagen der deutschen Regierung und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

auf die ihm vom Sö- og Handelsret, Kopenhagen, mit Beschluß vom 2. Februar 1994 vorgelegte Frage für Recht erkannt:

Die mit Zustimmung des Bauherrn zwecks Fertigstellung der von einem anderen Unternehmen begonnenen Arbeiten erfolgte Übernahme von zwei hierfür eingesetzten Lehrlingen und einem Angestellten sowie des hierfür verwendeten Materials stellt keinen Übergang eines Unternehmens, Betriebs oder Betriebsteils im Sinne des Artikels 1 Absatz 1 der Richtlinie 77/187/EWG des Rates vom 14. Februar 1977 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Betriebsteilen dar.

Ende der Entscheidung

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