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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 11.12.1997
Aktenzeichen: C-55/96
Rechtsgebiete: EGV


Vorschriften:

EGV Art. 48
EGV Art. 49
EGV Art. 55
EGV Art. 56
EGV Art. 59
EGV Art. 60
EGV Art. 62
EGV Art. 66
EGV Art. 86
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

3 Eine staatliche Arbeitsvermittlungsstelle kann für die Anwendung der gemeinschaftlichen Wettbewerbsregeln als Unternehmen qualifiziert werden, da diese Qualifizierung im Wettbewerbsrecht für jede eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübende Einheit gilt, unabhängig von ihrer Rechtsform und der Art ihrer Finanzierung.

4 Als Unternehmen, die mit Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse betraut sind, unterliegen staatliche Arbeitsvermittlungsstellen nach Artikel 90 Absatz 2 des Vertrages den Wettbewerbsregeln, insbesondere dem Verbot des Artikels 86 des Vertrages, soweit die Anwendung dieser Vorschrift nicht die Erfuellung der ihnen übertragenen besonderen Aufgabe verhindert. Ein Mitgliedstaat, der jede Tätigkeit der Vermittlung und Einschaltung von Mittelspersonen bei Stellengesuchen und -angeboten untersagt, wenn sie nicht durch diese Stellen erfolgt, verstösst gegen Artikel 90 Absatz 1 des Vertrages, wenn er eine Lage schafft, in der die staatlichen Vermittlungsstellen zwangsläufig gegen Artikel 86 des Vertrages verstossen müssen. Dies gilt insbesondere, wenn folgende Bedingungen erfuellt sind:

- Die staatlichen Vermittlungsstellen sind offenkundig nicht in der Lage, für alle Arten von Tätigkeiten die auf dem Arbeitsmarkt bestehende Nachfrage zu befriedigen;

- die tatsächliche Ausübung der Vermittlungstätigkeiten wird privaten Unternehmen durch die Beibehaltung von Gesetzesbestimmungen unmöglich gemacht, die diese Tätigkeiten bei strafrechtlichen oder Verwaltungssanktionen verbieten;

- die betreffenden Vermittlungstätigkeiten können sich auf Angehörige oder das Gebiet anderer Mitgliedstaaten erstrecken.


Urteil des Gerichtshofes (Sechste Kammer) vom 11. Dezember 1997. - Job Centre coop. arl. - Ersuchen um Vorabentscheidung: Corte d'appello di Milano - Italien. - Freier Dienstleistungsverkehr - Vermittlung von Arbeitnehmern - Ausschluß von Privatunternehmen - Ausübung hoheitlicher Befugnisse. - Rechtssache C-55/96.

Entscheidungsgründe:

1 Die Corte d'appello Mailand hat mit Beschluß vom 30. Januar 1996, beim Gerichtshof eingegangen am 23. Februar 1996, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag drei Fragen nach der Auslegung der Artikel 48, 49, 55, 56, 59, 60, 62, 66, 86 und 90 EG-Vertrag zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Fragen stellen sich im Zusammenhang mit einer Beschwerde gemäß Artikel 2330 Absatz 4 des italienischen Codice civile (Bürgerliches Gesetzbuch) gegen die Ablehnung eines Antrags der Gesellschaft Job Centre coop. arl (im folgenden: JCC) auf Genehmigung ihrer Gründungsurkunde durch das Tribunale civile e penale Mailand.

3 JCC ist eine in der Gründung befindliche Genossenschaft mit beschränkter Haftung, deren Sitz sich in Mailand befindet. Nach ihrer Satzung besteht ihre Tätigkeit insbesondere darin, Stellengesuche und -angebote zu vermitteln und Dritten vorübergehend Arbeitsleistungen zu beschaffen. Ihr Zweck ist es, Arbeitnehmern und Unternehmen - und zwar Mitgliedern wie Nichtmitgliedern - zu ermöglichen, derartige Dienste auf dem italienischen Arbeitsmarkt und dem Arbeitsmarkt der Gemeinschaft in Anspruch zu nehmen.

4 In Italien gilt für den Arbeitsmarkt das System der obligatorischen Vermittlung, das von Arbeitsämtern verwaltet wird. Dieses System ist im Gesetz Nr. 264 vom 29. April 1949 geregelt. Artikel 11 Absatz 1 dieses Gesetzes verbietet jede Vermittlung von Stellenangeboten und -gesuchen, selbst wenn diese Vermittlung unentgeltlich erfolgt. Jede gegen diese Vorschriften verstossende Arbeitsvermittlung und die Einstellung von Arbeitnehmern ohne Einschaltung des Arbeitsamtes werden gemäß dem Gesetz Nr. 264 mit strafrechtlichen oder Verwaltungssanktionen geahndet. Ausserdem können Arbeitsverträge, die unter Verstoß gegen diese Vorschriften geschlossen worden sind, auf Beschwerde des Arbeitsamtes und auf Antrag der Staatsanwaltschaft gerichtlich für ungültig erklärt werden; diese Beschwerde muß innerhalb eines Jahres von der Einstellung eines Arbeitnehmers an eingereicht werden.

5 Artikel 1 Absatz 1 des Gesetzes Nr. 1369 vom 23. Oktober 1960 verbietet die Vermittlung und die Einschaltung von Mittelspersonen bei Arbeitsverhältnissen. Ein Verstoß gegen diese Vorschriften wird mit den in Artikel 2 dieses Gesetzes vorgesehenen strafrechtlichen Sanktionen geahndet, während gemäß Artikel 1 letzter Absatz Arbeitnehmer, die unter Verstoß gegen Artikel 1 Absatz 1 beschäftigt werden, rechtlich in jeder Hinsicht als von dem Unternehmer angestellt gelten, der ihre Leistungen tatsächlich genutzt hat.

6 Am 28. Januar 1994 hatte der Präsident von JCC in Gründung beim Tribunale civile e penale Mailand beantragt, die Gründungsurkunde der Gesellschaft gemäß Artikel 2330 Absatz 3 des Codice civile zu genehmigen. Mit Beschluß vom 31. März 1994 hatte dieses Gericht das Genehmigungsverfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof zwei Fragen nach der Auslegung verschiedener Artikel des EG-Vertrags, die seiner Ansicht nach für die Entscheidung über die Genehmigung der Gründungsurkunde von JCC relevant waren, zur Vorabentscheidung vorgelegt.

7 Der Gerichtshof hat mit Urteil vom 19. Oktober 1995 in der Rechtssache C-111/94 (Job Centre, Slg. 1995, I-3361) festgestellt, daß er für die Beantwortung der ihm vom Tribunale civile e penale Mailand vorgelegten Fragen nicht zuständig ist, weil dieses Gericht, wenn es in einem Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit über einen Antrag auf Genehmigung der Gründungsurkunde einer Gesellschaft zum Zweck ihrer Eintragung in das Register entscheidet, eine Tätigkeit ausübt, die keinen Rechtsprechungscharakter hat und mit der im übrigen in anderen Mitgliedstaaten Verwaltungsbehörden betraut sind. Denn dieses Gericht handelt als Verwaltungsbehörde, ohne daß es gleichzeitig einen Rechtsstreit zu entscheiden hätte.

8 Im Anschluß an dieses Urteil wies das Tribunale civile e penale Mailand mit Entscheidung vom 18. Dezember 1995 den vom Vertreter von JCC gestellten Antrag auf Genehmigung der Gründungsurkunde mit der Begründung zurück, daß der Gesellschaftszweck von JCC gegen bestimmte zwingende Vorschriften des italienischen Arbeitsrechts verstosse.

9 JCC legte gegen die Ablehnung der Genehmigung gemäß Artikel 2330 Absatz 4 des Codice civile Beschwerde zur Corte d'appello Mailand ein, mit der sie die Aufhebung der Entscheidung des Tribunale und die Genehmigung der Gründungsurkunde der Gesellschaft beantragt.

10 Da die Corte d'appello der Ansicht ist, daß die Beschwerde von JCC Fragen der Auslegung des Gemeinschaftsrechts aufwerfe, hat sie das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1. Sind die in Artikel 11 Absatz 1 des italienischen Gesetzes Nr. 264 vom 29. April 1949 und Artikel 1 Absatz 1 des italienischen Gesetzes Nr. 1369 vom 23. Oktober 1960 enthaltenen Vorschriften, die jede Tätigkeit der Vermittlung und Einschaltung von Mittelspersonen bei Stellengesuchen und -angeboten durch andere Rechtssubjekte als die in diesen Vorschriften genannten staatlichen Stellen verbieten, der Ausübung öffentlicher Gewalt im Sinne des Artikels 66 in Verbindung mit Artikel 55 EG-Vertrag zuzuordnen, wenn man den öffentlich-rechtlichen Charakter berücksichtigt, den das italienische Recht ihnen als Vorschriften zum Schutz der Arbeitnehmer und der Volkswirtschaft beimisst?

2. Stehen diese Vorschriften in Anbetracht der allgemeinen Regel, die sich aus ihnen ergibt, im Widerspruch zu den in den Artikeln 48, 49, 59, 60, 62, 86 und 90 EG-Vertrag enthaltenen gemeinschaftsrechtlichen Grundsätzen, die das Recht auf Arbeit, die wirtschaftliche Unternehmungsfreiheit, die Freizuegigkeit der Arbeitnehmer und anderer Personen, die Freiheit, Arbeits- und Dienstleistungen nachzufragen und anzubieten, den freien und lauteren Wettbewerb zwischen Wirtschaftsteilnehmern sowie das Verbot des Mißbrauchs einer beherrschenden Stellung betreffen?

3. Sind die Gerichte und Verwaltungsbehörden des italienischen Staates für den Fall, daß die genannten italienischen Rechtsvorschriften über die Arbeitsvermittlung und die Einschaltung von Mittelspersonen gegen die in der vorigen Frage aufgeführten gemeinschaftsrechtlichen Grundsätze verstossen, verpflichtet, diese Grundsätze unmittelbar anzuwenden, indem sie es öffentlichen und privaten Stellen und Unternehmen gestatten, die Tätigkeiten der Vermittlung von Arbeitsgesuchen und -angeboten und der Beschaffung von Zeitarbeitskräften auszuüben, sofern sie die Vorschriften über das Arbeitsverhältnis und die Pflichtversicherung einhalten und sich den gesetzlich vorgeschriebenen Kontrollen unterwerfen?

11 Aus den Akten des Ausgangsverfahrens ergibt sich, daß das vorlegende Gericht mit diesen Fragen im wesentlichen wissen will, ob die Vertragsbestimmungen über die Freizuegigkeit der Arbeitnehmer, den freien Dienstleistungsverkehr und den Wettbewerb nationalen Rechtsvorschriften entgegenstehen, wonach jede Tätigkeit der Vermittlung von Stellengesuchen und -angeboten und der Einschaltung von Mittelspersonen bei Arbeitsverhältnissen verboten ist, wenn sie nicht durch staatliche Stellen für die Vermittlung von Arbeitskräften erfolgt.

12 JCC ist eine in der Gründung befindliche Genossenschaft mit beschränkter Haftung, die im Ausgangsverfahren das Recht in Anspruch nimmt, Stellengesuche und -angebote zu vermitteln und vorübergehend Arbeitskräfte zu beschaffen.

13 Soweit sich die Fragen auf die Vorschriften über die Freizuegigkeit der Arbeitnehmer beziehen, genügt der Hinweis, daß die Anwendbarkeit von Artikel 48 des Vertrages nicht aus der Tatsache gefolgert werden kann, daß zu den Gründungsmitgliedern auch Arbeitnehmer gehören, da die Gesellschaft nach ihrer Gründung und der Aufnahme ihrer Tätigkeit eine eigenständige juristische Person sein wird.

14 Daraus folgt, daß die Vorschriften über die Freizuegigkeit der Arbeitnehmer für das Ausgangsverfahren nicht relevant sind.

15 Soweit sich die Fragen auf die Artikel 86 und 90 des Vertrages beziehen, werfen sie die Problematik des Umfangs des den staatlichen Arbeitsvermittlungsstellen eingeräumten ausschließlichen Rechts und damit des mit strafrechtlichen und Verwaltungssanktionen bewehrten Verbotes jeder Tätigkeit der Vermittlung und Einschaltung von Mittelspersonen bei Stellenangeboten und -gesuchen durch private Unternehmen auf.

16 Daher sind zunächst diese Bestimmungen des Vertrages auszulegen.

Zur Auslegung der Artikel 86 und 90 des Vertrages

17 JCC macht im wesentlichen geltend, das Verbot jeder Tätigkeit der Vermittlung und Einschaltung von Mittelspersonen bei Stellengesuchen und -angeboten durch andere als staatliche Stellen verstosse gegen die Artikel 86 und 90 des Vertrages, da die Arbeitsämter nicht in der Lage seien, die Nachfrage auf dem Markt nach dieser Art von Tätigkeit zu befriedigen. JCC bezieht sich insoweit insbesondere auf das Urteil vom 23. April 1991 in der Rechtssache C-41/90 (Höfner und Elser, Slg. 1991, I-1979).

18 Die deutsche und die norwegische Regierung sowie die Kommission tragen vor, das ausschließliche Recht der Vermittlung von Arbeitskräften sei anhand der Grundsätze zu beurteilen, die dem Urteil Höfner und Elser entnommen werden könnten.

19 Die italienische Regierung weist zunächst darauf hin, daß die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Rechtsvorschriften keinem Unternehmen besondere oder ausschließliche Rechte auf dem Gebiet der Zurverfügungstellung von Arbeitskräften zuerkennten, sondern sich darauf beschränkten, die Vermittlung und Einschaltung von Mittelspersonen bei Arbeitsverhältnissen zu verbieten. Sodann könne in Anbetracht der besonderen Merkmale und der sozialen Zielsetzungen der staatlichen Arbeitsvermittlung in Italien eine solche Vermittlung nicht als eine wirtschaftliche Tätigkeit und damit als eine Unternehmenstätigkeit angesehen werden. Schließlich könne das staatliche Vermittlungsmonopol nicht die in Artikel 86 Absatz 2 Buchstabe b des Vertrages genannten Beeinträchtigungen verursachen.

20 Angesichts dieses Vorbringens ist zu prüfen, ob eine staatliche Vermittlungsstelle wie die Einrichtung, auf die sich Artikel 11 Absatz 1 des Gesetzes Nr. 264 bezieht, als ein Unternehmen im Sinne der Artikel 85 und 86 des Vertrages angesehen werden kann (vgl. Urteil Höfner und Elser, a. a. O., Randnr. 20).

21 Im Wettbewerbsrecht umfasst der Begriff des Unternehmens jede eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübende Einheit, unabhängig von ihrer Rechtsform und der Art ihrer Finanzierung. Die Arbeitsvermittlung ist eine wirtschaftliche Tätigkeit.

22 Daß die Vermittlungstätigkeit gewöhnlich öffentlich-rechtlichen Anstalten übertragen ist, spricht nicht gegen die wirtschaftliche Natur dieser Tätigkeit. Die Arbeitsvermittlung ist nicht immer von öffentlichen Einrichtungen betrieben worden und muß nicht notwendig von solchen Einrichtungen betrieben werden.

23 Die italienische Regierung macht ausserdem geltend, daß nach dem Urteil vom 17. Februar 1993 in den Rechtssachen C-159/91 und C-160/91 (Poucet und Pistre, Slg. 1993, I-637) eine Einrichtung der sozialen Sicherheit, die im Rahmen einer Monopolregelung tätig sei, kein Unternehmen im Sinne von Artikel 86 des Vertrages sei; der Gerichtshof habe in den Randnummern 18 und 19 dieses Urteils ausgeführt, daß eine solche Tätigkeit keine wirtschaftliche Tätigkeit sei, da sie auf dem Grundsatz der nationalen Solidarität beruhe und ohne Gewinnerzielungsabsicht ausgeuebt werde.

24 Aus diesem Urteil ergibt sich zwar, daß die Verwaltung von Pflichtsystemen der sozialen Sicherheit, wie sie in den Vorlageentscheidungen in den Rechtssachen Poucet und Pistre beschrieben werden, keine wirtschaftliche Tätigkeit darstellt, doch ist diese Schlußfolgerung auf die gleichen Kriterien gestützt worden (vgl. Urteil Poucet und Pistre, a. a. O., Randnr. 17), die im Urteil Höfner und Elser mit dem Ergebnis angewandt worden waren, daß die Arbeitsvermittlung als Unternehmenstätigkeit im Sinne der gemeinschaftlichen Wettbewerbsregeln zu qualifizieren ist.

25 Daraus folgt, daß eine Einrichtung wie eine staatliche Arbeitsvermittlungsstelle für die Anwendung der gemeinschaftlichen Wettbewerbsregeln als Unternehmen qualifiziert werden kann.

26 Staatliche Arbeitsvermittlungsstellen, die nach dem Recht eines Mitgliedstaats mit Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse, wie sie in Artikel 11 Absatz 1 des Gesetzes Nr. 264 vorgesehen sind, betraut sind, unterliegen nach Artikel 90 Absatz 2 des Vertrages den Wettbewerbsregeln, sofern deren Anwendung mit der Erfuellung der Aufgaben dieser Stellen nicht nachweislich unvereinbar ist (vgl. Urteile vom 30. April 1974 in der Rechtssache 155/73, Sacchi, Slg. 1974, 409, Randnr. 15, sowie Höfner und Elser, a. a. O., Randnr. 24).

27 Staatliche Arbeitsvermittlungsstellen, die ein ausschließliches Recht besitzen, dessen Beachtung durch ein mit strafrechtlichen und Verwaltungssanktionen, wie sie in den Gesetzen Nrn. 264 und 1369 vorgesehen sind, bewehrtes Verbot jeder Tätigkeit der Vermittlung und Einschaltung von Mittelspersonen bei Arbeitsverhältnissen gesichert wird, können durch die Anwendung von Artikel 86 des Vertrages nicht an der Erfuellung der ihnen übertragenen besonderen Aufgabe gehindert werden, wenn diese Stellen offenkundig nicht in der Lage sind, die insoweit auf dem Markt bestehende Nachfrage zu befriedigen.

28 Obgleich sich Artikel 86 an Unternehmen richtet und in den Grenzen des Artikels 90 Absatz 2 auf öffentliche Unternehmen oder Unternehmen mit ausschließlichen oder besonderen Rechten Anwendung findet, begründet der Vertrag doch auch für die Mitgliedstaaten die Verpflichtung, keine Maßnahmen zu treffen oder beizubehalten, die die praktische Wirksamkeit dieser Bestimmung zunichte machen könnten (vgl. Urteile vom 16. November 1977 in der Rechtssache 13/77, GB-Inno, Slg. 1977, 2115, Randnrn. 31 und 32, sowie Höfner und Elser, a. a. O., Randnr. 26). So sieht Artikel 90 Absatz 1 vor, daß die Mitgliedstaaten in bezug auf öffentliche Unternehmen und auf Unternehmen, denen sie besondere oder ausschließliche Rechte gewähren, keine dem Vertrag und insbesondere den Artikeln 85 bis 94 widersprechenden Maßnahmen treffen oder beibehalten.

29 Deshalb wäre eine Maßnahme eines Mitgliedstaats, durch die eine Gesetzesbestimmung beibehalten würde, die eine Lage schafft, in der eine staatliche Arbeitsvermittlungsstelle zwangsläufig gegen Artikel 86 verstossen muß, mit dem Vertrag unvereinbar.

30 Erstens kann ein mit einem gesetzlichen Monopol ausgestattetes Unternehmen als im Besitz einer beherrschenden Stellung im Sinne von Artikel 86 des Vertrages angesehen werden (vgl. Urteil vom 3. Oktober 1985 in der Rechtssache 311/84, CBEM, Slg. 1985, 3261, Randnr. 16); das Gebiet eines Mitgliedstaats, auf das sich dieses Monopol erstreckt, kann einen wesentlichen Teil des Gemeinsamen Marktes darstellen (vgl. Urteil vom 9. November 1983 in der Rechtssache 322/81, Michelin/Kommission, Slg. 1983, 3461, Randnr. 28).

31 Zweitens ist die Schaffung einer beherrschenden Stellung durch die Gewährung eines ausschließlichen Rechts im Sinne von Artikel 90 Absatz 1 als solche noch nicht mit Artikel 86 des Vertrages unvereinbar (vgl. Urteile CBEM, a. a. O., Randnr. 17, Höfner und Elser, a. a. O., Randnr. 29, vom 19. Mai 1993 in der Rechtssache C-320/91, Corbeau, Slg. 1993, I-2533, Randnr. 11, und vom 5. Oktober 1994 in der Rechtssache C-323/93, Centre d'insémination de la Crespelle, Slg. 1994, I-5077, Randnr. 18). Ein Mitgliedstaat verstösst nämlich gegen die Verbote dieser beiden Bestimmungen nur, wenn das betreffende Unternehmen durch die blosse Ausübung des ihm übertragenen ausschließlichen Rechts seine beherrschende Stellung mißbräuchlich ausnutzt (vgl. Urteil vom 14. Dezember 1995 in der Rechtssache C-387/93, Banchero, Slg. 1995, I-4663, Randnr. 51).

32 Nach Artikel 86 Absatz 2 Buchstabe b des Vertrages kann ein solcher Mißbrauch insbesondere in einer Beschränkung der Leistung zum Schaden derjenigen bestehen, die die betreffende Dienstleistung in Anspruch nehmen wollen.

33 Wie die Kommission zutreffend bemerkt hat, ist der Markt der mit der Vermittlung von Arbeitnehmern zusammenhängenden Dienstleistungen zum einen sehr groß und zum anderen überaus differenziert. Arbeitsgesuche und -angebote auf diesem Markt umfassen alle Produktionszweige und beziehen sich auf eine Beschäftigungspalette, die von ungelernten Arbeitskräften bis zu den höchsten und seltensten beruflichen Qualifikationen reicht.

34 Auf einem so ausgedehnten und differenzierten Markt, der überdies aufgrund der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung grossen Veränderungen unterliegt, kann es dazu kommen, daß die staatlichen Vermittlungsstellen einen bedeutenden Teil der Gesamtnachfrage nach Dienstleistungen nicht mehr befriedigen können.

35 Untersagt aber ein Mitgliedstaat unter Androhung von strafrechtlichen und Verwaltungssanktionen jede Tätigkeit der Vermittlung und Einschaltung von Mittelspersonen bei Stellengesuchen und -angeboten, wenn sie nicht durch staatliche Vermittlungsstellen erfolgt, so schafft er eine Lage, in der die Dienstleistung im Sinne von Artikel 86 Absatz 2 Buchstabe b des Vertrages eingeschränkt wird, wenn diese Stellen offenkundig nicht in der Lage sind, für alle Arten von Tätigkeiten die auf dem Arbeitsmarkt bestehende Nachfrage zu befriedigen.

36 Drittens liegt ein Verstoß eines Mitgliedstaats gegen die Artikel 86 und 90 Absatz 1 des Vertrages nur vor, wenn das mißbräuchliche Verhalten der betreffenden staatlichen Vermittlungsstelle zu einer Beeinträchtigung des Handels zwischen Mitgliedstaaten führen konnte. Diese Voraussetzung ist nicht erst dann erfuellt, wenn das betreffende mißbräuchliche Verhalten den Handel tatsächlich beeinträchtigt hat. Es genügt der Nachweis, daß dieses Verhalten hierzu geeignet ist (vgl. Urteil Michelin/Kommission, a. a. O., Randnr. 104).

37 Eine solche mögliche Auswirkung auf den zwischenstaatlichen Handel ist insbesondere gegeben, wenn sich die Arbeitsvermittlungstätigkeiten privater Unternehmen auf Angehörige oder das Gebiet anderer Mitgliedstaaten erstrecken können.

38 Nach alledem ist zu antworten, daß staatliche Arbeitsvermittlungsstellen dem Verbot des Artikels 86 des Vertrages unterliegen, soweit die Anwendung dieser Vorschrift nicht die Erfuellung der ihnen übertragenen besonderen Aufgabe verhindert. Ein Mitgliedstaat, der jede Tätigkeit der Vermittlung und Einschaltung von Mittelspersonen bei Stellengesuchen und -angeboten untersagt, wenn sie nicht durch diese Stellen erfolgt, verstösst gegen Artikel 90 Absatz 1 des Vertrages, wenn er eine Lage schafft, in der die staatlichen Vermittlungsstellen zwangsläufig gegen Artikel 86 des Vertrages verstossen müssen. Dies gilt insbesondere, wenn folgende Bedingungen erfuellt sind:

- Die staatlichen Vermittlungsstellen sind offenkundig nicht in der Lage, für alle Arten von Tätigkeiten die auf dem Arbeitsmarkt bestehende Nachfrage zu befriedigen;

- die tatsächliche Ausübung der Vermittlungstätigkeiten wird privaten Unternehmen durch die Beibehaltung von Gesetzesbestimmungen unmöglich gemacht, die diese Tätigkeiten bei strafrechtlichen oder Verwaltungssanktionen verbieten;

- die betreffenden Vermittlungstätigkeiten können sich auf Angehörige oder das Gebiet anderer Mitgliedstaaten erstrecken.

Zur Auslegung der Artikel 59 ff. des Vertrages

39 Da das Verbot jeder nicht durch staatliche Vermittlungsstellen erfolgenden Tätigkeit der Vermittlung und Einschaltung von Mittelspersonen bei Stellengesuchen und -angeboten, wie es in den Vorlagefragen beschrieben wird, unter den in Randnummer 38 des vorliegenden Urteils genannten Voraussetzungen gegen die Artikel 86 und 90 Absatz 1 des Vertrages verstösst, braucht über die Auslegung der Artikel 59 ff. des Vertrages nicht befunden zu werden.

Kostenentscheidung:

Kosten

40 Die Auslagen der italienischen, der deutschen und der norwegischen Regierung sowie der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

(Sechste Kammer)

auf die ihm mit Beschluß der Corte d'appello Mailand vom 30. Januar 1996 vorgelegten Fragen für Recht erkannt:

Staatliche Arbeitsvermittlungsstellen unterliegen dem Verbot des Artikels 86 EG-Vertrag, soweit die Anwendung dieser Vorschrift nicht die Erfuellung der ihnen übertragenen besonderen Aufgabe verhindert. Ein Mitgliedstaat, der jede Tätigkeit der Vermittlung und Einschaltung von Mittelspersonen bei Stellengesuchen und -angeboten untersagt, wenn sie nicht durch diese Stellen erfolgt, verstösst gegen Artikel 90 Absatz 1 EG-Vertrag, wenn er eine Lage schafft, in der die staatlichen Vermittlungsstellen zwangsläufig gegen Artikel 86 des Vertrages verstossen müssen. Dies gilt insbesondere, wenn folgende Bedingungen erfuellt sind:

- Die staatlichen Vermittlungsstellen sind offenkundig nicht in der Lage, für alle Arten von Tätigkeiten die auf dem Arbeitsmarkt bestehende Nachfrage zu befriedigen;

- die tatsächliche Ausübung der Vermittlungstätigkeiten wird privaten Unternehmen durch die Beibehaltung von Gesetzesbestimmungen unmöglich gemacht, die diese Tätigkeiten bei strafrechtlichen oder Verwaltungssanktionen verbieten;

- die betreffenden Vermittlungstätigkeiten können sich auf Angehörige oder das Gebiet anderer Mitgliedstaaten erstrecken.

Ende der Entscheidung

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