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Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 07.05.1998
Aktenzeichen: C-52/97
Rechtsgebiete: EGV, G Nr. 608 (Italien)
Vorschriften:
EGV Art. 177 (jetzt EGV Art. 234) | |
EGV Art. 92 Abs. 1 | |
EGV Art. 93 | |
G Nr. 608 (Italien) |
Eine nationale Vorschrift, die ein einzelnes Unternehmen von der Einhaltung der allgemein für befristete Arbeitsverträge geltenden Regelung befreit, stellt keine staatliche Beihilfe im Sinne von Artikel 92 Absatz 1 des Vertrages dar, wenn eine solche Vorschrift nicht zu einer unmittelbaren oder mittelbaren Übertragung staatlicher Mittel auf dieses Unternehmen führt.
Als Beihilfen im Sinne von Artikel 92 Absatz 1 sind nämlich nur solche Vorteile anzusehen, die unmittelbar oder mittelbar aus staatlichen Mitteln gewährt werden. Die in dieser Bestimmung vorgenommene Unterscheidung zwischen "staatlichen" und "aus staatlichen Mitteln gewährten" Beihilfen bedeutet nicht, daß alle von einem Staat gewährten Vorteile unabhängig davon Beihilfen darstellen, ob sie aus staatlichen Mitteln finanziert werden, sondern dient nur dazu, in den Beihilfebegriff die unmittelbar vom Staat gewährten Vorteile sowie diejenigen, die über eine vom Staat benannte oder errichtete öffentliche oder private Einrichtung gewährt werden, einzubeziehen.
Urteil des Gerichtshofes (Vierte Kammer) vom 7. Mai 1998. - Epifanio Viscido (C-52/97), Mauro Scandella u. a. (C-53/97) und Massimiliano Terragnolo u. a. (C-54/97) gegen Ente Poste Italiane. - Ersuchen um Vorabentscheidung: Pretura circondariale di Trento - Italien. - Staatliche Beihilfen - Begriff - Nationales Gesetz, das eine einzelne Einrichtung von öffentlichem Interesse von der Einhaltung einer allgemein für befristete Arbeitsverträge geltenden Vorschrift befreit. - Verbundene Rechtssachen C-52/97, C-53/97 und C-54/97.
Entscheidungsgründe:
1 Die Pretura circondariale Trient hat mit drei Beschlüssen vom 3. Februar 1997, beim Gerichtshof eingegangen am 7. Februar 1997, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag vier Fragen nach der Auslegung der Artikel 92 Absatz 1 und 93 EG-Vertrag zur Vorabentscheidung vorgelegt.
2 Diese Fragen stellen sich im Rahmen dreier Rechtsstreitigkeiten zwischen den Beschäftigten des Ente Poste Italiane (Unternehmen Italienische Post) Viscido, Scandella u. a. sowie Terragnolo u. a. (im folgenden: Kläger) und dem Ente Poste Italiane (im folgenden: Beklagter).
3 Aus den Akten ergibt sich, daß die Kläger der Ausgangsverfahren dem Beklagten vorwerfen, sie mit befristeten Verträgen eingestellt zu haben. Sie machen geltend, daß diese Verträge in unbefristete Verträge umzudeuten seien.
4 Das italienische Recht lässt den Rückgriff auf befristete Arbeitsverträge nur in Ausnahmefällen zu. So sieht Artikel 1 des Gesetzes Nr. 230 vom 18. April 1962 vor, daß Arbeitsverträge - von einigen gesetzlich vorgesehenen Ausnahmen abgesehen - als unbefristet gelten. Artikel 5 dieses Gesetzes sieht vor, daß einem aufgrund eines befristeten Vertrages eingestellten Arbeitnehmer alle Vergünstigungen, die das Unternehmen den unbefristet beschäftigten Arbeitnehmern gewährt, entsprechend der Dauer seiner Beschäftigung gewährt werden, sofern dies nicht mit der Natur des befristeten Vertrages objektiv unvereinbar ist.
5 Mit dem Gesetz Nr. 56 vom 28. Februar 1987 zur Regelung des Arbeitsmarkts wurden für bestimmte Arbeitnehmergruppen weitere Ausnahmen vom Grundsatz des Verbotes befristeter Arbeitsverträge eingeführt.
6 Das am 28. November 1996 in das Gesetz Nr. 608 umgewandelte Decreto legge Nr. 510 vom 1. Oktober 1996 über Dringlichkeitsbestimmungen auf dem Gebiet der gemeinnützigen Arbeiten sowie der Maßnahmen zur Stützung der Einkommen und zur sozialen Vorsorge schreibt in Artikel 9 Absatz 21 vor:
"Diejenigen Arbeitnehmer, die ab 1. Dezember 1994 beim Unternehmen Poste Italiane mit befristetem Arbeitsvertrag beschäftigt waren, haben entsprechend den vertraglichen Bestimmungen und den mit den Gewerkschaften getroffenen Vereinbarungen bis zum 31. Dezember 1996 ein Vorrecht bei der unbefristeten Einstellung für eine Stelle der gleichen Gehaltsstufe und/oder des gleichen Aufgabenbereichs durch das Unternehmen Poste Italiane; die betreffenden Arbeitnehmer müssen ihre Absicht, dieses Recht auszuüben, bis zum 30. November 1996 bekunden. Die Einstellungen von Beschäftigten mit befristetem Arbeitsvertrag, die das Unternehmen Poste Italiane ab dem Zeitpunkt seiner Gründung, spätestens aber bis zum 30. Juni 1997 vorgenommen hat, können nicht zu unbefristeten Arbeitsverhältnissen führen und enden bei Ablauf des jeweiligen Arbeitsvertrags."
7 In den Ausgangsverfahren machte der Beklagte geltend, daß die streitigen Arbeitsverträge gemäß Artikel 9 Absatz 21 des Decreto legge Nr. 510 nicht den Vorschriften der Gesetze Nrn. 230 und 56 unterlägen.
8 Die Kläger machten ihrerseits geltend, daß die streitige Regelung eine staatliche Beihilfe darstelle, so daß sie als solche den Verfahren und der Prüfung ihrer Vereinbarkeit mit dem Gemeinsamen Markt gemäß den Artikeln 92 und 93 EG-Vertrag unterliege.
9 Da die Pretura circondariale eine Auslegung dieser Bestimmungen für erforderlich hält, um über die bei ihr anhängigen Rechtsstreitigkeiten entscheiden zu können, hat sie beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende vier Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Fällt unter den Begriff "staatliche oder aus staatlichen Mitteln gewährte Beihilfen gleich welcher Art" eine gesetzliche Bestimmung, die ein einzelnes öffentliches Wirtschaftsunternehmen von der Einhaltung der allgemein für befristete Arbeitsverträge geltenden Vorschriften befreit?
2. Falls die erste Frage bejaht wird: Hätte eine solche Beihilfe dem Vorprüfungsverfahren gemäß Artikel 93 Absatz 3 EG-Vertrag unterzogen werden müssen?
3. Kann das Verbot einer solchen Beihilfe, wenn das vorgenannte Verfahren nicht durchgeführt wurde, als im innerstaatlichen Recht des italienischen Staates unmittelbar anwendbar betrachtet werden?
4. Falls die dritte Frage bejaht wird: Kann sich ein einzelner, der in einem Rechtsstreit mit dem öffentlichen Wirtschaftsunternehmen die Nichtanwendung der allgemeinen Vorschriften über Zeitarbeit in seinem Fall beanstandet, um die Umwandlung seines Arbeitsverhältnisses in ein unbefristetes Arbeitsverhältnis und/oder Schadensersatz zu erlangen, auf ein solches Verbot berufen?
10 Mit Beschluß des Präsidenten des Gerichtshofes vom 25. Februar 1997 sind die Rechtssachen C-52/97, C-53/97 und C-54/97 zu gemeinsamem mündlichen und schriftlichen Verfahren und zu gemeinsamer Entscheidung verbunden worden.
11 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im wesentlichen wissen, ob eine nationale Vorschrift, die ein einzelnes Unternehmen von der Einhaltung der allgemein für befristete Arbeitsverträge geltenden Regelung befreit, eine staatliche Beihilfe im Sinne von Artikel 92 Absatz 1 EG-Vertrag darstellt.
12 Das vorlegende Gericht führt aus, daß der Beklagte, da er keine unbefristeten Arbeitsverträge schließen müsse, flexibler sein könne als andere Unternehmen desselben Sektors.
13 Es ist daran zu erinnern, daß nur solche Vorteile als Beihilfen im Sinne von Artikel 92 Absatz 1 des Vertrages anzusehen sind, die unmittelbar oder mittelbar aus staatlichen Mitteln gewährt werden. Die in dieser Bestimmung vorgenommene Unterscheidung zwischen "staatlichen" und "aus staatlichen Mitteln gewährten" Beihilfen bedeutet nämlich nicht, daß alle von einem Staat gewährten Vorteile unabhängig davon Beihilfen darstellen, ob sie aus staatlichen Mitteln finanziert werden, sondern dient nur dazu, in den Beihilfebegriff die unmittelbar vom Staat gewährten Vorteile sowie diejenigen, die über eine vom Staat benannte oder errichtete öffentliche oder private Einrichtung gewährt werden, einzubeziehen (vgl. Urteile vom 24. Januar 1978 in der Rechtssache 82/77, Van Tiggele, Slg. 1978, 25, Randnrn. 24 und 25, vom 17. März 1993 in den verbundenen Rechtssachen C-72/91 und C-73/91, Sloman Neptun, Slg. 1993, I-887, Randnr. 19, und vom 30. November 1993 in der Rechtssache C-189/91, Kirsammer-Hack, Slg. 1993, I-6185, Randnr. 16).
14 Im vorliegenden Fall führt die Befreiung eines einzelnen Unternehmens von der allgemein für befristete Arbeitsverträge geltenden Regelung nicht zu einer unmittelbaren oder mittelbaren Übertragung staatlicher Mittel auf dieses Unternehmen.
15 Daraus folgt, daß eine Vorschrift der in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden Art kein Mittel dazu darstellt, unmittelbar oder mittelbar einen Vorteil aus staatlichen Mitteln zu gewähren.
16 Daher ist auf die erste Frage zu antworten, daß eine nationale Vorschrift, die ein einzelnes Unternehmen von der Einhaltung der allgemein für befristete Arbeitsverträge geltenden Regelung befreit, keine staatliche Beihilfe im Sinne von Artikel 92 Absatz 1 EG-Vertrag darstellt.
17 Angesichts der Antwort auf die erste Frage brauchen die zweite, die dritte und die vierte Frage nicht beantwortet zu werden.
Kostenentscheidung:
Kosten
18 Die Auslagen der italienischen und der deutschen Regierung sowie der Kommission, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien der Ausgangsverfahren ist das Verfahren ein Zwischenstreit in den bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreitigkeiten; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.
Tenor:
Aus diesen Gründen
hat
DER GERICHTSHOF
(Vierte Kammer)
auf die ihm von der Pretura circondariale Trient mit Beschlüssen vom 3. Februar 1997 vorgelegten Fragen für Recht erkannt:
Eine nationale Vorschrift, die ein einzelnes Unternehmen von der Einhaltung der allgemein für befristete Arbeitsverträge geltenden Regelung befreit, stellt keine staatliche Beihilfe im Sinne von Artikel 92 Absatz 1 EG-Vertrag dar.
Ende der Entscheidung
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