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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 03.10.1990
Aktenzeichen: C-61/89
Rechtsgebiete: EWGV


Vorschriften:

EWGV Art. 52
EWGV Art. 177
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

1. Artikel 52 EWG-Vertrag kann nicht dahin ausgelegt werden, daß die Staatsangehörigen eines bestimmten Mitgliedstaats von der Anwendung des Gemeinschaftsrechts ausgeschlossen wären, wenn sie sich aufgrund der Tatsache, daß sie rechtmässig im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats ansässig waren und dort eine nach dem Gemeinschaftsrecht anerkannte berufliche Qualifikation erworben haben, gegenüber ihrem Herkunftsmitgliedstaat in einer Lage befinden, die mit derjenigen aller anderen Personen, die in den Genuß der durch den Vertrag garantierten Rechte und Freiheiten kommen, vergleichbar ist.

Es darf jedoch nicht verkannt werden, daß ein Mitgliedstaat ein berechtigtes Interesse daran haben kann, zu verhindern, daß sich einige seiner Staatsangehörigen unter Mißbrauch der durch den Vertrag geschaffenen Erleichterungen der Anwendung ihrer nationalen Berufsausbildungsvorschriften entziehen. Dies wäre insbesondere dann der Fall, wenn ein Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats unter Vorlage eines Diploms, das er in einem anderen Mitgliedstaat erworben hat und dessen Bedeutung und Wert gemeinschaftsrechtlich nicht anerkannt sind, seinen Herkunftsmitgliedstaat dazu verpflichten könnte, ihm die Ausübung der Tätigkeiten, auf die sich dieses Diplom bezieht, in seinem Hoheitsgebiet zu erlauben, sofern der Zugang zu diesen Tätigkeiten dort den Inhabern einer höheren Qualifikation vorbehalten ist, die die gegenseitige Anerkennung auf Gemeinschaftsebene genießt, und dieser Vorbehalt nicht als willkürlich erscheint.

2. Solange es in bezug auf die Tätigkeiten, deren Ausübung ausschließlich Ärzten vorbehalten ist, an einer Harmonisierung auf Gemeinschaftsebene fehlt, steht Artikel 52 EWG-Vertrag dem nicht entgegen, daß ein Mitgliedstaat eine arztähnliche Tätigkeit wie etwa die Osteopathie den Inhabern eines Diploms eines Doktors der Medizin vorbehält.


URTEIL DES GERICHTSHOFES (ERSTE KAMMER) VOM 3. OKTOBER 1990. - STRAFVERFAHREN GEGEN MARC GASTON BOUCHOUCHA. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: COUR D'APPEL D'AIX-EN-PROVENCE - FRANKREICH. - NIEDERLASSUNGSFREIHEIT: AUSUEBUNG VON ARZTAEHNLICHEN BERUFEN (OSTEOPATHIE). - RECHTSSACHE C-61/89.

Entscheidungsgründe:

1 Die Cour d' appel Aix-en-Provence hat mit Urteil vom 23. Januar 1989, bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen am 1. März 1989, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag eine Frage nach der Auslegung der Artikel 52 ff. EWG-Vertrag zur Vorabentscheidung vorgelegt, um beurteilen zu können, ob ein französisches Gesetz, das die unbefugte Ausübung des Arztberufs verbietet, mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar ist.

2 Diese Frage stellt sich im Rahmen eines Strafverfahrens gegen Marc Gaston Bouchoucha. Dieser ist französischer Staatsangehöriger und Inhaber eines Diploms des französischen Staates als Masseur-Krankengymnast und eines Diploms für Osteopathie, das ihm am 1. Oktober 1979 von der Europäischen Schule für Osteopathie in Maidstone ( Großbritannien ) ausgestellt worden ist. Er besitzt ausserdem das Diplom und den Titel eines "Doctor of Naturopathy" des London College of Applied Science. Er ist jedoch nicht Inhaber eines Diploms, Zeugnisses oder sonstigen Befähigungsnachweises, aufgrund dessen er gemäß Artikel L 356-2 des französischen Code de la santé publique den Arztberuf ausüben dürfte.

3 Aufgrund einer auf Antrag der Staatsanwaltschaft verfügten Ladung vom 24. November 1987 wurde gegen Herrn Bouchoucha vor dem Tribunal correctionnel Nizza ein Strafverfahren unter der Anklage durchgeführt, er habe seit April 1981 in Nizza dadurch unbefugt eine ärztliche Tätigkeit ausgeuebt, daß er die Osteopathie praktiziert habe, ohne Inhaber eines Arztdiploms zu sein. Nach einer Verordnung des Gesundheitsministers vom 6. Januar 1962 ( Journal officiel de la République française vom 1. 2. 1962, S. 1111 ) gelten als berufsmässige Tätigkeiten, für deren Ausübung eine Zulassung als Arzt vorgeschrieben ist, "die Mobilisation von Gelenken durch Kraftanwendung und die Reposition von Knochenverlagerungen sowie chiropraktische Eingriffe zur Einrenkung von Wirbeln und allgemein sogenannte osteopathische Behandlungen ".

4 Durch Urteil vom 29. April 1988 befand das Tribunal correctionnel Herrn Bouchoucha des Vergehens der unbefugten Ausübung des Arztberufes für schuldig, verhängte gegen ihn eine Geldstrafe auf Bewährung und verurteilte ihn zur Zahlung eines symbolischen Schadensersatzes von 1 Franken an jeden der drei Nebenkläger, das Syndicat national des médecins ostéothérapeutes français ( im folgenden : SNMOF ), das Syndicat national des médecins spécialisés en rééducation et réadaptation fonctionnelle ( im folgenden : SNMSRRF ) und den Conseil départemental de l' ordre des médecins des Alpes-Maritimes. Zwei Nebenkläger, nämlich das SNMOF und das SNMSRRF, sowie die Staatsanwaltschaft legten gegen dieses Urteil bei der Cour d' appel Aix-en-Provence Berufung ein.

5 Die beiden Nebenkläger, die Berufung eingelegt hatten, und die Staatsanwaltschaft beantragten die Bestätigung des Schuldspruchs; die Nebenkläger begehrten darüber hinaus den Ausgleich ihres Schadens sowie die Veröffentlichung des Urteils in zwei örtlichen Zeitungen. Herr Bouchoucha hielt dem entgegen, sein von der Europäischen Schule für Osteopathie ausgestelltes Diplom für Osteopathie ermächtige ihn dazu, diese Tätigkeit in Großbritannien auszuüben, und es stehe im Widerspruch zu den Artikeln 52 ff. EWG-Vertrag über die Niederlassungsfreiheit, wenn ihm die Ausübung dieser Tätigkeit in Frankreich mit der Begründung verboten werde, daß er nicht Doktor der Medizin sei.

6 Die Cour d' appel Aix-en-Provence hat daraufhin das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt :

"Ist es mit dem EWG-Vertrag, insbesondere mit den Artikeln 52 ff. über die Niederlassungsfreiheit, vereinbar, wenn einem französischen Staatsangehörigen, der Inhaber eines staatlichen Diploms als Masseur-Krankengymnast ist und ein am 1. Oktober 1979 von der Europäischen Schule für Osteopathie in Maidstone ( Großbritannien ) ausgestelltes Diplom für Osteopathie besitzt, die Ausübung der Osteopathie in Frankreich mit der Begründung verboten wird, daß er nicht das dafür durch die Ministerialverordnung vom 6. Januar 1962 vorgeschriebene Diplom eines Doktors der Medizin besitzt?"

7 Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts des Ausgangsverfahrens, der einschlägigen gemeinschaftlichen und nationalen Rechtsvorschriften, des Verfahrensablaufs sowie der beim Gerichtshof eingereichten schriftlichen Erklärungen wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt wird im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.

8 Vorab ist festzustellen, daß sowohl die Richtlinie 75/362/EWG des Rates vom 16. Juni 1975 für die gegenseitige Anerkennung der Diplome, Prüfungszeugnisse und sonstigen Befähigungsnachweise des Arztes und für Maßnahmen zur Erleichterung der tatsächlichen Ausübung des Niederlassungsrechts und des Rechts auf freien Dienstleistungsverkehr ( ABl. L 167, S. 1 ) als auch die Richtlinie 75/363/EWG des Rates vom 16. Juni 1975 zur Koordinierung der Rechts - und Verwaltungsvorschriften für die Tätigkeiten des Arztes ( ABl. L 167, S. 14 ) nur Bestimmungen über den Beruf des "Arztes" enthalten. Es gibt ausserdem keine gemeinschaftsrechtliche Bestimmung, die die Ausübung arztähnlicher Berufe wie etwa der Osteopathie regelt. Die genannten Richtlinien enthalten auch keine gemeinschaftsrechtliche Definition der Tätigkeiten, die als ärztliche Tätigkeiten anzusehen sind.

9 Herr Bouchoucha macht geltend, die Anwendbarkeit des Gemeinschaftsrechts ergebe sich daraus, daß er trotz des Diploms, das ihm in einem anderen Mitgliedstaat verliehen worden sei, daran gehindert werde, die Tätigkeit, auf die sich dieses Diplom beziehe, in seinem Heimatstaat auszuüben. Zum einen genüge das Urteil vom 7. Februar 1979 in der Rechtssache 115/78 ( Knoors, Slg. 1979, 399 ), um den Einwand auszuräumen, daß die vorliegende Rechtssache sich im rein innerstaatlichen Rahmen des betroffenen Mitgliedstaats abspiele. Zum anderen verstießen die Bestimmungen der französischen Verordnung vom 6. Januar 1962, durch die die sogenannten osteopathischen Behandlungen den berufsmässigen Handlungen zugeordnet würden, für die eine Zulassung als Arzt vorgeschrieben sei, gegen den gemeinschaftsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismässigkeit.

10 Die französische Regierung macht dagegen geltend, im Bereich der Medizin stütze sich die Realisierung des Grundsatzes der Niederlassungsfreiheit auf die gegenseitige Anerkennung der Diplome in jedem Einzelfall im Rahmen der dafür vorgesehenen Richtlinien. Da es jedoch keine genaue gemeinschaftsrechtliche Definition der "ärztlichen Tätigkeiten" gebe, stehe es den Mitgliedstaaten weiter frei, die Osteopathie und die Vornahme von chiropraktischen Eingriffen zur Einrenkung von Wirbeln den Ärzten vorzubehalten. Das genannte Urteil vom 7. Februar 1979 in der Rechtssache 115/78 sei nur dann zu berücksichtigen, wenn die von dem Betroffenen in einem anderen Mitgliedstaat erworbene Berufsausbildung "nach dem Gemeinschaftsrecht anerkannt" sei.

11 Erstens ist darauf hinzuweisen, daß - anders als in der den Strafverfahren gegen Eleonora Nino u. a. zugrundeliegenden Fallgestaltung ( Urteil vom selben Tage in den verbundenen Rechtssachen C-54/88, C-91/88 und C-14/89 ) - Herr Bouchoucha, ein in Frankreich berufstätiger französischer Staatsangehöriger, ein in einem anderen Mitgliedstaat erlangtes Berufsdiplom besitzt. Der dem Ausgangsverfahren zugrundeliegende Sachverhalt ist folglich nicht auf einen rein innerstaatlichen Rahmen beschränkt. Somit ist zu prüfen, ob die Bestimmungen des EWG-Vertrages über die Niederlassungsfreiheit anwendbar sind.

12 Zweitens ist festzustellen, daß es keine gemeinschaftsrechtliche Definition der ärztlichen Tätigkeiten gibt, so daß die Definition der Handlungen, die dem Arztberuf vorbehalten sind, grundsätzlich in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fällt. Da es folglich für die berufsmässige Ausübung der Osteopathie an einer gemeinschaftsrechtlichen Regelung fehlt, steht es jedem Mitgliedstaat frei, die Ausübung dieser Tätigkeit in seinem Hoheitsgebiet ohne diskriminierende Unterscheidung zwischen seinen eigenen Staatsangehörigen und solchen der anderen Mitgliedstaaten zu regeln.

13 Wie aus dem genannten Urteil vom 7. Februar 1979 in der Rechtssache 115/78 hervorgeht, kann Artikel 52 EWG-Vertrag nicht dahin ausgelegt werden, daß die Staatsangehörigen eines bestimmten Mitgliedstaats von der Anwendung des Gemeinschaftsrechts ausgeschlossen wären, wenn sie sich aufgrund der Tatsache, daß sie rechtmässig im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats ansässig waren und dort eine nach dem Gemeinschaftsrecht anerkannte berufliche Qualifikation erworben haben, gegenüber ihrem Herkunftsmitgliedstaat in einer Lage befinden, die mit derjenigen aller anderen Personen, die in den Genuß der durch den Vertrag garantierten Rechte und Freiheiten kommen, vergleichbar ist ( Randnr. 24 ).

14 Es ist jedoch festzustellen, daß das Diplom der Europäischen Schule für Osteopathie, das Herr Bouchoucha besitzt, gegenwärtig keine gegenseitige Anerkennung auf Gemeinschaftsebene genießt, worauf die französische Regierung sowie das SNMOF und das SNMSRRF zu Recht hingewiesen haben. Dieses Diplom ist daher nicht als eine nach dem Gemeinschaftsrecht anerkannte berufliche Qualifikation anzusehen. Im übrigen darf nach dem genannten Urteil vom 7. Februar 1979 nicht verkannt werden, daß ein Mitgliedstaat ein berechtigtes Interesse daran haben kann, zu verhindern, daß sich einige seiner Staatsangehörigen unter Mißbrauch der durch den Vertrag geschaffenen Erleichterungen der Anwendung ihrer nationalen Berufsausbildungsvorschriften entziehen ( Randnr. 25 ).

15 Dies wäre insbesondere dann der Fall, wenn ein Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats unter Vorlage eines Diploms, das er in einem anderen Mitgliedstaat erworben hat und dessen Bedeutung und Wert gemeinschaftsrechtlich nicht anerkannt sind, seinen Herkunftsmitgliedstaat dazu verpflichten könnte, ihm die Ausübung der Tätigkeiten, auf die sich dieses Diplom bezieht, in seinem Hoheitsgebiet zu erlauben, sofern der Zugang zu diesen Tätigkeiten dort den Inhabern einer höheren Qualifikation vorbehalten ist, die die gegenseitige Anerkennung auf Gemeinschaftsebene genießt, und dieser Vorbehalt nicht als willkürlich erscheint.

16 Nach alledem ist die von der Cour d' appel Aix-en-Provence zur Vorabentscheidung vorgelegte Frage wie folgt zu beantworten : Solange es in bezug auf die Tätigkeiten, deren Ausübung ausschließlich Ärzten vorbehalten ist, an einer Harmonisierung auf Gemeinschaftsebene fehlt, steht Artikel 52 EWG-Vertrag dem nicht entgegen, daß ein Mitgliedstaat eine arztähnliche Tätigkeit wie etwa die Osteopathie den Inhabern eines Diploms eines Doktors der Medizin vorbehält.

Kostenentscheidung:

Kosten

17 Die Auslagen der französischen und der italienischen Regierung sowie der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die Erklärungen beim Gerichtshof eingereicht haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren vor dem Gerichtshof Teil des bei dem innerstaatlichen Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF ( Erste Kammer )

auf die ihm von der Cour d' appel Aix-en-Provence mit Urteil vom 23. Januar 1989 vorgelegte Frage für Recht erkannt :

Solange es in bezug auf die Tätigkeiten, deren Ausübung ausschließlich Ärzten vorbehalten ist, an einer Harmonisierung auf Gemeinschaftsebene fehlt, steht Artikel 52 EWG-Vertrag dem nicht entgegen, daß ein Mitgliedstaat eine arztähnliche Tätigkeit wie etwa die Osteopathie den Inhabern eines Diploms eines Doktors der Medizin vorbehält.

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