Judicialis Rechtsprechung

Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:

Zurück

Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Beschluss verkündet am 16.08.1989
Aktenzeichen: C-57/89 R
Rechtsgebiete: EWG-Vertrag, Richtlinie 79/409 vom 2. April 1979, Verfahrensordnung


Vorschriften:

EWG-Vertrag Art. 169
EWG-Vertrag Art. 186
Richtlinie 79/409 vom 2. April 1979 Art. 4
Verfahrensordnung Art. 83 § 2
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

BESCHLUSS DES PRAESIDENTEN DES GERICHTSHOFES VOM 16. AUGUST 1989. - KOMMISSION DER EUROPAEISCHEN GEMEINSCHAFTEN GEGEN BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND. - VERTRAGSVERLETZUNG - ERHALTUNG DER WILDLEBENDEN VOGELARTEN - BAUARBEITEN IN EINEM BESONDEREN SCHUTZGEBIET. - RECHTSSACHE C-57/89 R.

Entscheidungsgründe:

1 Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften hat mit Klageschrift, die am 28. Februar 1989 bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, gemäß Artikel 169 EWG-Vertrag Klage erhoben auf Feststellung, daß die Bundesrepublik Deutschland dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus dem EWG-Vertrag verstossen hat, daß sie entgegen Artikel 4 der Richtlinie 79/409 des Rates vom 2. April 1979 über die Erhaltung der wildlebenden Vogelarten ( ABl. L 103, S. 1; nachstehend die Richtlinie ) in besonderen Schutzgebieten bestimmte Baumaßnahmen beschlossen oder durchgeführt hat, die den Lebensraum geschützter Vögel beeinträchtigen.

2 Mit besonderem Schriftsatz, der am 14. Juli 1989 bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, hat die Kommission gemäß Artikel 186 EWG-Vertrag und Artikel 83 der Verfahrensordnung beantragt, der Bundesrepublik Deutschland im Wege der einstweiligen Anordnung aufzugeben, die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um bis zur Entscheidung des Gerichtshofes über die Klage die Deichbauarbeiten im Bereich der Leybucht einzustellen und insbesondere mit den Arbeiten im Bauabschnitt IV vorläufig nicht zu beginnen.

3 Die Leybucht liegt im ostfriesischen Wattenmeer nördlich von Emden; ihr Durchmesser beträgt rund fünf Kilometer. Sie ist seit langem eine Brut -, Nahrungs - und Raststätte verschiedener Vogelarten ( Brut - und Zugvögel ). Insbesondere für den Säbelschnäbler stellt sie ein bedeutendes Brutgebiet dar.

4 Die Leybucht wurde durch eine Verordnung des Landes Niedersachsen vom 21. Dezember 1985 über den Nationalpark "Niedersächsisches Wattenmeer" unter besonderen Schutz gestellt. Die Grenzen des Nationalparks ergeben sich aus den dieser Verordnung beigefügten Landkarten. In einer Mitteilung an die Kommission vom 6. September 1988 notifizierte die Bundesregierung gemäß Artikel 4 Absatz 3 der Richtlinie die Ausweisung der Leybucht als besonderes Schutzgebiet.

5 Die streitigen Bauarbeiten beruhen auf einem von der Bezirksregierung Weser-Ems als der zuständigen Regionalbehörde festgestellten Küstenschutzplan, der die Umgestaltung der Leybucht vorsieht. Dieser Plan wurde am 25. September 1985 nach Durchführung eines Planfeststellungsverfahrens beschlossen, in dessen Rahmen u. a. jeder Betroffene die Möglichkeit hatte, sich zu äussern und Einwendungen zu erheben. Der Plan sieht im westlichen Teil der Leybucht den Bau eines eingedeichten Beckens ( Sperrwerk und Speicherbecken ) mit Schleusen zum Meer und einem schiffbaren Kanal von dem kleinen Fischereihafen Greetsiel bis zu diesen Schleusen vor; im südöstlichen Teil sind die Verstärkung, Erhöhung und Verbreiterung des vorhandenen Deiches sowie der Bau eines Entwässerungskanals hinter dem neuen Deich vorgesehen; im nordöstlichen Bereich ist der Abschluß eines Teils der Bucht durch einen neuen Deich, verbunden mit einigen Schleusen - und Entwässerungsarbeiten, geplant. Mit der Durchführung des die Errichtung des Speicherbeckens betreffenden ersten Bauabschnitts wurde bereits Anfang 1986 begonnen.

6 Die Kommission macht geltend, die fraglichen Baumaßnahmen stuenden im Widerspruch zu Artikel 4 Absatz 4 der Richtlinie, da sie zu einer erheblichen Verkleinerung der ökologischen Nutzflächen und bei einigen der in Anhang I der Richtlinie aufgeführten Vogelarten, insbesondere dem Säbelschnäbler, der Bläßgans und zwei Seeschwalbenarten, zu einem Rückgang der Bestände führten. Die Baumaßnahmen hätten daher erhebliche Auswirkungen im Sinne des Artikels 4 Absatz 4 auf den Schutz der Vögel.

7 Die Kommission trägt vor, wie sich aus der Systematik der Richtlinie und insbesondere aus der Abstufung der Schutzpflichten allgemeiner ( Artikel 3 Absatz 1 ) und besonderer Art ( Artikel 4 Absatz 1 ) ergebe, seien die Mitgliedstaaten gehalten, in den von ihnen selbst als besonderes Schutzgebiet ausgewiesenen Gebieten spezielle Pflichten zu einem aktiven Schutz der besonders gefährdeten Vogelarten nach Anhang I der Richtlinie zu erfuellen. Aktive Eingriffe in diese Schutzgebiete, die durch wirtschaftliche oder den Fremdenverkehr betreffende Interessen motiviert seien und Beeinträchtigungen des Lebensraums der Vögel mit sich bringen könnten, hätten gemäß Artikel 4 Absatz 4 Satz 1 der Richtlinie zu unterbleiben.

8 Die Bundesregierung macht geltend, die vorgesehenen Maßnahmen dienten der Deichsicherung; es gebe keine Fremdenverkehrs - oder sonstigen wirtschaftlichen Projekte im Bereich der Leybucht. Bei den sehr schweren Unwettern 1953, 1962 und 1976 habe sich gezeigt, daß die Stärke und Höhe der vorhandenen Deiche für den Schutz des Binnenlandes und seiner Bewohner nicht mehr ausreichten. Da die Höhe der Sturmfluten in den letzten Jahrzehnten beträchtlich gestiegen sei, müssten die Deiche dringend erhöht und verstärkt werden, um die Bevölkerung auch gegen schwerste Sturmfluten schützen zu können. Es sei zwar unbestritten, daß das Deichbauvorhaben Beeinträchtigungen für die Vogelwelt zur Folge haben könne. Mit dem Abschluß der Bauarbeiten entfalle jedoch das regelmässige Ausbaggern der Schiffahrtswege, was sich wiederum ökologisch günstig auswirke.

9 Die Bundesregierung hält die von der Kommission vorgenommene Auslegung von Artikel 4 der Richtlinie für falsch. Für den Küstenschutz erforderliche Maßnahmen hätten auch in Schutzgebieten im Sinne von Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie Vorrang vor dem Vogelschutz. Eine Auslegung, die Eingriffe nur insoweit zulasse, als sie dem Schutz des Lebensraums der Vögel dienten, sei nicht nur mit Wortlaut und Zweck der Richtlinie, sondern auch mit übergeordneten Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts unvereinbar. Der Vogelschutz könne nämlich nie dem Schutz des menschlichen Lebens vorgehen.

10 Die Parteien haben am 9. August 1989 mündlich verhandelt. In dieser Verhandlung hat die Kommission erklärt, da die Errichtung des Deiches inzwischen bis Kilometer 10,7 fortgeschritten sei, beschränke sie ihren Antrag auf Einstellung der Bauarbeiten in der Leybucht auf den südöstlichen und den nordöstlichen Abschnitt, d. h. die östlich von Kilometer 10,7 des neuen Deiches gelegenen Bauabschnitte, bei denen der Baubeginn für 1990 geplant sei.

11 Die Kommission trägt vor, die Dringlichkeit einstweiliger Anordnungen müsse sich nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes aus der Gefahr schwerer und irreparabler Schäden im Falle des Abwartens der Entscheidung in der Hauptsache ergeben. Im vorliegenden Fall sei zu befürchten, daß bei einem raschen Baufortschritt, insbesondere bei Durchführung des Bauabschnitts IV, Lebensraum für unter besonderen Schutz gestellte Vogelarten verlorengehe und die Vögel durch die mit den Arbeiten unmittelbar verbundenen Belästigungen systematisch aus dem Schutzgebiet vertrieben würden. Allein die Durchführung des Bauabschnitts IV würde fast 10 % der in der Leybucht ansässigen Brutpaare treffen. Ein späteres Urteil des Gerichtshofes, aus dem sich ergäbe, daß die Antragsgegnerin die fraglichen Maßnahmen nicht hätte ergreifen dürfen, könnte die Störungen und die dadurch bewirkten Schäden nicht rückgängig machen.

12 Der einzige Nachteil bei einer vorläufigen Einstellung der Bauarbeiten bestehe in einer Verzögerung der Vollendung des Vorhabens; wesentliche finanzielle Auswirkungen seien nicht zu erwarten. Selbst für den Fall, daß der Gerichtshof eine einstweilige Anordnung erlassen, die Klage der Kommission jedoch abweisen sollte, bestuende der Schaden für die Antragsgegnerin lediglich darin, daß das Vorhaben erst rund 18 Monate später vollendet würde als geplant.

13 Die Bundesregierung bestreitet die Dringlichkeit der beantragten Anordnung. Der Gesamtkomplex des Deichbauvorhabens sei gegenwärtig zu fast zwei Dritteln durchgeführt. Bei dem Deichabschnitt bis Kilometer 10,7 seien die Bauarbeiten im wesentlichen abgeschlossen. Was den nächsten Bauabschnitt, die Deichstrecke zwischen Kilometer 10,7 und Kilometer 13, betreffe, so solle mit der Ausführung Anfang 1990 begonnen werden. Die erforderliche Erhöhung und Verstärkung des Deiches hätte zur Folge, daß die Deichsohle sich seewärts rund 40 bis 50 m vorschiebe. Eine binnenwärtige Verbreiterung des Deiches sei nicht möglich, da der vorhandene Platz durch eine hinter dem Deich liegende Landstrasse begrenzt werde und der Entwässerungskanal aus entwässerungstechnischen Gründen zwischen Landstrasse und Deich verlaufen müsse. Mit der Durchführung der Bauarbeiten in dem Deichabschnitt zwischen Kilometer 13 und Kilometer 15 werde nicht vor Anfang 1991 begonnen. In diesem Abschnitt weiche die Deichlinie rund 2 000 m von der bisherigen Linie zugunsten einer Ausrundung ab.

14 Die Bundesregierung räumt ein, daß es rein technisch nicht unmöglich wäre, die Arbeiten bei Kilometer 10,7 zu unterbrechen; dies würde freilich eine Reihe ziemlich kostspieliger vorläufiger Sicherungsmaßnahmen erforderlich machen. Der mit einer solchen Lösung verbundene Schaden bestuende jedoch nicht nur aus den finanziellen Folgen der Einstellung der Bauarbeiten und des Eingriffs in die Abwicklung der mit den Baufirmen geschlossenen Verträge, sondern auch in einer Verzögerung bei der Vollendung des Küstenschutzes, die im Falle einer Sturmflut Menschenleben kosten könnte.

15 Gemäß Artikel 186 EWG-Vertrag kann der Gerichtshof in den bei ihm anhängigen Sachen die erforderlichen einstweiligen Anordnungen treffen. Der Erlaß einer solchen Anordnung setzt nach Artikel 83 § 2 der Verfahrensordnung voraus, daß in den dahin gehenden Anträgen die Umstände angeführt werden, aus denen sich die Dringlichkeit ergibt, und die Notwendigkeit der beantragten Anordnung in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht glaubhaft gemacht wird.

16 Das mit dem vorliegenden Antrag im Verfahren der einstweiligen Anordnung aufgeworfene Hauptproblem ist die Frage der Dringlichkeit. Der Plan zur Umgestaltung der Leybucht wurde im September 1985 festgestellt. Die Bauarbeiten begannen 1986; der Bau des Speicherbeckens im westlichen Teil der Leybucht, das sich einige Kilometer weit ins Meer erstreckt, ist zur Zeit fast fertiggestellt. Bereits im September 1984 wiesen deutsche Natur - und Umweltschutzverbände die Kommission auf die drohende Gefahr für die Vogelbestände der Region hin. Erst im August 1987, also rund zwei Jahre nach der Feststellung des streitigen Plans, leitete die Kommission durch ein förmliches Aufforderungsschreiben das Verfahren gemäß Artikel 169 EWG-Vertrag ein; die mit Gründen versehene Stellungnahme wurde im Juli 1988 abgegeben. Der Antrag auf einstweilige Anordnung wurde im Juli 1989 gestellt, obwohl die Klage bereits am 28. Februar 1989 eingereicht worden war.

17 Aus dieser Chronologie der Ereignisse geht hervor, daß die Kommission ihre Klage erhoben hat, nachdem mit der Durchführung des streitigen Plans der Bezirksregierung durch den Abschluß der erforderlichen Verträge und die Aufnahme der Bauarbeiten begonnen worden war. Sie hat ihren Antrag auf einstweilige Anordnung erst zu einem Zeitpunkt gestellt, als ein bedeutender Teil der Bauarbeiten bereits abgeschlossen war. Die Kommission ersucht den Gerichtshof praktisch, die Bauarbeiten auf halbem Wege zu stoppen.

18 Unter diesen Umständen kann dem Antrag auf einstweilige Anordnung nur stattgegeben werden, wenn gerade durch die nächste Etappe der Bauarbeiten - also diejenige, die 1990 verwirklicht werden soll - der Schutz der Vögel in der Leybucht wesentlich beeinträchtigt werden sollte. Es hat sich jedoch weder aus den Akten noch aus der Verhandlung vor dem Gerichtshof ergeben, daß dies der Fall wäre. In diesem Zusammenhang sind dreierlei Erwägungen ausschlaggebend.

19 Zunächst ist darauf hinzuweisen, daß die für 1990 vorgesehenen Bauarbeiten die Erhöhung, Verbreiterung und Verstärkung eines vorhandenen Seedeiches betreffen. Sie haben im Gegensatz zu den bereits abgeschlossenen und den für 1991 vorgesehenen Arbeiten nicht die Verkleinerung der Fläche der Bucht zum Ziel, sondern sind lediglich darauf gerichtet, die Deichsohle seewärts 40 bis 50 m vorzuschieben. Aus den Angaben der Bundesregierung zu den Brutstätten der Säbelschnäbler - der einzigen Vogelart, zu der vor dem Gerichtshof Angaben gemacht wurden - geht hervor, daß die Entfernung zwischen diesen Stätten und den für 1990 vorgesehenen Bauarbeiten nicht geringer ist als die Entfernung zwischen diesen Stätten und den anderen in dem Plan von 1985 vorgesehenen Bauarbeiten.

20 Sodann ist zu bemerken, daß ausweislich der amtlichen Statistiken des Landes Niedersachsen die Zahl der in der Leybucht brütenden Säbelschnäbler seit 1984 ständig zurückgeht - mit einer leichten Tendenz zur Stabilisierung ab 1987 -, wobei der bedeutendste Rückgang vor Beginn der streitigen Bauarbeiten zu verzeichnen war. Nichts deutet also darauf hin, daß der Säbelschnäbler gerade durch die Aufnahme der Arbeiten im Bauabschnitt IV aus seinen traditionellen Brutstätten in der Leybucht verjagt würde.

21 Schließlich war die Kommission nicht in der Lage, die in ihrer Klageschrift geäusserten Befürchtungen hinsichtlich der kurzfristigen Entwicklung eines Massentourismus, der die Vögel stören könnte, zu belegen. Zum einen steht fest, daß der Plan von 1985 das spezifische Ziel verfolgt, die Wassersportmöglichkeiten in der Leybucht erheblich zu reduzieren. Zum anderen hat die Kommission in bezug auf das Festland lediglich auf Gerüchte, die im übrigen von der Bundesregierung für unbegründet erklärt wurden, hingewiesen, wonach grosse Autoparkplätze in der Umgebung von Greetsiel angelegt werden sollten.

22 Der Gerichtshof kann somit aus dem ihm vorliegenden Tatsachenmaterial nicht die Folgerung ziehen, daß gerade die für 1990 vorgesehenen Bauarbeiten gegenüber den übrigen in dem Plan von 1985 vorgesehenen Baumaßnahmen, insbesondere gegenüber den im westlichen Teil der Leybucht bereits durchgeführten Arbeiten, dadurch gekennzeichnet wären, daß sie erhebliche Auswirkungen auf die Erhaltung der nach Anhang I der Richtlinie geschützten Vögel hätten. Es ist der Kommission daher nicht gelungen, die Dringlichkeit einer Unterbrechung der bereits begonnenen Bauarbeiten darzutun.

23 Der Antrag auf einstweilige Anordnung ist folglich zurückzuweisen.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

der Kammerpräsident T. Koopmans

in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten des Gerichtshofes nach den Artikeln 85 Absatz 2 und 11 der Verfahrensordnung

im Verfahren der einstweiligen Anordnung

beschlossen :

1 ) Der Antrag auf einstweilige Anordnung wird zurückgewiesen.

2 ) Die Kostenentscheidung bleibt vorbehalten.

Luxemburg, den 16. August 1989.

Ende der Entscheidung

Zurück