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Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 09.03.2006
Aktenzeichen: C-65/04
Rechtsgebiete: EAG-Vertrag, Richtlinie 89/618/Euratom
Vorschriften:
EAG-Vertrag | |
Richtlinie 89/618/Euratom |
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg
URTEIL DES GERICHTSHOFES (Erste Kammer)
9. März 2006
"Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats - EAG-Vertrag - Geltungsbereich - Richtlinie 89/618/Euratom - Gesundheitsschutz - Ionisierende Strahlungen - Nutzung der Kernenergie für militärische Zwecke - Instandsetzung eines Unterseebootes mit Nuklearantrieb"
Parteien:
In der Rechtssache C-65/04
betreffend eine Vertragsverletzungsklage nach Artikel 141 EA, eingereicht am 13. Februar 2004,
Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch L. Ström van Lier und J. Grunwald als Bevollmächtigte, Zustellungsanschrift in Luxemburg,
Klägerin,
gegen
Vereinigtes Königreich Großbritannien und Nordirland, vertreten durch C. Jackson und C. Gibbs als Bevollmächtigte im Beistand von D. Wyatt, QC, und S. Tromans, Barrister, Zustellungsanschrift in Luxemburg,
Beklagter,
unterstützt durch
Französische Republik, vertreten durch R. Abraham, G. de Bergues, E. Puisais und C. Jurgensen als Bevollmächtigte, Zustellungsanschrift in Luxemburg,
Streithelferin,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten P. Jann, der Richterin N. Colneric sowie der Richter J. N. Cunha Rodrigues (Berichterstatter), K. Lenaerts und E. Levits,
Generalanwalt: L. A. Geelhoed,
Kanzler: L. Hewlett, Hauptverwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 13. Oktober 2005,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 1. Dezember 2005
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe:
1 Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften beantragt mit ihrer Klage die Feststellung, dass das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland dadurch gegen seine Verpflichtungen aus Artikel 5 Absatz 3 der Richtlinie 89/618/Euratom des Rates vom 27. November 1989 über die Unterrichtung der Bevölkerung über die bei einer radiologischen Notstandssituation geltenden Verhaltensmaßregeln und zu ergreifenden Gesundheitsschutzmaßnahmen (ABl. L 357, S. 31, im Folgenden: Richtlinie) verstoßen hat, dass es die Bevölkerung, die im Falle einer radiologischen Notstandssituation betroffen sein könnte, nicht vorher über den in Gibraltar bestehenden örtlichen Notfallplan unterrichtet hat.
Rechtlicher Rahmen
2 Die Artikel 30 EA und 31 EA sehen die Festsetzung von Grundnormen für den Gesundheitsschutz der Bevölkerung und der Arbeitskräfte gegen die Gefahren ionisierender Strahlungen in der Europäischen Gemeinschaft vor.
3 Mit der auf der Grundlage von Artikel 31 EAG-Vertrag erlassenen Richtlinie sollen nach ihrem Artikel 1 "gemeinschaftsweit gemeinsame Ziele im Hinblick auf die Maßnahmen und Verfahren zur Unterrichtung der Bevölkerung festgelegt werden, um deren Gesundheitsschutz bei einer radiologischen Notstandssituation wirksam zu verbessern".
4 In Artikel 5 der Richtlinie heißt es:
"(1) Die Mitgliedstaaten tragen dafür Sorge, dass die Bevölkerung, die bei einer radiologischen Notstandssituation betroffen sein könnte, über die für sie geltenden Gesundheitsschutzmaßnahmen sowie über die entsprechenden Verhaltensmaßregeln im Fall einer radiologischen Notstandssituation unterrichtet wird.
...
(3) Die Informationen werden der in Absatz 1 bezeichneten Bevölkerung unaufgefordert übermittelt.
..."
Das Vorverfahren
5 Im Laufe des Jahres 2000 gingen bei der Kommission mehrere Beschwerden im Zusammenhang mit Instandsetzungsarbeiten ein, die seit Mai 2000 im Hafen von Gibraltar an dem Atom-U-Boot "HMS Tireless" der Royal Navy des Vereinigten Königreichs nach einem Störfall durchgeführt wurden, der den Reaktor des Bootes beschädigt hatte.
6 Mit Schreiben vom 10. Oktober 2000 forderte die Kommission das Vereinigte Königreich auf, ihr mitzuteilen, wie es die Bevölkerung über die für sie geltenden Gesundheitsschutzmaßnahmen sowie die von ihr zu beachtenden Verhaltensmaßregeln bei einer radiologischen Notstandssituation unterrichtet habe.
7 In ihrer Antwort vom 14. November 2000 vertraten die Behörden des Vereinigten Königreichs die Meinung, dass der EAG-Vertrag nicht auf die militärische Nutzung der Kernenergie anwendbar sei. Gleichwohl verwiesen sie auf das Vorliegen eines Einsatzplans für das Gebiet von Gibraltar, das Gibraltar Public Safety Scheme (im Folgenden: Gibpubsafe), der in der öffentlichen Bibliothek von Gibraltar eingesehen werden könne.
8 Da die Kommission der Ansicht war, dass das Gibpubsafe nicht der Richtlinie entspreche, richtete sie am 21. März 2002 ein Mahnschreiben an das Vereinigte Königreich. Zu den Modalitäten der vorherigen Unterrichtung der Bevölkerung, die im Falle einer radiologischen Notstandssituation betroffen sein könnte, führte sie darin u. a. aus, dass die bloße Bereitstellung des Gibpubsafe in einer öffentlichen Bibliothek nichts als eine zufrieden stellende Umsetzung der Richtlinie angesehen werden könne.
9 Die Behörden des Vereinigten Königreichs antworteten auf dieses Mahnschreiben mit Schreiben vom 17. Mai 2002. Sie beschränkten sich dabei auf die Darlegung der Gründe, aus denen ihrer Ansicht nach die Tätigkeiten im Zusammenhang mit militärischen Systemen mit Nuklearantrieb nicht zu den der Gemeinschaft durch den EAG-Vertrag übertragenen Aufgaben zählten.
10 In ihrer an das Vereinigte Königreich gerichteten mit Gründen versehenen Stellungnahme vom 23. Oktober 2002 führte die Kommission u. a. aus, dass ionisierende Strahlungen aus militärischen Tätigkeiten nicht von Titel II Kapitel 3 des EAG-Vertrags ausgenommen seien, und forderte die Behörden dieses Mitgliedstaats auf, die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um dieser Stellungnahme binnen zwei Monaten von ihrer Zustellung an nachzukommen.
11 Da diese Behörden in ihrer Antwort vom 20. Dezember 2002 auf diese Stellungnahme an ihren Standpunkt festhielten, hat die Kommission beschlossen, die vorliegende Klage einzureichen.
Verfahren vor dem Gerichtshof und Anträge der Beteiligten
12 Die Französische Republik ist mit Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofes vom 16. Juni 2004 als Streithelferin zur Unterstützung der Anträge des Vereinigten Königreichs zugelassen worden.
13 Die Kommission beantragt,
- festzustellen, dass das Vereinigte Königreich dadurch gegen seine Verpflichtungen aus Artikel 5 Absatz 3 der Richtlinie verstoßen hat, dass es die Bevölkerung, die im Falle einer radiologischen Notstandssituation betroffen sein könnte, nicht vorher über den in Gibraltar bestehenden örtlichen Notfallplan unterrichtet hat, und
- dem Vereinigten Königreich die Kosten aufzuerlegen.
14 Das Vereinigte Königreich und die Französische Republik beantragen, die Klage abzuweisen und der Kommission die Kosten aufzuerlegen.
Zur Klage
15 Aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten geht hervor, dass die Kommission nach der Stilllegung des Atom-U-Boots "HMS Tireless" der Royal Navy des Vereinigten Königreichs im Hafen von Gibraltar für Instandsetzungsarbeiten im Mai 2000 die Regierung des Vereinigten Königreichs aufforderte, ihr mitzuteilen, wie die Bevölkerung über die bei einer radiologischen Notstandssituation geltenden Gesundheitsschutzmaßnahmen gemäß Artikel 5 Absatz 3 der Richtlinie unterrichtet worden sei.
16 Die Frage, ob die militärische Nutzung der Kernenergie in den Geltungsbereich des EAG-Vertrags fallen kann, hat der Gerichtshof bereits im Urteil vom 12. April 2005 in der Rechtssache C-61/03 (Kommission/Vereinigtes Königreich, Slg. 2005, I-2477) entschieden.
17 In diesem Urteil hat der Gerichtshof zunächst festgestellt, dass mehrere Bestimmungen des EAG-Vertrags der Kommission erhebliche Befugnisse verleihen, die es ihr erlauben, aktiv durch Erlass von Regelungen oder in Form von Stellungnahmen, die Einzelfallentscheidungen enthalten, in verschiedene Tätigkeitsbereiche einzugreifen, die in der Gemeinschaft im Zusammenhang mit der Nutzung der Kernenergie stehen. Als Beispiel hat er die Bestimmungen des Titels II Kapitel 3 des Vertrages betreffend den Gesundheitsschutz, insbesondere die Artikel 34 EA, 35 EA und 37 EA, und die Bestimmungen des Titels II Kapitel 1 betreffend die Förderung der Forschung genannt und betont, dass aus dem Wortlaut dieser Bestimmungen in keiner Weise hervorgeht, ob es sich bei den auf diese Weise geregelten Tätigkeiten ausschließlich um zivile Tätigkeiten handelt (vgl. Urteil Kommission/Vereinigtes Königreich, Randnr. 35).
18 Der Gerichtshof hat sodann darauf hingewiesen, dass die Anwendung solcher Bestimmungen auf militärische Einrichtungen, Forschungsprogramme und andere Tätigkeiten geeignet sein kann, wesentliche Interessen der Landesverteidigung der Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen (vgl. Urteil Kommission/Vereinigtes Königreich, Randnr. 36).
19 Aus diesen Erwägungen hat er den Schluss gezogen, dass, da der EAG-Vertrag keinerlei Ausnahme enthält, mit der die Einzelheiten einer Befugnis der Mitgliedstaaten festgelegt würden, sich auf diese wesentlichen Interessen zu berufen und sie zu schützen, die Tätigkeiten des militärischen Bereichs nicht in den Anwendungsbereich dieses Vertrages fallen (vgl. Urteil Kommission/Vereinigtes Königreich, Randnr. 36).
20 Die Kommission räumt ein, dass die vorliegende Rechtssache und die vorgenannte Rechtssache Kommission/Vereinigtes Königreich die gleiche Rechtsfrage aufwerfen.
21 In der Sitzung hat die Kommission jedoch erklärt, dass die Informationen, die die Mitgliedstaaten nach Artikel 5 der Richtlinie ihrer Bevölkerung in Bezug auf die bei einer radiologischen Notstandssituation zu ergreifenden allgemeinen Gesundheitsschutzmaßnahmen zur Verfügung stellen müssten, zum Zivilschutz und nicht zum militärischen Bereich gehörten. Die Anwendbarkeit dieser Richtlinie sei daher nicht geeignet, die militärischen Interessen der Mitgliedstaaten zu verletzen.
22 Dem ist nicht zu folgen.
23 Es steht nämlich fest, dass im vorliegenden Fall die Kernenergiequelle militärischen Ursprungs ist.
24 Sähe man in einer solchen Situation gleichwohl die Verpflichtung der Mitgliedstaaten nach Artikel 5 der Richtlinie als gegeben an, liefe das darauf hinaus, den Bestimmungen des EAG-Vertrags über den Gesundheitsschutz, insbesondere Artikel 31 EA, der die Grundlage für diese Richtlinie darstellt, einen anderen Anwendungsbereich zuzuerkennen als den übrigen Bestimmungen dieses Vertrages.
25 Damit hinge die Anwendbarkeit der Bestimmungen des EAG-Vertrags von Art und Umfang der Verpflichtungen ab, die diese Bestimmungen der Mitgliedstaaten auferlegen. Demnach wäre in jedem Einzelfall zu prüfen, welche Beeinträchtigung die Befolgung dieser Verpflichtungen für die wesentlichen Interessen der nationalen Verteidigung dieser Staaten mit sich bringen könnte.
26 Wie der Generalanwalt in Nummer 31 seiner Schlussanträge zu Recht ausgeführt hat, hat der Gerichtshof diese Auffassung im Urteil Kommission/Vereinigtes Königreich zurückgewiesen. Diesem Urteil ist nämlich ganz klar zu entnehmen, dass die Nutzung der Kernenergie zu militärischen Zwecken vom Anwendungsbereich sämtlicher, und nicht nur einiger, Bestimmungen des EAG-Vertrags ausgenommen ist.
27 Da der Anwendungsbereich von Bestimmungen des abgeleiteten Rechts nicht weiter reichen kann als der ihrer Rechtsgrundlage, da sie andernfalls nichtig wären, führt die fehlende Anwendbarkeit von Artikel 31 EA auf militärische Tätigkeiten zwangsläufig zur Unanwendbarkeit der Richtlinie auf diese Tätigkeiten.
28 Es ist jedoch daran zu erinnern, dass diese Feststellung nicht die grundlegende Bedeutung mindert, die dem Ziel des Schutzes der Gesundheit der Bevölkerung und der Umwelt gegen die Gefahren im Zusammenhang mit der Nutzung der Kernenergie, einschließlich der Nutzung zu militärischen Zwecken, zukommt. Soweit der EAG-Vertrag der Gemeinschaft kein spezifisches Instrument für die Verfolgung dieses Zieles liefert, kann nicht ausgeschlossen werden, dass auf der Grundlage der einschlägigen Bestimmungen des EG-Vertrags geeignete Maßnahmen ergriffen werden können (vgl. Urteil Kommission/Vereinigtes Königreich, Randnr. 44).
29 Demnach ist festzustellen, dass Artikel 5 Absatz 3 der Richtlinie das Vereinigte Königreich nicht verpflichtet, anlässlich der Instandsetzung eines militärischen Unterseebootes mit Nuklearantrieb die Bevölkerung, die im Falle einer radiologischen Notstandssituation betroffen sein könnte, über die für sie geltenden Gesundheitsschutzmaßnahmen zu unterrichten.
30 Daher ist die Klage der Kommission abzuweisen.
Kostenentscheidung:
Kosten
31 Nach Artikel 69 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da das Vereinigte Königreich die Verurteilung der Kommission beantragt hat und diese mit ihrem Vorbringen unterlegen ist, sind ihr die Kosten aufzuerlegen. Nach Artikel 69 § 4 Unterabsatz 1 der Verfahrensordnung tragen die Mitgliedstaaten, die dem Rechtsstreit als Streithelfer beigetreten sind, ihre eigenen Kosten.
Tenor:
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt und entschieden:
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften trägt die Kosten des Verfahrens.
3. Die Französische Republik trägt ihre eigenen Kosten.
Ende der Entscheidung
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