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Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 15.02.1996
Aktenzeichen: C-53/95
Rechtsgebiete: EG-Vertrag
Vorschriften:
EG-Vertrag Art. 52 |
Artikel 52 des Vertrages soll, da sich die Niederlassungsfreiheit nicht auf das Recht beschränkt, nur eine Niederlassung innerhalb der Gemeinschaft zu gründen, sondern auch die Möglichkeit umfasst, unter Beachtung der jeweiligen Berufsregelungen im Gebiet der Gemeinschaft mehr als eine Stätte für die Ausübung einer Tätigkeit einzurichten und beizubehalten, die Ausübung von Erwerbstätigkeiten im gesamten Gebiet der Gemeinschaft erleichtern und steht somit einer nationalen Regelung entgegen, die die Ausdehnung dieser Tätigkeiten über das Hoheitsgebiet eines einzigen Mitgliedstaats hinaus behindern kann. Er verwehrt es deshalb einem Mitgliedstaat, Personen, die bereits eine selbständige Tätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat ausüben, dort wohnen und einem System der sozialen Sicherheit angeschlossen sind, zur Entrichtung von Beiträgen zur Sozialversicherung für Selbständige zu verpflichten, wenn diese Verpflichtung nicht gerechtfertigt ist, weil sie zu keinem zusätzlichen Schutz für die Betroffenen führt.
Urteil des Gerichtshofes (Dritte Kammer) vom 15. Februar 1996. - Inasti (Institut national d'assurances sociales pour travailleurs indépendants) gegen Hans Kemmler. - Ersuchen um Vorabentscheidung: Tribunal du travail de Tournai - Belgien. - Niederlassungsfreiheit - Soziale Sicherheit Selbständiger, die in zwei Mitgliedstaaten erwerbstätig sind. - Rechtssache C-53/95.
Entscheidungsgründe:
1 Das Tribunal du travail Tournai hat mit Urteil vom 14. Februar 1995, beim Gerichtshof eingegangen am 1. März 1995, eine Frage nach der Auslegung der Artikel 48, 51, 52 und 59 EG-Vertrag zur Vorabentscheidung vorgelegt.
2 Diese Frage stellt sich in einem Rechtsstreit zwischen dem Institut national d' assurances sociales pour travailleurs indépendants (nachstehend: Inasti) und Herrn Kemmler (nachstehend: Beklagter) wegen der Zahlung von Beiträgen zum belgischen Sozialversicherungssystem für Selbständige.
3 Der Beklagte besitzt die deutsche Staatsangehörigkeit und übte eine selbständige Tätigkeit als Rechtsanwalt in Frankfurt und Brüssel aus. Er hatte seinen Wohnsitz stets in Deutschland, wo er dem System der sozialen Sicherheit für Selbständige unterlag, wohnte während eines Teils des streitigen Zeitraums aber auch in Flobecq (Gerichtsbezirk Tournai).
4 Nach Ansicht des Inasti unterlag der Beklagte bis zum 30. Juni 1982, dem Zeitpunkt des Inkrafttretens der Verordnung (EWG) Nr. 1390/81 des Rates vom 12. Mai 1981 zur Ausdehnung der Verordnung Nr. 1408/71 des Rates auf die Selbständigen und ihre Familienangehörigen (ABl. L 143, S. 1) der belgischen Sozialversicherung. Da nämlich zwischen dem Königreich Belgien und der Bundesrepublik Deutschland kein bilaterales Sozialversicherungsabkommen bestanden habe, sei der Beklagte aufgrund seiner beruflichen Tätigkeit in Belgien beitragspflichtig im Sinne von Artikel 3 Absatz 1 der Königlichen Verordnung Nr. 38 vom 27. Juli 1967 über die sozialrechtliche Stellung der Selbständigen (Moniteur belge vom 29. Juli 1967) gewesen.
5 Das Inasti verlangte daher vom Beklagten Zahlung von Beiträgen für das Jahr 1981 und die ersten beiden Quartale 1982. Der Beklagte lehnte die Zahlung dieser Beiträge jedoch u. a. mit der Begründung ab, er sei der deutschen Sozialversicherung für Selbständige angeschlossen gewesen und ein Anschluß an die belgische Sozialversicherung hätte ihm keinen zusätzlichen sozialen Schutz geboten.
6 Das Tribunal du travail Tournai, bei dem der Rechtsstreit anhängig ist, ist der Ansicht, daß die Entscheidung von der Auslegung verschiedener Bestimmungen des Vertrages abhängt. Es hat daher dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:
Sind die Artikel 48, 51, 52 und 59 EG-Vertrag dahin auszulegen, daß ein Mitgliedstaat (im vorliegenden Fall Belgien) vor dem 1. Juli 1982 Staatsangehörige eines anderen Mitgliedstaats (im vorliegenden Fall die frühere Bundesrepublik Deutschland), die die gleiche selbständige Berufstätigkeit in seinem Gebiet und in der früheren Bundesrepublik Deutschland, wo sie wohnhaft waren und dem System der sozialen Sicherheit unterlagen, ausübten, nicht einer Beitragspflicht im belgischen System der sozialen Sicherheit für Selbständige unterwerfen durfte, zumal diese Beitragspflicht für sie nicht zu einem zusätzlichen sozialen Schutz führen konnte?
7 Die Verordnung Nr. 1390/81 begründet nach ihrem Artikel 2 keinen Anspruch für einen Zeitraum vor ihrem Inkrafttreten. Aus Artikel 4 der Verordnung ergibt sich, daß sie erst am 1. Juli 1982 in Kraft getreten ist, d. h. nach den für das Ausgangsverfahren maßgeblichen Zeiträumen. Sie ist daher in diesem Verfahren nicht anwendbar; die gestellte Frage bezieht sich somit zu Recht ausschließlich auf die Vorschriften des Vertrages (vgl. Urteil vom 7. Juli 1988 in der Rechtssache 143/87, Stanton, Slg. 1988, 3877, Randnr. 7).
8 Wie dem Vorlageurteil zu entnehmen ist, übt der Beklagte keine Tätigkeit im Lohn- oder Gehaltsverhältnis aus, sondern eine selbständige Tätigkeit innerhalb einer sowohl in Frankfurt als auch in Brüssel bestehenden beruflichen Einrichtung. Sein Fall wird somit weder von den Artikeln 48 und 51 des Vertrages über die Freizuegigkeit der Arbeitnehmer noch von Artikel 59 über den freien Dienstleistungsverkehr erfasst. Da der Beklagte über eine feste, dauerhafte Einrichtung in den beiden genannten Mitgliedstaaten verfügt, kommt für die Entscheidung des Rechtsstreits nur Artikel 52 über die Niederlassungsfreiheit in Betracht.
9 Gemäß diesem Artikel sind die Beschränkungen der freien Niederlassung von Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats aufzuheben. Es handelt sich dabei nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes um eine unmittelbar anwendbare Vorschrift des Gemeinschaftsrechts. Die Mitgliedstaaten hatten daher diese Vorschrift selbst zu der Zeit zu beachten, als sie mangels einer gemeinschaftsrechtlichen Regelung über die sozialrechtliche Stellung der Selbständigen weiterhin zur Rechtsetzung in diesem Bereich befugt waren (vgl. u. a. Stanton, a. a. O., Randnr. 10).
10 Wie der Gerichtshof entschieden hat (vgl. u. a. Urteil vom 12. Juli 1984 in der Rechtssache 107/83, Klopp, Slg. 1984, 2971, Randnr. 19), beschränkt sich die Niederlassungsfreiheit nicht auf das Recht, nur eine Niederlassung innerhalb der Gemeinschaft zu gründen, sondern umfasst auch die Möglichkeit, unter Beachtung der jeweiligen Berufsregelungen im Gebiet der Gemeinschaft mehr als eine Stätte für die Ausübung einer Tätigkeit einzurichten und beizubehalten.
11 Die Vertragsbestimmungen über die Freizuegigkeit sollen somit die Ausübung von Erwerbstätigkeiten im gesamten Gebiet der Gemeinschaft erleichtern und stehen einer nationalen Regelung entgegen, die die Ausdehnung dieser Tätigkeiten über das Hoheitsgebiet eines einzigen Mitgliedstaats hinaus behindern kann (vgl. Urteil Stanton, a. a. O., Randnr. 13).
12 Die Regelung eines Mitgliedstaats, nach der Personen, die bereits eine selbständige Tätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat ausüben, dort wohnen und einem System der sozialen Sicherheit angeschlossen sind, Beiträge an die Sozialversicherung für Selbständige entrichten müssen, behindert die Ausübung einer Erwerbstätigkeit ausserhalb dieses Mitgliedstaats. Artikel 52 des Vertrages steht daher einer solchen Regelung entgegen, sofern es für sie keine angemessene Rechtfertigung gibt.
13 Eine Regelung wie die im Ausgangsverfahren streitige bietet dem Betroffenen keinen zusätzlichen sozialen Schutz. Das Hindernis für die Ausübung einer Erwerbstätigkeit in mehr als nur einem Mitgliedstaat kann daher keinesfalls aus diesem Grund gerechtfertigt sein (vgl. Urteil Stanton, a. a. O., Randnr. 15).
14 Somit ist auf die vorgelegte Frage zu antworten, daß es Artikel 52 des Vertrages einem Mitgliedstaat verwehrt, Personen, die bereits eine selbständige Tätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat ausüben, dort wohnen und einem System der sozialen Sicherheit angeschlossen sind, zur Entrichtung von Beiträgen zur Sozialversicherung für Selbständige zu verpflichten, obwohl diese Beitragspflicht für sie nicht zu einem zusätzlichen sozialen Schutz führt.
Kostenentscheidung:
Kosten
15 Die Auslagen der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben hat, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.
Tenor:
Aus diesen Gründen
hat
DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)
auf die ihm vom Tribunal du travail Tournai (Belgien) mit Urteil vom 14. Februar 1995 vorgelegte Frage für Recht erkannt:
Artikel 52 EG-Vertrag verwehrt es einem Mitgliedstaat, Personen, die bereits eine selbständige Tätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat ausüben, dort wohnen und einem System der sozialen Sicherheit angeschlossen sind, zur Entrichtung von Beiträgen zur Sozialversicherung für Selbständige zu verpflichten, obwohl diese Beitragspflicht für sie nicht zu einem zusätzlichen sozialen Schutz führt.
Ende der Entscheidung
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