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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 16.10.1997
Aktenzeichen: C-69/96
Rechtsgebiete: Richtlinie 86/457/EWG, Richtlinie 93/16/EWG


Vorschriften:

Richtlinie 86/457/EWG
Richtlinie 93/16/EWG
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

3 Bei der Prüfung der Frage, ob eine vorlegende Einrichtung Gerichtseigenschaft im Sinne von Artikel 177 des Vertrages hat, sind eine Reihe von Umständen zu berücksichtigen, wie gesetzliche Grundlage der Einrichtung, ständiger Charakter, obligatorische Gerichtsbarkeit, kontradiktorischer Charakter des Verfahrens, Anwendung von Rechtsnormen durch diese Einrichtung sowie ihre Unabhängigkeit. Der "Consiglio di Stato" stellt, wenn er eine Stellungnahme im Rahmen einer ausserordentlichen Beschwerde abgibt, ein Gericht im Sinne von Artikel 177 des Vertrages dar.

4 Artikel 36 Absatz 2 der Richtlinie 93/16 zur Erleichterung der Freizuegigkeit für Ärzte und zur gegenseitigen Anerkennung ihrer Diplome, Prüfungszeugnisse und sonstigen Befähigungsnachweise, der Artikel 7 Absatz 2 der Richtlinie 86/457 über eine spezifische Ausbildung in der Allgemeinmedizin ersetzt hat, ist dahin auszulegen, daß ein Mitgliedstaat die erworbenen Rechte der praktischen Ärzte in bezug auf vor dem 1. Januar 1995 liegende Sachverhalte bestimmen kann, unter der einzigen Bedingung, daß er den Ärzten, die sich vor dem 1. Januar 1995 gemäß der Richtlinie 75/362 für die gegenseitige Anerkennung der Diplome, Prüfungszeugnisse und sonstigen Befähigungsnachweise des Arztes und für Maßnahmen zur Erleichterung der tatsächlichen Ausübung des Niederlassungsrechts und des Rechts auf freien Dienstleistungsverkehr dort niedergelassen haben, das Recht zuerkennt, die Tätigkeit eines praktischen Arztes im Rahmen seines nationalen Sozialversicherungssystems auszuüben, auch wenn sie keine spezifische Ausbildung in der Allgemeinmedizin absolviert und kein Dienstverhältnis mit dem Sozialversicherungssystem dieses Staates begründet haben.


Urteil des Gerichtshofes (Fünfte Kammer) vom 16. Oktober 1997. - Maria Antonella Garofalo (C-69/96), Giovanni Pagano (C-70/96), Rosa Bruna Vitale (C-71/96), Francesca Nuccio (C-72/96), Giacomo Cangialosi (C-73/96), Giacoma D'Amico (C-74/96), Giulia Lombardo (C-75/96), Emanuela Giovenco (C-76/96), Caterina Lo Gaglio (C-77/96), Daniela Guerrera (C-78/96) und Cesare Di Marco (-79/96) gegen Ministero della Sanità und Unità sanitaria locale (USL) nº 58 di Palermo. - Ersuchen um Vorabentscheidung: Consiglio di Stato - Italien. - Artikel 177 EG-Vertrag - Zuständigkeit - Gericht eines Mitgliedstaats - Außerordentliche Beschwerde beim Präsidenten der Italienischen Republik - Obligatorische Stellungnahme des Consiglio di Stato - Richtlinien 86/457/EWG und 93/16/EWG - Spezifische Ausbildung in der Allgemeinmedizin - Vor dem 1. Januar 1995 erworbene Rechte. - Verbundene Rechtssachen C-69/96 bis C-79/96.

Entscheidungsgründe:

1 Der Consiglio di Stato hat mit elf Beschlüssen vom 6. Dezember 1995, beim Gerichtshof eingegangen am 14. März 1996 in den Rechtssachen C-69/96 bis C-73/96 und am 15. März 1996 in den Rechtssachen C-74/96 bis C-79/96, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag drei Fragen nach der Auslegung dieses Artikels und der Richtlinie 86/457/EWG des Rates vom 15. September 1986 über eine spezifische Ausbildung in der Allgemeinmedizin (ABl. L 267, S. 26) zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Fragen stellen sich im Rahmen mehrerer beim Präsidenten der Italienischen Republik eingelegter ausserordentlicher Beschwerden von Frau Garofalo und zehn weiteren Ärzten (im folgenden: Beschwerdeführer) gegen den Beschluß Nr. 1495 des Commissario straordinario (Sonderkommissar) der Unità sanitaria locale (örtlicher Gesundheitsdienst) Nr. 58 von Palermo (im folgenden: USL) vom 4. April 1995, mit dem die Liste der zur Ausübung ihrer Tätigkeit im Rahmen der italienischen sozialen Sicherheit zugelassenen praktischen Ärzte festgelegt worden ist, und gegen das diesem Beschluß als Grundlage dienende Dekret des Gesundheitsministers vom 15. Dezember 1994 (GURI Nr. 303 vom 29. Dezember 1994).

3 In der 24. Begründungserwägung der Richtlinie 93/16/EWG des Rates vom 5. April 1993 zur Erleichterung der Freizuegigkeit für Ärzte und zur gegenseitigen Anerkennung ihrer Diplome, Prüfungszeugnisse und sonstigen Befähigungsnachweise (ABl. L 165, S. 1) heisst es, daß Ärzte, die die Tätigkeit des praktischen Arztes im Rahmen eines Sozialversicherungssystems ausüben und sich vor dem 1. Januar 1995 gemäß der Richtlinie 75/362/EWG des Rates vom 16. Juni 1975 für die gegenseitige Anerkennung der Diplome, Prüfungszeugnisse und sonstigen Befähigungsnachweise des Arztes und für Maßnahmen zur Erleichterung der tatsächlichen Ausübung des Niederlassungsrechts und des Rechts auf freien Dienstleistungsverkehr (ABl. L 167, S. 1) niedergelassen haben, das erworbene Recht haben müssen, die Tätigkeit des praktischen Arztes im Rahmen des Sozialversicherungssystems des Aufnahmemitgliedstaats auszuüben, selbst wenn sie keine spezifische Ausbildung in der Allgemeinmedizin absolviert haben.

4 Artikel 36 der Richtlinie 93/16 bestimmt:

"(1) Ab 1. Januar 1995 macht jeder Mitgliedstaat vorbehaltlich der Vorschriften über erworbene Rechte die Ausübung des ärztlichen Berufs als praktischer Arzt im Rahmen seines Sozialversicherungssystems vom Besitz eines Diploms, Prüfungszeugnisses oder sonstigen Befähigungsnachweises im Sinne von Artikel 30 abhängig.

Von dieser Bedingung können die Mitgliedstaaten jedoch Personen freistellen, die gerade eine spezifische Ausbildung in der Allgemeinmedizin absolvieren.

(2) Jeder Mitgliedstaat bestimmt die erworbenen Rechte. Er muß jedoch das Recht, den ärztlichen Beruf als praktischer Arzt im Rahmen eines Sozialversicherungssystems auszuüben, ohne ein Diplom, ein Prüfungszeugnis oder einen sonstigen Befähigungsnachweis im Sinne von Artikel 30 zu besitzen, im Falle solcher Ärzte als erworbenes Recht betrachten, die dieses Recht bis zum 31. Dezember 1994 gemäß den Artikeln 1 bis 20 erworben haben und sich bis zu diesem Zeitpunkt unter Inanspruchnahme von Artikel 2 oder Artikel 9 Absatz 1 im Gebiet des betreffenden Mitgliedstaats niedergelassen haben."

5 Diese Begründungserwägung und die zitierten Bestimmungen haben den gleichen Wortlaut wie die 11. Begründungserwägung und Artikel 7 Absätze 1 und 2 der Richtlinie 86/457, die durch die Richtlinie 93/16 ersetzt und aufgenommen worden ist.

6 In Italien ist das innerstaatliche Recht durch das Decreto legge Nr. 256 vom 8. August 1991 (GURI Nr. 191 vom 16. August 1991; im folgenden: Decreto legge) an die Richtlinie 86/457 angepasst worden.

7 Nach Artikel 2 des Decreto legge stellt ab 1. Januar 1995 - vorbehaltlich erworbener Rechte - das Prüfungszeugnis über eine spezifische Ausbildung in der Allgemeinmedizin den für die Ausübung der Tätigkeit eines praktischen Arztes im Rahmen des nationalen Gesundheitsdienstes notwendigen Befähigungsnachweis dar.

8 Artikel 6 des Decreto legge, der die erworbenen Rechte betrifft, bestimmt, daß zur Ausübung des Berufes eines praktischen Arztes im Rahmen des nationalen Gesundheitsdienstes vertraglich gebundene Ärzte berechtigt sind, und zählt mehrere Kategorien von Berechtigten auf: die Ärzte, die bereits beim nationalen Gesundheitsdienst als Vertragsärzte für die medizinische Grundversorgung tätig sind, die dem ärztlichen Notdienst zugewiesenen Ärzte, die in Polikliniken tätigen Internisten usw. In jedem Fall muß das Vertragsverhältnis vor dem 31. Dezember 1994 begründet worden sein.

9 Das Decreto legge ermächtigt den Gesundheitsminister, "weitere Kategorien" von Ärzten zu bestimmen, denen dieses erworbene Recht zur Ausübung des Berufes eines praktischen Arztes im Rahmen des nationalen Gesundheitsdienstes zuerkannt wird.

10 Der Gesundheitsminister hat von dieser Ermächtigung mit Erlaß des Dekrets vom 15. Dezember 1994 Gebrauch gemacht, das diese Vergünstigung des erworbenen Rechts auf alle Ärzte erstreckt, die den Nachweis der Befähigung zur Ausübung ihres Berufes vor dem 1. Januar 1995 erworben haben.

11 Die Beschwerdeführer sind Ärzte, die einen Nachweis der beruflichen Eignung und das Prüfungszeugnis über eine spezifische Ausbildung in der Allgemeinmedizin besitzen. Auf eine Stellenausschreibung beantragten sie, in die Rangliste der Bewerber um Posten für praktische Vertragsärzte der USL aufgenommen zu werden. Diese Liste, auf der auch ihre Namen standen, wurde durch Entscheidung des Verwalters der USL vom 4. April 1995 genehmigt.

12 Die Beschwerdeführer legten gleichwohl eine ausserordentliche Beschwerde beim Präsidenten der Republik gegen die Rangliste ein, weil darin an besserer Position als sie auch Ärzte aufgenommen worden seien, die nicht das besondere Prüfungszeugnis über eine spezifische Ausbildung in der Allgemeinmedizin besässen.

13 Im Rahmen dieser Beschwerde machten die Beschwerdeführer geltend, nach dem Decreto legge sei ab 1. Januar 1995 - vorbehaltlich erworbener Rechte - das Prüfungszeugnis über eine spezifische Ausbildung in der Allgemeinmedizin für den Zugang zur Tätigkeit eines Vertragsarztes beim nationalen Gesundheitsdienst zwingend erforderlich. Das Dekret des Gesundheitsministers vom 15. Dezember 1994 habe daher einen zu weiten Anwendungsbereich, da es das Recht, die Tätigkeit eines praktischen Arztes im Rahmen des nationalen Gesundheitsdienstes auszuüben, allen Ärzten zuerkenne, die die Befähigung zur Ausübung ihres Berufes vor dem 1. Januar 1995 erworben hätten.

14 Das mit der Beschwerde befasste Gesundheitsministerium ersuchte am 27. Oktober 1995 den Consiglio di Stato um eine Stellungnahme.

15 Der Consiglio di Stato hat es zur Abgabe seiner Stellungnahme für erforderlich gehalten, den Gerichtshof zur Auslegung des Artikels 7 Absatz 2 der Richtlinie 86/457, nunmehr Artikel 36 Absatz 2 der Richtlinie 93/16, zu befragen. Da er ausserdem nicht sicher war, ob er zur Vorlage einer solchen Frage befugt sei, hat er eine Vorfrage nach der Bedeutung des Begriffes "Gericht" im Sinne von Artikel 177 des Vertrages aufgeworfen. Er hat daher das Verfahren zur Abgabe der Stellungnahme ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1. Ist der Begriff "Gericht" in Artikel 177 des Vertrages weit in dem Sinne auszulegen, daß er sich nicht nur auf die in den nationalen Rechtsordnungen genau als solche definierten Gerichte bezieht, sondern auch auf Einrichtungen, die über streitige Verwaltungsverfahren entscheiden und die - ausser durch Unparteilichkeit, die Garantien des kontradiktorischen Verfahrens usw. - auch dadurch charakterisiert sind, daß ihre Entscheidungen weder aufgehoben oder abgeändert noch von irgendeiner anderen behördlichen oder gerichtlichen Stelle nachgeprüft werden können?

2. Sind mit der Wendung "im Falle solcher Ärzte..., die dieses Recht bis zum 31. Dezember 1994... erworben haben", in Artikel 7 Absatz 2 der Richtlinie 86/457/EWG diejenigen gemeint, die abstrakt die Berechtigung erworben hatten, in ein Dienstverhältnis (u. a. als Angestellte, Vertrags- oder beauftragte Ärzte) beim nationalen Gesundheitsdienst einzutreten, oder nur diejenigen, die ein solches Dienstverhältnis bereits konkret begründet hatten?

3. Falls die vorstehende Frage im Sinne der zweiten Alternative beantwortet wird: Ist die Richtlinie dahin auszulegen, daß die nationale Behörde jedenfalls befugt ist, den Begriff "erworbene Rechte" so weit auszudehnen, daß darunter alle diejenigen fallen, die zu dem genannten Zeitpunkt die blosse Befähigung zur Ausübung des Berufes erworben hatten, oder dahin, daß unter "erworbenem Recht" eine Position zu verstehen ist, die jedenfalls qualifizierter ist als die blosse Befähigung zur Ausübung des Berufes?

16 Die Rechtssachen C-69/96 bis C-79/96 sind durch Beschluß des Präsidenten des Gerichtshofes vom 29. April 1996 zu gemeinsamem schriftlichen und mündlichen Verfahren und zu gemeinsamer Entscheidung verbunden worden.

Zur ersten Frage

17 Unstreitig erfuellt der Consiglio di Stato die Voraussetzungen für eine Qualifizierung als Gericht im Sinne von Artikel 177 des Vertrages, wenn er in zweiter und letzter Instanz über Rechtsmittel gegen die Urteile der regionalen Verwaltungsgerichte in Streitigkeiten über Handlungen der Verwaltung entscheidet.

18 Mit der ersten Vorlagefrage soll im wesentlichen geklärt werden, ob der Consiglio di Stato auch dann ein Gericht im Sinne von Artikel 177 des Vertrages darstellt, wenn er im Rahmen einer ausserordentlichen Beschwerde eine Stellungnahme abgibt.

19 Um diese Frage beantworten zu können, sind die Bedingungen der Tätigkeit des Consiglio di Stato im Rahmen dieses besonderen Verfahrens im Hinblick auf die Kriterien zu prüfen, die der Gerichtshof zur Beurteilung des Begriffes "Gericht" im Sinne von Artikel 177 des Vertrages aufgestellt hat, wie gesetzliche Grundlage der Einrichtung, ständiger Charakter, obligatorische Gerichtsbarkeit, kontradiktorischer Charakter des Verfahrens, Anwendung von Rechtsnormen durch diese Einrichtung sowie ihre Unabhängigkeit (vgl. zuletzt Urteil vom 17. September 1997 in der Rechtssache C-54/96, Dorsch Consult, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 23).

20 Insoweit ist festzustellen, daß die ausserordentliche Beschwerde ein Rechtsbehelf im Verwaltungsstreitverfahren ist, der 1971 durch Dekret Nr. 1199 des Präsidenten der Republik eingeführt wurde.

21 Ausserdem ergibt sich aus den Akten des Gerichtshofes, daß derjenige, der die Aufhebung eines italienischen Verwaltungsakts begehrt, die Wahl hat zwischen zwei gesetzlichen Rechtsbehelfen, nämlich der ausserordentlichen Beschwerde und der Klage beim Tribunale amministrativo regionale, wobei beide Rechtsbehelfe wesentliche gerichtliche Merkmale gemeinsam haben und der eine den anderen ausschließt.

22 Zunächst sind nämlich die Voraussetzungen für die Einlegung der beiden Rechtsbehelfe mit Ausnahme der Fristen sowie bestimmter nebensächlicher Merkmale die gleichen; sodann ist der Gegenstand des Antrags gleichwertig, nämlich die Aufhebung eines Verwaltungsakts, der ein berechtigtes Interesse beeinträchtigt; schließlich sind die Gründe, auf die der Antrag gestützt werden kann, in beiden Fällen die gleichen.

23 Darüber hinaus sind sowohl die ausserordentliche Beschwerde als auch die verwaltungsgerichtliche Klage mit einem kontradiktorischen Verfahren verbunden, und bei beiden werden die Grundsätze der Unparteilichkeit und der Gleichheit der Parteien beachtet.

24 Hinsichtlich der ausserordentlichen Beschwerde ist den Akten zu entnehmen, daß die Konsultation des Consiglio di Stato obligatorisch ist und daß seine Stellungnahme, die ausschließlich auf die Anwendung von Rechtsnormen gestützt ist, den Entwurf der Entscheidung darstellt, die förmlich vom Präsidenten der Italienischen Republik erlassen wird. Diese Stellungnahme, die sowohl eine Begründung als auch einen verfügenden Teil enthält, ist Bestandteil eines Verfahrens, das in diesem Stadium allein geeignet ist, die Lösung des Konflikts zwischen dem einzelnen und der Verwaltung zu ermöglichen. Eine Entscheidung, die dieser Stellungnahme nicht entspricht, kann erst nach einem Beschluß des Ministerrats ergehen und muß ordnungsgemäß begründet werden.

25 Schließlich hat der Consiglio di Stato, wie der Generalanwalt in Nummer 25 seiner Schlussanträge ausführt, ständigen, unparteilichen und unabhängigen Charakter, und seine Mitglieder, ob sie nun den beratenden oder den rechtsprechenden Sektionen angehören, müssen die gesetzlichen Garantien für Unabhängigkeit und Unparteilichkeit erfuellen und dürfen nicht gleichzeitig zu beiden Sektionen gehören.

26 So hat der Gerichtshof in einem vergleichbaren Fall dem niederländischen Raad van State Gerichtseigenschaft im Sinne von Artikel 177 des Vertrages zuerkannt (Urteil vom 27. November 1973 in der Rechtssache 36/73, Nederlandse Spoorwegen, Slg. 1973, 1299).

27 Aus den vorstehenden Erwägungen folgt, daß der Consiglio di Stato, wenn er eine Stellungnahme im Rahmen einer ausserordentlichen Beschwerde abgibt, ein Gericht im Sinne von Artikel 177 des Vertrages darstellt.

Zur zweiten und zur dritten Frage

28 Mit seiner zweiten und seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Artikel 36 Absatz 2 der Richtlinie 93/16, der Artikel 7 Absatz 2 der Richtlinie 86/457 ersetzt hat, dahin auszulegen ist, daß ein Arzt vor dem 1. Januar 1995 ein Dienstverhältnis mit dem Sozialversicherungssystem eines Mitgliedstaats begründet haben muß, um seine Tätigkeit im Rahmen des Sozialversicherungssystems dieses Staates ausüben zu können, ohne Inhaber des Diploms eines praktischen Arztes zu sein, und, wenn ja, ob die zuständige nationale Behörde befugt ist, dieses Recht auf Ärzte auszudehnen, die kein solches Dienstverhältnis vor diesem Zeitpunkt begründet haben.

29 Artikel 36 Absatz 2 der Richtlinie 93/16 erkennt jedem Mitgliedstaat die Befugnis zu, die erworbenen Rechte nach seinem Ermessen zu bestimmen.

30 Aus dem Wortlaut dieser Bestimmung geht klar hervor, daß diese Befugnis nur an eine Bedingung geknüpft ist, nämlich daß jeder Mitgliedstaat das erworbene Recht der Ärzte anerkennt, die zwar nicht Inhaber des Diploms eines praktischen Arztes sind, bei denen aber vor dem 1. Januar 1995 in diesem Mitgliedstaat die Diplome, Prüfungszeugnisse oder Befähigungsnachweise anerkannt worden sind, die ihnen in einem anderen Mitgliedstaat erteilt wurden, und die dort ebenfalls vor diesem Zeitpunkt das Recht erworben haben, die Tätigkeit eines praktischen Arztes im Rahmen des nationalen Sozialversicherungssystems auszuüben.

31 Mit dieser Mindestverpflichtung sollen Situationen verhindert werden, in denen Ärzten, die von der durch die Gemeinschaftsrichtlinien gewährleisteten Niederlassungsfreiheit profitiert und vor dem 1. Januar 1995 ein Recht - so theoretisch es auch sein mag - erworben haben, ihre Tätigkeit als praktischer Arzt im Rahmen des Sozialversicherungssystems eines Mitgliedstaats auszuüben, dieses Recht deshalb genommen wird, weil sie nicht die in der Richtlinie 93/16, die die Richtlinie 86/457 ersetzt hat, vorgesehenen neuen Diplome, Prüfungszeugnisse oder sonstigen Befähigungsnachweise besitzen.

32 Insoweit ist klarzustellen, daß der Umstand, kein tatsächliches Dienstverhältnis mit dem nationalen Sozialversicherungssystem begründet zu haben, die Ärzte, die das Recht erworben haben, in ein solches Dienstverhältnis einzutreten, nicht daran hindern kann, es später zu begründen. Artikel 36 Absatz 2 der Richtlinie 93/16 verlangt nämlich für die Anerkennung des erworbenen Rechts nicht, daß ein Dienstverhältnis am 31. Dezember 1994 begründet war, sondern bestimmt nur, daß das Recht dann erworben ist, wenn der Arzt zu diesem Zeitpunkt berechtigt ist, seine Tätigkeit als praktischer Arzt im Rahmen des nationalen Sozialversicherungssystems auszuüben.

33 Daraus folgt, daß der Aufnahmemitgliedstaat den Ärzten, die sich vor dem 1. Januar 1995 gemäß der Richtlinie 75/362 in seinem Gebiet niedergelassen haben, das Recht zuerkennen muß, die Tätigkeit eines praktischen Arztes im Rahmen seines Sozialversicherungssystems auszuüben, auch wenn diese Ärzte keine spezifische Ausbildung in der Allgemeinmedizin absolviert haben.

34 Vorbehaltlich dieser Mindestverpflichtung erlaubt Artikel 36 Absatz 2 es den Mitgliedstaaten, die erworbenen Rechte auf andere Fälle auszudehnen.

35 Auf die zweite und die dritte Vorlagefrage ist somit zu antworten, daß Artikel 36 Absatz 2 der Richtlinie 93/16, der Artikel 7 Absatz 2 der Richtlinie 86/457 ersetzt hat, dahin auszulegen ist, daß ein Mitgliedstaat die erworbenen Rechte der praktischen Ärzte in bezug auf vor dem 1. Januar 1995 liegende Sachverhalte bestimmen kann, unter der einzigen Bedingung, daß er den Ärzten, die sich vor dem 1. Januar 1995 gemäß der Richtlinie 75/362 dort niedergelassen haben, das Recht zuerkennt, die Tätigkeit eines praktischen Arztes im Rahmen seines nationalen Sozialversicherungssystems auszuüben, auch wenn sie keine spezifische Ausbildung in der Allgemeinmedizin absolviert und kein Dienstverhältnis mit dem Sozialversicherungssystem dieses Staates begründet haben.

Kostenentscheidung:

Kosten

36 Die Auslagen der italienischen Regierung und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien der Ausgangsverfahren ist das Verfahren ein Zwischenstreit in den bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreitigkeiten; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

(Fünfte Kammer)

auf die ihm vom Consiglio di Stato mit elf Beschlüssen vom 6. Dezember 1995 vorgelegten Fragen für Recht erkannt:

1. Der Consiglio di Stato stellt ein Gericht im Sinne von Artikel 177 EG-Vertrag dar, wenn er eine Stellungnahme im Rahmen einer ausserordentlichen Beschwerde abgibt.

2. Artikel 36 Absatz 2 der Richtlinie 93/16/EWG des Rates vom 5. April 1993 zur Erleichterung der Freizuegigkeit für Ärzte und zur gegenseitigen Anerkennung ihrer Diplome, Prüfungszeugnisse und sonstigen Befähigungsnachweise, der Artikel 7 Absatz 2 der Richtlinie 86/457/EWG des Rates vom 15. September 1986 über eine spezifische Ausbildung in der Allgemeinmedizin ersetzt hat, ist dahin auszulegen, daß ein Mitgliedstaat die erworbenen Rechte der praktischen Ärzte in bezug auf vor dem 1. Januar 1995 liegende Sachverhalte bestimmen kann, unter der einzigen Bedingung, daß er den Ärzten, die sich vor dem 1. Januar 1995 gemäß der Richtlinie 75/362/EWG des Rates vom 16. Juni 1975 für die gegenseitige Anerkennung der Diplome, Prüfungszeugnisse und sonstigen Befähigungsnachweise des Arztes und für Maßnahmen zur Erleichterung der tatsächlichen Ausübung des Niederlassungsrechts und des Rechts auf freien Dienstleistungsverkehr dort niedergelassen haben, das Recht zuerkennt, die Tätigkeit eines praktischen Arztes im Rahmen seines nationalen Sozialversicherungssystems auszuüben, auch wenn sie keine spezifische Ausbildung in der Allgemeinmedizin absolviert und kein Dienstverhältnis mit dem Sozialversicherungssystem dieses Staates begründet haben.

Ende der Entscheidung

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