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Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 10.11.1993
Aktenzeichen: C-60/92
Rechtsgebiete: EWGV


Vorschriften:

EWGV Art. 177
EWGV Art. 5
EWGV Art. 85
EWGV Art. 86
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

1. Ein nationales Gericht ist gemeinschaftsrechtlich nicht gehalten, bei der Prüfung eines Antrags auf Anordnung einer vorgezogenen Zeugenvernehmung im Vorgriff auf einen Zivilprozeß den Grundsatz anzuwenden, daß ein Unternehmen nicht zur Beantwortung von Fragen verpflichtet ist, wenn ihre Beantwortung das Eingeständnis einer Zuwiderhandlung gegen Wettbewerbsvorschriften umfasst.

Für die Anwendung der Artikel 85 und 86 EWG-Vertrag durch die nationalen Behörden gelten nämlich grundsätzlich die nationalen Verfahrensvorschriften. Vorbehaltlich der Einhaltung des Gemeinschaftsrechts und insbesondere seiner fundamentalen Grundsätze bestimmen sich die für die Gewährleistung der Verteidigungsrechte des Betroffenen geeigneten Verfahrensmodalitäten nach nationalem Recht und können von denen abweichen, die in gemeinschaftsrechtlichen Verfahren gelten. Zwar schreibt das Gemeinschaftsrecht vor, daß einer Partei das Recht zuzuerkennen ist, im Rahmen eines von der Kommission nach der Verordnung Nr. 17 eingeleiteten Verfahrens Antworten zu verweigern, durch die sie das Vorliegen einer Zuwiderhandlung gegen Wettbewerbsregeln eingestehen müsste, jedoch handelt es sich um eine Garantie, die hauptsächlich dazu dient, den einzelnen vor Ermittlungsmaßnahmen zu schützen, die von einer staatlichen Behörde angeordnet werden, um ihn zu zwingen, Verhaltensweisen einzugestehen, für die ihm von dieser Behörde verhängte Sanktionen drohen. Sie ist nicht auf ein die Anwendung der Artikel 85 und 86 EWG-Vertrag betreffendes innerstaatliches Zivilverfahren übertragbar, bei dem es allein um privatrechtliche Beziehungen zwischen einzelnen geht und das weder unmittelbar noch mittelbar zur Verhängung einer Sanktion durch eine staatliche Behörde führen kann.

2. Informationen, die die Kommission nicht in Ausübung ihrer Befugnisse nach der Verordnung Nr. 17 hätte erhalten können, die ihr aber zur Kenntnis gebracht worden sind, nachdem sie im Rahmen eines die Anwendung der Artikel 85 und 86 des Vertrages betreffenden innerstaatlichen Verfahrens erlangt wurden, darf weder die Kommission ° noch im übrigen eine staatliche Stelle ° als Beweis für einen Verstoß gegen die Wettbewerbsregeln im Rahmen eines Verfahrens, das zu Sanktionen führen kann, oder als Indiz, das die Einleitung einer einem solchen Verfahren vorausgehenden Untersuchung rechtfertigen könnte, verwerten.


URTEIL DES GERICHTSHOFES VOM 10. NOVEMBER 1993. - OTTO BV GEGEN POSTBANK NV. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: ARRONDISSEMENTSRECHTBANK AMSTERDAM - NIEDERLANDE. - WETTBEWERB - GEWAEHRUNG RECHTLICHEN GEHOERS - DIE ANWENDUNG DER ARTIKEL 85 UND 86 EWG-VERTRAG BETREFFENDES NATIONALES VERFAHREN. - RECHTSSACHE C-60/92.

Entscheidungsgründe:

1 Die Arrondissementsrechtbank Amsterdam hat mit Beschluß vom 11. Februar 1992, beim Gerichtshof eingegangen am 28. Februar 1992, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag eine Frage nach der Auslegung des Artikels 5 EWG-Vertrag und der allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts für Verfahren, die die Anwendung der Artikel 85 und 86 EWG-Vertrag betreffen, zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Fragen stellen sich in einem Rechtsstreit zwischen der Otto BV und der Postbank NV über bestimmte Verhaltensweisen, die angeblich den Artikeln 85 und 86 EWG-Vertrag zuwiderlaufen.

3 Die Otto BV ist ein Versandhandelsunternehmen. Etwa die Hälfte der Zahlungen ihrer Kunden erfolgt von Konten dieser Kunden bei der Postbank auf Konten, die die Otto BV ebenfalls bei dieser unterhält. Für diese Zahlungen werden Überweisungsvordrucke, sogenannte "acceptgiros", benutzt. Die Zahl der so von der Postbank bearbeiteten Überweisungsvordrucke beträgt eine Million pro Jahr.

4 Nachdem sie von der Postbank über deren Absicht unterrichtet worden war, ihr vom 1. Juli 1991 an für jeden bearbeiteten Überweisungsvordruck 0,45 HFL zu berechnen, beantragte die Otto BV beim Präsidenten der Arrondissementsrechtbank Amsterdam, der Postbank diese Berechnung zu verbieten. Die dem Antrag der Otto BV entsprechende einstweilige Anordnung vom 1. August 1991 wurde durch Urteil des Gerechtshof Amsterdam vom 28. November 1991 aufgehoben.

5 Die Otto BV stellte daraufhin bei der Arrondissementsrechtbank Amsterdam im Vorgriff auf eine Klage, die sie möglicherweise bei diesem Gericht gegen die Postbank wegen eines gegen die Artikel 85 und 86 EWG-Vertrag verstossenden Verhaltens erheben würde, einen Antrag auf vorgezogene Zeugenvernehmung zum Zweck des Beweises bestimmter Tatsachen. Zu diesem Zweck benannte die Otto BV leitende Personen der Postbank als Zeugen.

6 Der Antrag auf vorgezogene Zeugenvernehmung wird auf die Artikel 190 und 214 Absatz 1 des Wetbök van Burgerlijke Rechtsvordering (niederländische ZPO) in ihrer vom 1. April 1988 an geltenden Fassung gestützt. Wie aus dem Vorlagebeschluß hervorgeht, hat der niederländische Gesetzgeber den überkommenen Grundsatz, daß eine Partei nicht als Zeuge in eigener Sache gehört werden durfte, aufgegeben. Seit der Reform von 1988 ist ein Parteizeuge vorbehaltlich eines Verweigerungsrechts insbesondere für den Fall, daß er durch seine Aussage sich oder einen Verwandten der Gefahr einer Strafverfolgung aussetzen würde, grundsätzlich zur Aussage verpflichtet. Die Stellung des Parteizeugen unterscheidet sich von der des gewöhnlichen Zeugen nur dadurch, daß er nicht durch das Zwangsmittel der Ordnungshaft zur Aussage gezwungen werden darf. Das Gericht kann jedoch aus dem Schweigen des Parteizeugen Schlüsse zu seinem Nachteil ziehen. Es kann den Parteizeugen auch nach den Gründen seines Schweigens fragen.

7 Mit der von der Otto BV beantragten Zeugenvernehmung soll folgendes bewiesen werden:

° Dem Satz von 0,45 HFL liegt keine (betriebswirtschaftliche) Berechnung zugrunde, aufgrund deren es der Postbank möglich gewesen wäre, die Kosten zu ermitteln, die die Bearbeitung von Überweisungsvordrucken für sie mit sich bringt.

° Der von der Postbank verlangte Satz ist aufgrund einer Vereinbarung zwischen den Banken eingeführt worden, wonach die Banken sich darauf geeinigt haben, einander für die Bearbeitung ihrer Überweisungsvordrucke 0,30 HFL zu berechnen.

° Die Postbank hat sich über den einzuführenden Satz für die Bearbeitung von Überweisungsvordrucken mit anderen Banken beraten, oder aber es besteht eine stillschweigende Übereinstimmung, daß dieser Satz auf 0,30 HFL zuzueglich einer kleinen Marge festgesetzt wird.

8 Die Postbank machte zu ihrer Verteidigung geltend, daß die niederländischen Beweisvorschriften gegen einen allgemeinen Grundsatz des Gemeinschaftsrechts verstießen, soweit sie durch sie verpflichtet werde, die von der Otto BV verlangten Angaben zu machen. Daher hat die Arrondissementsrechtbank Amsterdam das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Hat das nationale Gericht gemäß Artikel 5 EWG-Vertrag bei der Prüfung eines Antrags auf Anordnung einer vorgezogenen Zeugenvernehmung im Vorgriff auf einen Zivilprozeß den Grundsatz anzuwenden, daß ein Unternehmen nicht zur Beantwortung von Fragen verpflichtet ist, wenn ihre Beantwortung das Eingeständnis eines Verstosses gegen Wettbewerbsvorschriften umfasst?

9 Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts des Ausgangsverfahrens, des Verfahrensablaufs und der vor dem Gerichtshof abgegebenen schriftlichen Erklärungen wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt wird im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.

10 Vorab ist an die Rechtsprechung des Gerichtshofes zu dem Grundsatz zu erinnern, auf dessen Tragweite sich die Frage des vorlegenden Gerichts bezieht.

11 Der Gerichtshof hat in seinem Urteil vom 18. Oktober 1989 in der Rechtssache 374/87 (Orkem/Kommission, Slg. 1989, 3283) bereits entschieden, daß weder die vergleichende Untersuchung der nationalen Rechtsordnungen noch Artikel 6 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950, noch Artikel 14 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte vom 19. Dezember 1966 (UN Treaty Series, Bd. 999, S. 171) den Schluß rechtfertigen, daß ein allgemeiner Grundsatz des Gemeinschaftsrechts bestehe, durch den zugunsten juristischer Personen in bezug auf Zuwiderhandlungen wirtschaftlicher Art, insbesondere auf dem Gebiet des Wettbewerbsrechts, ein Recht zur Verweigerung der Zeugenaussage gegen sich selbst anerkannt würde.

12 Der Gerichtshof hat jedoch in diesem Urteil ausgeführt, daß die Wahrung der Rechte der Verteidigung als fundamentaler Grundsatz des Gemeinschaftsrechts es der Kommission verbietet, einem Unternehmen durch ein Auskunftsverlangen nach Artikel 11 Absatz 5 der Verordnung Nr. 17 des Rates vom 6. Februar 1962, Erste Durchführungsverordnung zu den Artikeln 85 und 86 des Vertrages (ABl. 1962, 13, S. 204), die Verpflichtung aufzuerlegen, Antworten zu erteilen, durch die es das Vorliegen einer Zuwiderhandlung eingestehen müsste, für die die Kommission den Beweis zu erbringen hat.

13 Die Frage des vorlegenden Gerichts geht also dahin, ob für die Verpflichtung eines Unternehmens zur Beantwortung von Fragen im Rahmen eines innerstaatlichen Zivilprozesses, das die Anwendung der Artikel 85 und 86 EWG-Vertrag betrifft, kraft Gemeinschaftsrecht aus dem Grundsatz der Wahrung der Rechte der Verteidigung dieselbe Einschränkung gilt.

14 Insoweit ist zunächst darauf hinzuweisen, daß für die Anwendung der Artikel 85 und 86 EWG-Vertrag durch die nationalen Behörden grundsätzlich die nationalen Verfahrensvorschriften gelten. Vorbehaltlich der Einhaltung des Gemeinschaftsrechts und insbesondere seiner fundamentalen Grundsätze bestimmen sich die für die Gewährleistung der Verteidigungsrechte der Betroffenen geeigneten Verfahrensmodalitäten nach nationalem Recht. Diese Garantien können von denen abweichen, die in gemeinschaftsrechtlichen Verfahren gelten.

15 Sodann ist darauf hinzuweisen, daß für die Wahrung der Verteidigungsrechte eines einzelnen im Rahmen eines Verwaltungsverfahrens, wie es Gegenstand des Urteils Orkem war, andere Garantien erforderlich sind als für die Wahrung der Verteidigungsrechte einer Partei im Rahmen eines Zivilprozesses.

16 Handelt es sich wie im Ausgangsrechtsstreit um ein Verfahren, das ausschließlich privatrechtliche Beziehungen zwischen einzelnen betrifft und das weder unmittelbar noch mittelbar zur Verhängung einer Sanktion durch eine staatliche Behörde führen kann, so zwingt das Gemeinschaftsrecht nicht dazu, einer Partei das Recht zur Verweigerung von Antworten zuzuerkennen, durch die es das Vorliegen einer Zuwiderhandlung gegen Wettbewerbsvorschriften eingestehen müsste. Diese Garantie dient nämlich hauptsächlich dazu, den einzelnen vor Ermittlungsmaßnahmen zu schützen, die von hoher Hand angeordnet werden, um ihn zu zwingen, Verhaltensweisen einzugestehen, für die ihm straf- oder verwaltungsrechtliche Sanktionen drohen.

17 Für die Verpflichtung eines Unternehmens zur Beantwortung von Fragen folgt aus den vorstehenden Erwägungen, daß die Beschränkung der Ermittlungsbefugnis der Kommission nach der Verordnung Nr. 17, die der Gerichtshof in seinem Urteil vom 18. Oktober 1991 (Orkem/Kommission, a. a. O.) aus dem Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte abgeleitet hat, nicht auf ein die Anwendung der Artikel 85 und 86 betreffendes innerstaatliches Zivilverfahren übertragbar ist, bei dem es allein um privatrechtliche Beziehungen zwischen einzelnen geht, wenn ein solches Verfahren weder unmittelbar noch mittelbar zur Verhängung einer Sanktion durch eine staatliche Behörde führen kann.

18 Die Postbank trägt jedoch vor, wenn die Beschränkung der Ermittlungsbefugnis der Kommission nach der Verordnung Nr. 17 im nationalen Verfahren nicht angewendet würde, verlöre sie jede praktische Wirksamkeit, da die Kommission dann Auskünfte, die sie nicht unmittelbar im Rahmen des Verfahrens nach der Verordnung Nr. 17 erhalten könne, durch das nationale Verfahren erlangen könnte.

19 Dieses Argument greift nicht durch.

20 Zwar können im Rahmen eines solchen nationalen Verfahrens erlangte Informationen der Kommission insbesondere durch einen Verfahrensbeteiligten zur Kenntnis gebracht werden. Aus dem Urteil Orkem ergibt sich jedoch, daß die Kommission ° wie übrigens auch staatliche Behörden ° diese Informationen nicht als Beweis für einen Verstoß gegen die Wettbewerbsvorschriften im Rahmen eines Verfahrens, das zu Sanktionen führen kann, oder als Indiz, das die Einleitung einer einem solchen Verfahren vorausgehenden Untersuchung rechtfertigen könnte, verwerten darf.

21 Nach alledem ist dem vorlegenden Gericht zu antworten, daß ein nationales Gericht gemeinschaftsrechtlich nicht gehalten ist, bei der Prüfung eines Antrags auf Anordnung einer vorgezogenen Zeugenvernehmung im Vorgriff auf einen Zivilprozeß den Grundsatz anzuwenden, daß ein Unternehmen nicht zur Beantwortung von Fragen verpflichtet ist, wenn ihre Beantwortung das Eingeständnis eines Verstosses gegen Wettbewerbsvorschriften beinhaltet.

Kostenentscheidung:

Kosten

22 Die Auslagen der italienischen und der französischen Regierung, der Regierung des Vereinigten Königreichs und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

auf die ihm von der Arrondissementsrechtbank Amsterdam mit Beschluß vom 11. Februar 1992 vorgelegte Frage für Recht erkannt:

Ein nationales Gericht ist gemeinschaftsrechtlich nicht gehalten, bei der Prüfung eines Antrags auf Anordnung einer vorgezogenen Zeugenvernehmung im Vorgriff auf einen Zivilprozeß den Grundsatz anzuwenden, daß ein Unternehmen nicht zur Beantwortung von Fragen verpflichtet ist, wenn ihre Beantwortung das Eingeständnis einer Zuwiderhandlung gegen Wettbewerbsvorschriften beinhaltet.

Ende der Entscheidung

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