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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 30.05.2002
Aktenzeichen: C-516/99
Rechtsgebiete: EG, EGV


Vorschriften:

EG Art. 234
EGV Art. 73b a.F.
EGV Art. 56
EGV Art. 73d a.F.
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Zur Beurteilung der rein gemeinschaftsrechtlichen Frage, ob die vorlegende Einrichtung Gerichtscharakter im Sinne von Artikel 234 EG besitzt, ist auf eine Reihe von Gesichtspunkten abzustellen, wie gesetzliche Grundlage der Einrichtung, ständiger Charakter, obligatorische Gerichtsbarkeit, streitiges Verfahren, Anwendung von Rechtsnormen durch diese Einrichtung sowie deren Unabhängigkeit. Ein Berufungssenat einer Finanzlandesdirektion in Österreich, der für Berufungsverfahren gegen die Entscheidungen der Finanzverwaltung zuständig ist, erfuellt nicht die Voraussetzung der Unabhängigkeit.

Der Begriff Gericht" im Sinne von Artikel 234 EG kann nämlich nur eine Einrichtung bezeichnen, die gegenüber der Einrichtung, die die angefochtene Entscheidung erlassen hat, die Eigenschaft eines Dritten hat. Diese Eigenschaft kann einer Behörde wie dem Berufungssenat nicht zuerkannt werden, da er zu der Finanzlandesdirektion, die die vor ihm angefochtenen Entscheidungen erlassen hat, eine institutionelle und funktionale Verbindung aufweist.

( vgl. Randnrn. 34-38 )


Urteil des Gerichtshofes (Fünfte Kammer) vom 30. Mai 2002. - Walter Schmid. - Ersuchen um Vorabentscheidung: Berufungssenat V der Finanzlandesdirektion für Wien, Niederösterreich und Burgenland - Österreich. - Begriff des nationalen Gerichts im Sinne des Artikels 234 EG - Unzuständigkeit des Gerichtshofes. - Rechtssache C-516/99.

Parteien:

In der Rechtssache C-516/99

betreffend ein dem Gerichtshof nach Artikel 234 EG vom Berufungssenat V der Finanzlandesdirektion für Wien, Niederösterreich und Burgenland (Österreich) in der bei diesem anhängigen Steuersache

Walter Schmid

vorgelegtes Ersuchen um Vorabentscheidung über die Auslegung der Artikel 73b und 73d EG-Vertrag (jetzt Artikel 56 EG und 58 EG)

erlässt

DER GERICHTSHOF

(Fünfte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten P. Jann sowie der Richter S. von Bahr, D. A. O. Edward, M. Wathelet (Berichterstatter) und C. W. A. Timmermans,

Generalanwalt: A. Tizzano

Kanzler: R. Grass

unter Berücksichtigung der schriftlichen Erklärungen

- der österreichischen Regierung, vertreten durch H. Dossi als Bevollmächtigten,

- der französischen Regierung, vertreten durch K. Rispal-Bellanger und S. Seam als Bevollmächtigte,

- der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch E. Traversa und K. Gross als Bevollmächtigte,

aufgrund des Berichts des Berichterstatters,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 29. Januar 2002,

folgendes

Urteil

Entscheidungsgründe:

1 Der Berufungssenat V der Finanzlandesdirektion für Wien, Niederösterreich und Burgenland hat mit Beschluss vom 2. Dezember 1999, beim Gerichtshof eingegangen am 30. Dezember 1999, gemäß Artikel 234 EG zwei Fragen nach der Auslegung der Artikel 73b und 73d EG-Vertrag (jetzt Artikel 56 EG und 58 EG) zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Fragen stellen sich in einem Verfahren über die Berufung des in Österreich wohnenden Walter Schmid gegen den an ihn gerichteten Einkommensteuerbescheid 1997 des Finanzamts für den 9., 18. und 19. Bezirk in Wien, mit der er eine Herabsetzung der Besteuerung der Dividenden erwirken will, die ihm von einer Gesellschaft mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat als der Republik Österreich gezahlt wurden.

Nationales Recht

3 Die im Ausgangsverfahren maßgeblichen Vorschriften sind die des Einkommensteuergesetzes 1988 (BGBl 1988/400, im Folgenden: EStG).

4 § 93 Absätze 1 und 2 Z 1 lit. a EStG in der Fassung BGBl 1996/201 sieht für steuerpflichtige Kapitalerträge vor:

"(1) Bei inländischen Kapitalerträgen (Abs. 2)... wird die Einkommensteuer durch Abzug vom Kapitalertrag erhoben (Kapitalertragsteuer).

(2) Inländische Kapitalerträge liegen vor, wenn der Schuldner der Kapitalerträge Wohnsitz, Geschäftsleitung oder Sitz im Inland hat oder Zweigstelle im Inland eines Kreditinstituts ist und es sich um folgende Kapitalerträge handelt:

1. a) Gewinnanteile (Dividenden), Zinsen und sonstige Bezüge aus Aktien, Anteilen an Gesellschaften mit beschränkter Haftung..."

5 Gemäß § 95 Absatz 1 EStG in der Fassung des im BGBl 1996/201 veröffentlichten Bundesgesetzes beträgt die Kapitalertragsteuer 25 %.

6 § 97 EStG in der Fassung des im BGBl 1996/797 veröffentlichten Bundesgesetzes bestimmt:

"(1) Für natürliche Personen und für Körperschaften, soweit Körperschaften Einkünfte aus Kapitalvermögen beziehen, gilt die Einkommensteuer (Körperschaftsteuer) für Kapitalerträge gemäß § 93 Abs. 2 Z 3..., die der Kapitalertragsteuer unterliegen, durch den Steuerabzug als abgegolten. Für natürliche Personen gilt dies auch für Kapitalerträge gemäß § 93 Abs. 2 Z 1...

(2) Für natürliche Personen und für Körperschaften, soweit die Körperschaften Einkünfte aus Kapitalvermögen beziehen, gilt die Einkommensteuer (Körperschaftsteuer) für im Inland bezogene Kapitalerträge aus Forderungswertpapieren, die nicht der Kapitalertragsteuer unterliegen, durch einen der kuponauszahlenden Stelle in Höhe der Kapitalertragsteuer freiwillig geleisteten Betrag als abgegolten....

(3) Soweit die Steuer nach Abs. 1 oder 2 abgegolten ist, sind die Kapitalerträge weder beim Gesamtbetrag der Einkünfte noch beim Einkommen (§ 2 Abs. 2) zu berücksichtigen. Dies gilt nur bei Berechnung der Einkommensteuer des Steuerpflichtigen.

..."

7 § 37 Absätze 1 und 4 EStG in der Fassung des im BGBl 1996/797 veröffentlichten Bundesgesetzes regelt die Möglichkeit, sich für das Verfahren der auf den halben Satz ermäßigten Steuer (so genanntes Halbsatzverfahren) zu entscheiden, das die Besteuerung von Einkünften aus Beteiligungen an Gesellschaften betrifft, wie folgt:

"(1) Der Steuersatz ermäßigt sich für

- Einkünfte aufgrund von Beteiligungen (Abs. 4),...

auf die Hälfte des auf das gesamte Einkommen entfallenden Durchschnittssteuersatzes

...

(4) Einkünfte aufgrund von Beteiligungen sind

1. Beteiligungserträge:

a) Gewinnanteilscheine jeder Art aufgrund einer Beteiligung an inländischen Kapitalgesellschaften oder Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften in Form von Gesellschafts- und Genossenschaftsanteilen...

..."

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

8 Herr Schmid wohnt in Österreich. 1997 bestand ein Teil seiner Einkünfte aus Dividenden aus Aktien der in Deutschland ansässigen MAN AG.

9 Für das Jahr 1997 bezog die österreichische Steuerverwaltung die von Herrn Schmid bezogenen Dividenden aus ausländischen Aktien in die Bemessungsgrundlage der Steuer auf sein Einkommen ein. Der auf die Einkünfte von Herrn Schmid anwendbare Durchschnittssteuersatz, bei dessen Bemessung sein inländisches Einkommen, seine Einkünfte aus Kapitalvermögen und seine ausländischen Einkünfte zugrundegelegt wurden, betrug 27,17 %. Zu diesem Satz wurden die Einkünfte aus seinen ausländischen Aktien besteuert.

10 Die von Herrn Schmid bereits in der Bundesrepublik Deutschland abgeführte Kapitalertragsteuer wurde in vollem Umfang auf seine in Österreich bestehende Steuerschuld angerechnet.

11 Herr Schmid erhob gegen den an ihn gerichteten Einkommensteuerbescheid für 1997 am 3. Dezember 1998 Berufung. Mit Schreiben vom 3. Juni 1999 beantragte er die Entscheidung über die Berufung durch die Abgabenbehörde zweiter Instanz, den Berufungssenat V der Finanzlandesdirektion für Wien, Niederösterreich und Burgenland. Er beantragte u. a. die Anwendung des halben Einkommensteuersatzes auf die Besteuerung der Dividenden aus seinen Aktien der MAN AG, obwohl § 37 EStG in Verbindung mit § 97 EStG in ihrer für das Ausgangsverfahren maßgeblichen Fassung dem Steuerpflichtigen, der Dividenden von außerhalb Österreichs ansässigen Kapitalgesellschaften erhält, nicht die Möglichkeit einräume, sich für eine Halbsatzbesteuerung zu entscheiden. Bei einem Steuerpflichtigen in dieser Lage werden nämlich die Kapitalerträge aus Beteiligungen an in einem anderen Mitgliedstaat als Österreich ansässigen Gesellschaften seinem übrigen Einkommen hinzugerechnet und der Einkommensteuer zu dem sich aus der Einkommensteuerveranlagung ergebenden Durchschnittssteuersatz unterworfen.

12 Dem Berufungssenat V stellt sich die Frage, ob eine Regelung wie die der §§ 37 Absätze 1 und 4 und 97 EStG in ihrer zum Zeitpunkt der Vorgänge des Ausgangsverfahren maßgeblichen Fassung mit den Vorschriften des EG-Vertrags über den freien Kapitalverkehr vereinbar ist.

13 Einerseits unterlägen nämlich Dividenden aus inländischen Aktien in Österreich der Kapitalertragsteuer, die grundsätzlich in Form eines Abzugs an der Quelle bei der Dividenden ausschüttenden Gesellschaft erhoben werde und Abgeltungswirkung habe, so dass die Dividenden nicht in die Bemessungsgrundlage für die Einkommensteuer einbezogen würden. Der Steuerpflichtige könne jedoch beantragen, dass diese Dividenden nicht der Kapitalertragsteuer durch Abzug an der Quelle unterworfen würden, sondern in die Bemessungsgrundlage für die Einkommensteuer einbezogen würden; in diesem Fall unterlägen sie dieser Steuer zu einem Steuersatz in Höhe der Hälfte des Durchschnittssteuersatzes, dem seine anderen Einkünfte unterlägen.

14 Andererseits würden die Dividenden aus ausländischen Aktien, die in Österreich nicht der Kapitalertragssteuer durch Abzug an der Quelle mit Abgeltungswirkung unterlägen, dort folglich in vollem Umfang der Einkommensteuer unterworfen und könnten nicht zum halben Steuersatz besteuert werden.

15 Es sei fraglich, ob diese Unterscheidung im Widerspruch zu Artikel 73b Absatz 1 EG-Vertrag stehe und ob sie gegebenenfalls nach Artikel 73d Absatz 1 Buchstabe a EG-Vertrag gerechtfertigt sein könne. Als Rechtfertigung komme der Umstand in Betracht, dass die Dividenden ausschüttenden österreichischen Gesellschaften in der Regel bereits einer Körperschaftsteuer von 34 % unterworfen worden seien. Diesem Umstand lasse sich jedoch nicht mit Sicherheit eine sachliche Rechtfertigung für die Schlechterstellung der einen Auslandsbezug aufweisenden Steuerpflichtigen entnehmen.

16 Unter diesen Umständen hat der Berufungssenat V der Finanzlandesdirektion für Wien, Niederösterreich und Burgenland das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1. Stehen Artikel 73b Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 73d Absatz 1 Buchstaben a und b und Absatz 3 EG-Vertrag (jetzt Artikel 56 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 58 Absatz 1 Buchstaben a und b und Absatz 3 EG) einer Regelung entgegen, wie sie § 97 EStG 1988, BGBl 1988/400, in der Fassung BGBl 1996/797, vorsieht (dies gestützt auf § 1 Absatz 1 Z 1 lit c des Endbesteuerungsgesetzes BGBl 1993/11), nach der die Endbesteuerung für Dividenden, Zinsen und sonstige Bezüge aus ausländischen Aktien ausgeschlossen ist, der Steuersatz betreffend inländische Aktien also 25 % beträgt, der Steuersatz betreffend ausländische Aktien aber bis zu 50 % betragen kann?

2. Stehen Artikel 73b Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 73d Absatz 1 Buchstaben a und b und Absatz 3 EG-Vertrag (jetzt Artikel 56 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 58 Absatz 1 Buchstaben a und b und Absatz 3 EG) einer Regelung entgegen, wie sie § 37 Absätze 1 und 4 EStG 1988, BGBl 1988/400, vorsieht, nach der zwar Gewinnanteile jeder Art aufgrund einer Beteiligung an inländischen Kapitalgesellschaften in Form von Gesellschaftsanteilen einem auf die Hälfte des auf das gesamte Einkommen entfallenden Durchschnittssteuersatzes ermäßigten Steuersatz unterliegen, Gewinnanteile jeder Art aufgrund einer Beteiligung an Kapitalgesellschaften mit Sitz und Ort der Geschäftsleitung in einem anderen EU-Mitgliedsstaat oder in einem Drittstaat aber keiner derartigen Ermäßigung unterliegen?

Zur Zuständigkeit des Gerichtshofes

17 Zunächst ist zu prüfen, ob der Berufungssenat V ein nationales Gericht im Sinne von Artikel 234 EG ist.

Die nationale Regelung über die Berufungssenate der Finanzlandesdirektionen

18 § 263 Absatz 1 der Bundesabgabenordnung (BAO) sieht für jedes Bundesland die Bildung einer Berufungskommission vor, deren Geschäfte vom Präsidenten der Finanzdirektion geleitet werden. Jede Berufungskommission besteht einerseits aus den von den gesetzlichen Berufsvertretungen entsandten Mitgliedern und andererseits aus den vom Bundesminister für Finanzen (§ 263 Absatz 2 BAO) oder dem Präsidenten der Finanzlandesdirektion ernannten Mitgliedern. Nach § 267 Absatz 1 BAO werden die Mitglieder der Berufungskommissionen für die Dauer von sechs Jahren bestellt.

19 Nach § 270 Absatz 1 BAO bildet der Präsident der Finanzlandesdirektion die Berufungssenate und bestimmt deren Mitglieder aus den Mitgliedern der Berufungskommission. Nach § 270 Absatz 3 BAO besteht jeder Berufungssenat aus fünf Mitgliedern: einem Vorsitzenden, dessen Aufgaben vom Präsidenten der Finanzlandesdirektion (oder einem von ihm bestimmten Finanzbeamten) wahrgenommen werden, einem weiteren Mitglied der Abgabenbehörde und drei Mitgliedern, die von den gesetzlichen Berufsvertretungen zur Berufungskommission entsandt wurden. Die Dauer des Mandats der Mitglieder der Berufungssenate ist in keiner Vorschrift geregelt.

20 Die Mitglieder der Berufungssenate sind in Ausübung ihres Amtes an keine Weisungen gebunden (§ 271 Absatz 1 BAO). Sie müssen geloben, in ihrer Entscheidung unparteiisch zu sein (§ 271 Absatz 2 BAO). Im Fall der Befangenheit haben sie sich ihres Amtes zu enthalten (§ 283 Absatz 3 BAO).

21 Die §§ 260 Absatz 2 und 261 BAO legen fest, in welchen Fällen der Berufungssenat entscheidet. Nach § 243 BAO ist als einziges ordentliches Rechtsmittel gegen Entscheidungen der Abgabenbehörde die Berufung gegeben.

22 Vor dem Berufungssenat hat eine mündliche Verhandlung stattzufinden, wenn es der Vorsitzende des Senates für erforderlich hält, wenn es der Senat auf Antrag eines seiner Beisitzer beschließt oder wenn es eine Partei beantragt (§ 284 Absatz 1 BAO). Die Abgabenbehörde, die den angefochtenen Bescheid erlassen hat, ist nicht selbst Partei des Verfahrens vor dem Berufungssenat.

23 Der Berufungssenat ist berechtigt, den angefochtenen Bescheid nach jeder Richtung abzuändern oder aufzuheben (§ 289 Absatz 2 BAO).

24 Aus Artikel 18 des Bundes-Verfassungsgesetzes ergibt sich, dass der Berufungssenat nicht nach Billigkeit entscheidet, sondern Rechtsnormen anwendet.

25 Nach den dem Gerichtshof zu den Akten gereichten Unterlagen kann gegen die Entscheidung eines Berufungssenats Beschwerde beim Verwaltungsgerichtshof oder, wenn die Beschwerde mit der Verfassungswidrigkeit der Entscheidung begründet wird, beim Verfassungsgerichtshof erhoben werden. Insbesondere kann der Präsident der Finanzlandesdirektion gegen die Entscheidung des Berufungssenats Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof erheben (§ 292 BAO).

26 Die Möglichkeiten der nachträglichen Korrektur der Entscheidung sind gesetzlich festgelegt: So besteht die Möglichkeit der Berichtigung offenkundiger Fehler (§§ 293, 293a und 293b BAO), der Aufhebung oder Änderung von Bescheiden über Begünstigungen bei Änderung der Verhältnisse (§ 294 BAO) oder der Anpassung eines abgeleiteten Bescheids an den geänderten Feststellungsbescheid (§ 295 BAO).

27 Eine Entscheidung des Berufungssenats kann vom Bundesministerium der Finanzen wegen Rechtswidrigkeit ihres Inhalts nur aufgehoben werden, wenn sie mit Beschwerde beim Verwaltungsgerichtshof oder beim Verfassungsgerichtshof angefochten ist (§ 299 BAO).

Beim Gerichtshof eingereichte Erklärungen

28 Nach Auffassung der österreichischen Regierung, der Kommission und der vorlegenden Einrichtung selbst ist eine Stelle wie der Berufungssenat V als ein Gericht im Sinne von Artikel 234 EG anzusehen.

29 Eine solche Stelle erfuelle die Voraussetzungen, die der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung, insbesondere im Urteil vom 17. September 1997 in der Rechtssache C-54/96 (Dorsch Consult, Slg. 1977, I-4961, Randnr. 23, und die dort angeführte Rechtsprechung) aufgestellt habe, und zwar gesetzliche Grundlage der Einrichtung, ständiger Charakter, obligatorische Gerichtsbarkeit, streitiges Verfahren, Anwendung von Rechtsnormen durch diese Einrichtung sowie deren Unabhängigkeit.

30 Insbesondere zur Voraussetzung der Unabhängigkeit macht der Berufungssenat V geltend, gemäß § 271 Absatz 1 BAO seien die Mitglieder der Berufungssenate in Ausübung ihres Amtes an keine Weisungen gebunden.

31 Die österreichische Regierung führt aus, die Unabhängigkeit einer Einrichtung wie eines Berufungssenats folge nicht ausschließlich aus ihrer Weisungsungebundenheit. Vielmehr werde in der österreichischen Rechtslehre kritisch hingewiesen auf die Doppelrolle des Präsidenten der Finanzlandesdirektion, der einerseits Leiter der Abgabenbehörde sei und andererseits bei der Zusammensetzung der Berufungssenate eine Rolle spiele, und die "Mischverwendung" des Beamten der Finanzlandesdirektion, der zugleich Mitglied des Berufungssenats sei; dieser Beamte sei einerseits weisungsgebundenes Organ in einer Fachabteilung und andererseits weisungsfreies Mitglied des Berufungssenats.

32 Diese Bedenken könnten mit einem Hinweis auf die Praxis ausgeräumt werden, wonach bei den beiden der Abgabenbehörde angehörenden Mitgliedern des Berufungssenats eine funktionale Trennung zwischen dem Berufungssenat, der über die gegen die Entscheidungen der regionalen Finanzverwaltung erhobenen Beschwerden zu entscheiden habe, und den Dienststellen dieser Verwaltung, deren Entscheidungen angefochten würden, gewährleistet sei. So nehme der Präsident einer Finanzlandesdirektion die Aufgaben des Vorsitzenden des Berufungssenats tatsächlich nicht selbst wahr, sondern benenne zur Wahrnehmung dieser Aufgaben einen Beamten der Abgabenbehörde. Überdies werde das zweite aus der Abgabenbehörde stammende Mitglied des Berufungssenats in dieser Eigenschaft nur außerhalb der Aufgabengebiete und Verfahren verwendet, mit denen es normalerweise in seiner Eigenschaft als Beamter der Abgabenbehörde befasst sei.

33 Die Kommission führt aus, als Organe der Abgabenbehörde zweiter Instanz (Artikel 260 Absatz 2 BAO) seien die Berufungssenate zumindest organisatorisch in die Finanzverwaltung eingegliedert. Verschiedene Gesichtspunkte gewährleisteten jedoch die Unabhängigkeit der Berufungssenate gegenüber der Finanzverwaltung: erstens die Zusammensetzung der Berufungssenate, deren Mitglieder in der Mehrzahl nicht aus der Finanzverwaltung stammten, sondern von den gesetzlichen Berufsvertretungen entsandt würden (§ 270 Absatz 3 BAO), zweitens die ausdrückliche Garantie in Bezug auf die Weisungsungebundenheit der Mitglieder der Berufungssenate (§ 271 Absatz 1 BAO) und deren Verpflichtung, sich im Fall der Befangenheit ihres Amtes zu enthalten (§ 283 BAO), und drittens die Möglichkeit des Präsidenten der Finanzlandesdirektion, gegen die Entscheidung eines Berufungssenats beim Verwaltungsgerichtshof Beschwerde zu erheben (§ 292 BAO), was zeige, dass die Berufungssenate tatsächlich auch gegen die Finanzverwaltung entscheiden könnten.

Würdigung durch den Gerichtshof

34 Nach ständiger Rechtsprechung stellt der Gerichtshof zur Beurteilung der rein gemeinschaftsrechtlichen Frage, ob die vorlegende Einrichtung Gerichtscharakter im Sinne von Artikel 234 EG besitzt, auf eine Reihe von Gesichtspunkten ab, wie gesetzliche Grundlage der Einrichtung, ständiger Charakter, obligatorische Gerichtsbarkeit, streitiges Verfahren, Anwendung von Rechtsnormen durch diese Einrichtung sowie deren Unabhängigkeit (vgl. insbesondere Urteile Dorsch Consult, Randnr. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 21. März 2000 in den Rechtssachen C-110/98 bis C-147/98, Gabalfrisa u. a., Slg. 2000, I-1577, Randnr. 33).

35 Ohne dass geprüft zu werden brauchte, ob die Berufungssenate die weiteren Voraussetzungen für die Qualifizierung einer Einrichtung als Gericht im Sinne von Artikel 234 EG erfuellen, ist festzustellen, dass die Voraussetzung der Unabhängigkeit nicht erfuellt ist.

36 Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass der Begriff "Gericht" im Sinne von Artikel 234 EG nur eine Einrichtung bezeichnen kann, die gegenüber der Einrichtung, die die angefochtene Entscheidung erlassen hat, die Eigenschaft eines Dritten hat (Urteil vom 30. März 1993 in der Rechtssache C-24/92, Corbiau, Slg. 1993, I-1277, Randnr. 15).

37 Die Einrichtung, bei der ein Rechtsmittel gegen eine Entscheidung der Dienststellen einer Verwaltung eingelegt wird, kann nicht als Dritter im Verhältnis zu diesen Dienststellen und damit als Gericht im Sinne von Artikel 234 EG angesehen werden, wenn sie eine institutionelle Verbindung zu dieser Verwaltung aufweist (vgl. in diesem Sinne Urteil Corbiau, Randnr. 16), es sei denn, dass die nationale Rechtsordnung so beschaffen ist, dass sie eine funktionale Trennung zwischen den Dienststellen der Verwaltung, deren Entscheidungen angefochten werden, und der Einrichtung gewährleistet, die über die gegen die Entscheidungen dieser Dienststellen erhobenen Beschwerden entscheidet, ohne von der Verwaltung, zu der diese Dienststellen gehören, Weisungen zu erhalten (vgl. in diesem Sinne Urteil Gabalfrisa u. a., Randnr. 39).

38 Es ist jedoch festzustellen, dass ein Berufungssenat zu der Finanzlandesdirektion, die die vor ihm angefochtenen Entscheidungen erlassen hat, eine institutionelle und funktionale Verbindung aufweist, die es ausschließt, dass ihm die Eigenschaft eines Dritten im Verhältnis zu dieser Verwaltung zuerkannt wird.

39 Was erstens das Bestehen einer institutionelle Verbindung angeht, so gehören unstreitig zwei der fünf Mitglieder des Berufungssenat der Steuerverwaltung an. In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass der Präsident der Finanzlandesdirektion von Rechts wegen Mitglied des Berufungssenats ist, für den er zumindest nach dem Wortlaut des Gesetzes die Aufgaben eines Vorsitzenden wahrnimmt.

40 Was zweitens das Bestehen einer funktionalen Verbindung betrifft, so ist zunächst darauf hinzuweisen, dass derjenige Beamte der Finanzlandesdirektion, der das zweite aus der Steuerverwaltung stammende Mitglied des Berufungssenats ist, seine Tätigkeit in dieser Verwaltung im Übrigen weiter ausübt und insoweit an die Weisungen seiner Vorgesetzten gebunden ist.

41 Sodann folgt aus Artikel 270 Absatz 1 BAO, dass der Präsident der Finanzlandesdirektion befugt ist, die Mitglieder des Berufungssenats aus den Mitgliedern der Berufungskommission zu bestimmen. Er ist durch keine Gesetzesbestimmung daran gehindert, die Zusammensetzung eines Berufungssenats im Hinblick auf die Bearbeitung jeder einzelnen Beschwerde, und zwar sogar noch während eines laufenden Beschwerdeverfahrens, nach eigenem Ermessen zu ändern. Mangels einer ausdrücklichen Gesetzesbestimmung, die die Dauer des Mandats der Mitglieder der Berufungssenate festlegt und Abberufungsfälle genau bezeichnet, kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Mitglieder der Berufungssenate für einen ausreichenden Schutz gegenüber unzulässigen Eingriffen oder unzulässigem Druck der Verwaltung Gewähr bieten können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. Februar 1999 in der Rechtssache C-103/97, Köllensperger und Atzwanger, Slg. 1999, I-551, Randnr. 21).

42 Vor allem kann schließlich der Präsident der Finanzlandesdirektion - wobei er an etwaige Weisungen des Finanzministers gebunden ist - gegen eine Entscheidung eines Berufungssenats Beschwerde erheben (§ 292 BAO) und hierbei einen anderen Standpunkt vertreten als den des Berufungssenats, dem er vorsitzt.

43 Somit genügen weder das Verbot des § 271 Absatz 1 BAO, einem Mitglied eines Berufungssenats in Ausübung seines Amtes Weisungen zu erteilen, noch der Umstand, dass der Präsident der Finanzlandesdirektion in der Praxis darauf verzichten soll, die ihm von Rechts wegen zugewiesenen Aufgaben des Vorsitzenden des Berufungssenats selbst wahrzunehmen, und hierzu ein anderes Mitglied der Steuerverwaltung bestimmen soll, noch die Tatsache, dass das zweite der Steuerverwaltung angehörende Mitglied des Berufungssenats nicht mit Fragen und Verfahren befasst werden soll, mit denen er sich normalerweise in der Steuerverwaltung befasst, um die Unabhängigkeit eines Berufungssenats zu gewährleisten.

44 Nach alledem stellt ein Berufungssenat kein Gericht im Sinne des Artikels 234 EG dar; folglich ist der Gerichtshof für die Beantwortung der vom Berufungssenat V vorgelegten Fragen nicht zuständig.

Kostenentscheidung:

Kosten

45 Die Auslagen der österreichischen und der französischen Regierung sowie der Kommission, die Erklärungen vor dem Gerichtshof abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim Berufungssenat V anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher dessen Sache.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

(Fünfte Kammer)

für Recht erkannt:

Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften ist für die Beantwortung der vom Berufungssenat V der Finanzlandesdirektion für Wien, Niederösterreich und Burgenland mit Beschluss vom 2. Dezember 1999 vorgelegten Fragen nicht zuständig.

Ende der Entscheidung

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