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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 20.04.1993
Aktenzeichen: C-71/91
Rechtsgebiete: Richtlinie 69/335, EWG-Vertrag


Vorschriften:

Richtlinie 69/335 Art. 10
Richtlinie 69/335 Art. 12 Abs. 1 Buchst. e
EWG-Vertrag Art. 177
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Artikel 10 der Richtlinie 69/335 betreffend die indirekten Steuern auf die Ansammlung von Kapital, der die Abgaben aufführt, die dieselben Merkmale wie die Gesellschaftsteuer aufweisen und deren Erhebung daher verboten ist, ist so auszulegen, daß er es vorbehaltlich der in Artikel 12 vorgesehenen Ausnahmen verbietet, eine jährliche Abgabe wegen der Eintragung von Kapitalgesellschaften zu erheben, und zwar auch dann, wenn der Ertrag dieser Abgabe zur Finanzierung des Dienstes beiträgt, der mit der Führung des für die Eintragung von Gesellschaften bestimmten Registers betraut ist.

Artikel 12 der Richtlinie 69/335 ist so auszulegen, daß die in Absatz 1 Buchstabe e dieses Artikels genannten Abgaben mit Gebührencharakter Abgaben sein können, die als Gegenleistung für im Allgemeininteresse gesetzlich vorgeschriebene Vorgänge, wie etwa die Eintragung von Kapitalgesellschaften, erhoben werden. Die Höhe dieser Abgaben, die je nach der Gesellschaftsform verschieden sein kann, muß nach den Kosten des Vorgangs berechnet sein; diese Kosten können pauschal ermittelt werden, dürfen jedoch nicht nach den gesamten Verwaltungs- und Investitionkosten des mit dem Eintragungsvorgang betrauten Dienstes festgesetzt werden.


URTEIL DES GERICHTSHOFES VOM 20. APRIL 1993. - PONENTE CARNI SPA UND CISPADANA COSTRUZIONI SPA GEGEN AMMINISTRAZIONE DELLE FINANZE DELLO STATO. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: TRIBUNALE DI GENOVA UND TRIBUNALE DI MILANO - ITALIEN. - RICHTLINIE 69/335/EWG - HANDELSREGISTER - EINTRAGUNG DER GESELLSCHAFTSVERTRAEGE - JAEHRLICHE GEBUEHR. - VERBUNDENE RECHTSSACHEN C-71/91 UND C-178/91.

Entscheidungsgründe:

1 Der Präsident des Tribunale Genua hat mit Beschluß vom 14. Januar 1991, beim Gerichtshof eingegangen am 21. Februar 1991 gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag vier Fragen nach der Auslegung der Artikel 10 und 12 der Richtlinie 69/335/EWG des Rates vom 17. Juli 1969 betreffend die indirekten Steuern auf die Ansammlung von Kapital (ABl. L 249, S. 25, im folgenden: Richtlinie) zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Der Präsident des Tribunale Mailand hat mit Beschluß vom 27. Juni 1991, beim Gerichtshof eingegangen am 8. Juli 1991 gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag drei Fragen nach der Auslegung derselben Vorschriften zur Vorabentscheidung vorgelegt.

3 Mit Beschluß vom 11. Mai 1992 hat der Präsident des Gerichtshofes die Verbindung dieser beiden Rechtssachen angeordnet.

4 Die im Beschluß vom 14. Januar 1991 (Rechtssache C-71/91) aufgeführten Fragen stellen sich in einem Rechtsstreit zwischen der Ponente Carni SpA (im folgenden: Ponente Carni) und der Finanzverwaltung über die bei der Eintragung von Gesellschaften in das Unternehmensregister fällige staatliche Konzessionsabgabe (im folgenden: Konzessionsabgabe).

5 Diese durch Dekret Nr. 641 des des Präsidenten der Republik vom 26. Oktober 1972 (GURI Nr. 292 vom 11. November 1972, Supplemento Nr. 3) eingeführte Abgabe wird bei der Eintragung der wesentlichen, das Leben der Gesellschaften betreffenden Vorgänge in das Gesellschaftsregister erhoben. Bis zur Einführung des in Artikel 2188 des Bürgerlichen Gesetzbuchs vorgesehenen Unternehmensregisters wird dieses Register bei den Kanzleien der Gerichte geführt.

6 Die Konzessionsabgabe wurde, soweit sie für die Eintragung von Gesellschaftsgründungen in das Register gilt, wiederholt in bezug auf Höhe und regelmässige Fälligkeit geändert.

7 Die Abgabe für die Eintragung wurde durch Artikel 3 Absatz 18 des Gesetzesdekrets Nr. 853 vom 19. Dezember 1984 (GURI Nr. 347 vom 19. Dezember 1984), das als Gesetz Nr. 17 vom 17. Februar 1985 (GURI Nr. 41a vom 17. Februar 1985) verabschiedet worden ist, von 81 000 LIT auf 5 Millionen LIT für Aktiengesellschaften und Kommanditgesellschaften auf Aktien, auf 1 Million LIT für die Gesellschaften mit beschränkter Haftung und auf 100 000 LIT für die anderen Gesellschaften erhöht.

8 Eine Erhöhung dieser Beträge brachte auch das Gesetzesdekret Nr. 173 vom 30. Mai 1988 (GURI Nr. 125 vom 30. Mai 1988). Dieses Dekret ist als Gesetz Nr. 291 vom 26. Juli 1988 (GURI Nr. 175 vom 27. Juli 1988) verabschiedet worden; mit seinem Artikel 1 wurde die Abgabe für die Gesellschaften mit beschränkter Haftung auf 2,5 Millionen LIT und für die anderen Gesellschaften auf 500 000 LIT erhöht. Für die Aktiengesellschaften und die Kommanditgesellschaften auf Aktien wurden je nach Gesellschaftskapital fünf verschiedene Beträge zwischen 9 und 120 Millionen LIT festgesetzt.

9 Das Gesetzesdekret Nr. 69 vom 2. März 1989 (GURI Nr. 51 vom 2. März 1989), das als Gesetz Nr. 154 vom 27. April 1989 (GURI Nr. 99 vom 29. April 1989) verabschiedet worden ist, setzte in Artikel 36 Absatz 8 den Betrag der Abgabe auf 12 Millionen LIT für Aktiengesellschaften und Kommanditgesellschaften auf Aktien, auf 3,5 Millionen LIT für Gesellschaften mit beschränkter Haftung und für die anderen Gesellschaften auf 500 000 LIT festgesetzt.

10 Durch das erwähnte Gesetz Nr. 154 wurde ein Absatz 8a in den Artikel 36 des Gesetzesdekrets vom 2. März 1989 eingefügt, dem zufolge die Abgabe im Jahr 1988 für Aktiengesellschaften und Kommanditgesellschaften auf Aktien 15 Millionen LIT, für Gesellschaften mit beschränkter Haftung 3,5 Millionen LIT und für die anderen Gesellschaften 500 000 LIT betrug. Diese Vorschriften traten an die Stelle der erwähnten Vorschriften des Gesetzes Nr. 291 vom 26. Juli 1988.

11 Zur Fälligkeit der Abgabe wurde in dem erwähnten Gesetzesdekret Nr. 853 bestimmt, daß die Abgabe nicht nur bei der Eintragung der Gründung der Gesellschaft in das Register zu entrichten ist, sondern auch zum 30. Juni jedes folgenden Jahres.

12 Weil Ponente Carni der Auffassung ist, diese Abgabe sei mit den Artikeln 10 und 12 der Richtlinie nicht vereinbar, hat diese Gesellschaft beim Präsidenten des Tribunale Genua beantragt, der Finanzverwaltung im Wege der einstweiligen Anordnung aufzugeben, die von dieser Gesellschaft für die Jahre 1988, 1989 und 1990 entrichtete Konzessionsabgabe zurückzuzahlen.

13 Der Präsident des Tribunale Genua hat das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof die folgenden vier Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1. Können Abgaben mit Gebührencharakter im Sinne des Artikels 12 Absatz 1 Buchstabe e der Richtlinie 69/335/EWG des Rates vom 17. Juli 1969 ausschließlich als Gegenleistung für Dienstleistungen erhoben werden, die von der öffentlichen Verwaltung im Einzelinteresse des Antragstellers auf dessen Antrag individuell erbracht werden, oder zählen zu diesen Abgaben auch Steuern oder Abgaben, die für im Allgemeininteresse erbrachte Dienstleistungen gewöhnlich erhoben werden?

2. Stellt die Verwaltungstätigkeit des Staates zur Führung eines Registers, mit dem die Offenlegung aller gesellschaftsrechtlicher Vorgänge sichergestellt werden soll, gemeinschaftsrechtlich eine individuell erbrachte Dienstleistung dar, für die die Zahlung einer Abgabe im Sinne des Artikels 12 Absatz 1 Buchstabe e der Richtlinie 69/335/EWG verlangt werden kann? Wenn ja, ist Artikel 12 Absatz 1 Buchstabe e der Richtlinie 69/335/EWG des Rates vom 17. Juni 1969 mit einer nationalen Regelung vereinbar, die der Gesellschaft im Sinne des Artikels 3 der Richtlinie Steuern oder Abgaben auferlegt, deren Höhe nicht auf der Grundlage der Kosten der Dienstleistungen bemessen wird?

3. Ist Artikel 12 Absatz 2 der genannten Richtlinie mit einer nationalen Regelung (Artikel 36 Absätze 8 und 8a des Gesetzes Nr. 154 vom 27. April 1989) vereinbar, die den in Artikel 3 dieser Richtlinie genannten Aktiengesellschaften jährlich Steuern oder Abgaben auferlegt, die sich nicht nach den Kosten der Dienstleistung bemessen und die höher sind als diejenigen, die im Staatsgebiet von Gesellschaften mit beschränkter Haftung für gleichartige Vorgänge verlangt werden?

4. Ist die in Artikel 36 Absatz 8 des Gesetzes Nr. 154 vom 27. April 1989 vorgesehene jährliche Steuer für eine staatliche Konzession für die Eintragung der Gesellschaft in das Unternehmensregister eine gemäß Artikel 10 der Richtlinie 69/335/EWG vom 17. Juli 1969 verbotene Steuer oder Abgabe?

14 Die in dem Beschluß vom 27. Juni 1991 (Rechtssache C-178/91) genannte Frage stellt sich in einem Rechtsstreit zwischen der Cispadana Costruzioni und der Finanzverwaltung, in dem es um die oben beschriebene Konzessionsabgabe geht, die bei der Eintragung der Gründung der Gesellschaft in das Register fällig wird.

15 Mit einem beim Präsidenten des Tribunale Mailand gestellten Antrag auf einstweilige Anordnung will die Cispadana Costruzioni, die die Gültigkeit dieser Abgabe im übrigen auch mit einer Klage zur Hauptsache bestritten hat, erreichen, daß die für die Entrichtung dieser Abgabe geltende Frist ausgesetzt wird.

16 Der Präsident des Tribunale Mailand hat das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof die folgenden drei Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1. Ist unter Abgaben mit Gebührencharakter gemäß Artikel 12 Absatz 1 Buchstabe e der Richtlinie 69/335/EWG vom 17. Juli 1969 nur das Entgelt für (freigestellte oder obligatorische) Leistungen, die von der öffentlichen Verwaltung im privaten Interesse des einzelnen erbracht werden, oder auch eine Abgabe für im allgemeinen Interesse erbrachte Leistungen zu verstehen?

2. Muß die nach Artikel 12 Absatz 1 Buchstabe e der Richtlinie 69/335/EWG vom 17. Juli 1969 ° als Abgabe mit Gebührencharakter ° zulässige finanzielle Belastung ein in einem angemessenen Verhältnis zu den tatsächlichen Kosten der erbrachten Leistung stehendes Entgelt darstellen (wie der Gerichtshof mehrfach entschieden hat, wenn auch in Fällen, die ein anderes Gebiet, das Zollrecht, bezueglich der Kosten einer nicht freigestellten, sondern obligatorischen Leistung betrafen, so z. B. Urteil vom 12. Juli 1977 in der Rechtssache 89/76, Kommission/Niederlande, Slg. 1977, 1355, Randnr. 16, und andere, spätere Urteile, zuletzt Urteil vom 21. März 1991 in der Rechtssache C-209/89, Kommission/Italienische Republik), oder können diese tatsächlichen Kosten der Leistung völlig ausser Betracht bleiben?

3. Sind Artikel 10 und 12 Absatz 1 Buchstabe e der Richtlinie 69/335/EWG dahin auszulegen, daß sie der Einführung und/oder Beibehaltung einer nationalen Regelung ° wie sie der italienische Gesetzgeber mit Artikel 3 Absatz 19 des Gesetzesdekrets Nr. 853 vom 19. Dezember 1984 (verabschiedet als Gesetz Nr. 17 vom 17. Februar 1985) eingeführt und wie sie durch Artikel 36 Absatz 8 des Gesetzesdekrets Nr. 69 vom 2. März 1988 (verabschiedet als Gesetz Nr. 154 vom 27. April 1989) geändert worden ist ° entgegenstehen, nach der jährlich eine nicht nach den Kosten der erbrachten Leistung berechnete oder berechenbare Abgabe in einer Höhe zu entrichten ist, die erheblich über dem Betrag liegt, der für denselben Dienst von anderen Kapital- oder Nichtkapital-Gesellschaften zu entrichten ist (die Abgabe ist z. B. für die Gesellschaften mit beschränkter Haftung auf 3,5 Millionen LIT und für die anderen Arten von Gesellschaften auf 500 000 LIT festgesetzt worden)?

17 Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts der Ausgangsverfahren, des Verfahrensablaufs und der beim Gerichtshof eingereichten schriftlichen Erklärungen wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt wird im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.

18 Zunächst sind Zweck und Inhalt der Richtlinie darzustellen.

19 Die Richtlinie will, wie aus ihren Begründungserwägungen hervorgeht, den freien Kapitalverkehr fördern, der als wesentliche Voraussetzung für die Schaffung einer Wirtschaftsunion mit ähnlichen Eigenschaften wie ein Binnenmarkt angesehen wird. Die Verfolgung dieses Ziels setzt hinsichtlich der Steuern auf die Ansammlung von Kapital voraus, daß die in den Mitgliedstaaten bisher geltenden indirekten Steuern aufgehoben und durch eine innerhalb des Gemeinsamen Marktes nur einmal und in allen Mitgliedstaaten in gleicher Höher erhobene Steuer ersetzt werden.

20 Zu diesem Zweck sieht die Richtlinie eine Abgabe auf Kapitalzuführungen vor, die der siebten Begründungserwägung zufolge zur Vermeidung von Störungen des Kapitalverkehrs sowohl hinsichtlich ihrer "Struktur" als auch hinsichtlich ihrer Sätze innerhalb der Gemeinschaft harmonisiert werden muß (Urteil vom 27. Juni 1979 in der Rechtssache 161/78, Conradsen, Slg. 1979, 2221, Randnr. 11). Für diese Gesellschaftsteuer gelten die Artikel 2 bis 9 der Richtlinie.

21 In Artikel 3 sind die Kapitalgesellschaften aufgeführt, für die die Richtlinie gilt. Dazu gehören insbesondere die società per azioni (Aktiengesellschaft), die società in accomandita per azioni (Kommanditgesellschaft auf Aktien) und die società a responsabilità limitata (Gesellschaft mit beschränkter Haftung).

22 In den Artikeln 4 (in der Fassung der Änderungsrichtlinie 85/303/EWG des Rates vom 10. Juni 1985, ABl. L 156, S. 23) und 9 sind, vorbehaltlich der Bestimmungen des Artikels 7, die der Gesellschaftsteuer unterliegenden Vorgänge aufgeführt sowie bestimmte Vorgänge, die die Mitgliedstaaten von der Gesellschaftsteuer befreien können. Gemäß Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe a gehört die Gründung einer Kapitalgesellschaft zu den der Gesellschaftsteuer unterliegenden Vorgängen.

23 Die Richtlinie schreibt entsprechend ihrer letzten Begründungserwägung auch die Beseitigung anderer indirekter Steuern vor, die die gleichen Merkmale wie die Gesellschaftsteuer oder die Wertpapiersteuer aufweisen und deren Beibehaltung die mit der Richtlinie verfolgten Ziele gefährden würde. Diese indirekten Steuern, deren Erhebung untersagt ist, sind in den Artikeln 10 und 11 der Richtlinie aufgeführt. In Artikel 10 heisst es:

"Abgesehen von der Gesellschaftsteuer erheben die Mitgliedstaaten von Gesellschaften, Personenvereinigungen oder juristischen Personen mit Erwerbszweck keinerlei andere Steuern oder Abgaben auf:

a) die in Artikel 4 genannten Vorgänge;

b)...

c) die der Ausübung einer Tätigkeit vorangehende Eintragung oder sonstige Formalität, der eine Gesellschaft, Personenvereinigung oder juristische Person mit Erwerbszweck aufgrund ihrer Rechtsform unterworfen werden kann."

24 Artikel 12 Absatz 1 der Richtlinie enthält eine abschließende Liste der anderen keine Gesellschaftsteuer darstellenden Steuern oder Abgaben, die in Abweichung von den Artikeln 10 und 11 von Kapitalgesellschaften im Zusammenhang mit den in den Artikeln 10 und 11 genannten Vorgängen erhoben werden können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. Februar 1988 in der Rechtssache 36/86, Dansk Sparinvest, Slg. 1988, 409, Randnr. 9). Artikel 12 der Richtlinie erwähnt in Absatz 1 Buchstabe e insbesondere die "Abgaben mit Gebührencharakter". Nach Artikel 12 Absatz 2 sind bei den in Absatz 1 genannten Steuern und Abgaben bestimmte Formen der Diskriminierung untersagt.

Zu Artikel 10 der Richtlinie

25 Nach den vorgelegten Fragen geht es zunächst im wesentlichen darum, ob eine wegen der Eintragung von Kapitalgesellschaften jährlich zu entrichtende Abgabe in den Anwendungsbereich des Artikels 10 der Richtlinie fällt.

26 Zum einen ist in dem von dem innerstaatlichen Richter angesprochenen Fall die jährliche Abgabe von der Gesellschaftsteuer zu unterscheiden, für die die Artikel 2 bis 9 der Richtlinie gelten; zum anderen handelt es sich bei der Eintragung, die die Gegenleistung zu der Abgabe bildet, um den Vorgang, der in Artikel 3 der ersten Richtlinie 68/151/EWG des Rates vom 9. März 1968 zur Koordinierung der Schutzbestimmungen, die in den Mitgliedstaaten den Gesellschaften im Sinne des Artikels 58 Absatz 2 des Vertrages im Interesse der Gesellschafter sowie Dritter vorgeschrieben sind, um diese Bestimmungen gleichwertig zu gestalten (ABl. L 65, S. 8), vorgesehen ist.

27 Die Regierungen Italiens, der Niederlande und des Vereinigten Königreichs sind der Ansicht, daß eine Abgabe, die jährlich zu entrichten sei und die der Finanzierung des öffentlichen Dienstes diene, der das zur Eintragung der Gesellschaften bestimmte Register führe, nicht zu den nach Artikel 10 der Richtlinie verbotenen Steuern gehöre. Diese Vorschrift erfasse nur Abgaben, die dieselben Merkmale aufwiesen, wie die Gesellschaftsteuer, was aber für die von den innerstaatlichen Richtern zu behandelnde Abgabe nicht zutreffe.

28 Die Kommission, Ponente Carni und Cispadana Costruzioni dagegen stehen auf dem Standpunkt, eine solche Abgabe, die wegen der Eintragung der Gesellschaft und der Aufrechterhaltung der Eintragung fällig werde, werde von dem Verbot des Artikels 10 der Richtlinie erfasst.

29 Die indirekten Steuern, die die gleichen Merkmale aufweisen wie die Gesellschaftsteuer, fallen in den Anwendungsbereich des Artikels 10 der Richtlinie. Es werden also Steuern erfasst, die ° unabhängig von ihrer Form ° wegen der Gründung einer Kapitalgesellschaft (Buchstabe a) zu entrichten sind oder im Hinblick auf die der Ausübung einer Tätigkeit vorangehende Eintragung oder sonstige Formalität, der eine Gesellschaft aufgrund ihrer Rechtsform unterworfen werden kann (Buchstabe c).

30 Daraus folgt, daß die wegen der Eintragung einer Kapitalgesellschaft zu entrichtenden Steuern und Abgaben in den Anwendungsbereich der erwähnten Bestimmungen fallen und ° vorbehaltlich der in Artikel 12 vorgesehenen Abweichungen ° grundsätzlich verboten sind. Entgegen der von den Regierungen Italiens, der Niederlande und des Vereinigten Königreichs vorgetragenen Auffassung berechtigt vom Wortlaut und Zweck des Artikels 10 her nichts zu der Annahme, diese Bestimmung sei ohne weiteres in den Fällen anwendbar, in denen der Ertrag der Abgabe zur Finanzierung des Dienstes beiträgt, der das zur Eintragung von Gesellschaften bestimmte Register zu führen hat. Ganz im Gegenteil würde die von den genannten Regierungen vorgeschlagene Auslegung, nach der die Mitgliedstaaten eine andere Steuer als die Gesellschaftsteuer einführen könnten, die von den Kapitalgesellschaften bei der Erfuellung einer der für ihre Gründung wesentlichen Formalitäten erhoben würde und deren Umfang überdies nicht durch das Gemeinschaftsrecht begrenzt wäre, die mit der Richtlinie verfolgten Ziele gefährden.

31 Der Umstand, daß die Abgabe nicht nur bei der Eintragung der Gesellschaft fällig wird, sondern auch in jedem darauffolgenden Jahr, kann für sich allein nicht dazu führen, daß die Abgabe vom Verbot des Artikels 10 nicht erfasst wird. Wie die Kommission und die in den Ausgangsverfahren klagenden Unternehmen hervorheben, würde jede andere Auslegung Artikel 10 die Wirkung nehmen, denn die Mitgliedstaaten könnten dann Kapitalgesellschaften mit einer jährlichen Steuer belegen, die allein mit der Aufrechterhaltung der Eintragung der Gesellschaft begründet wird.

32 Auf die gestellte Frage ist folglich zu antworten, daß Artikel 10 der Richtlinie so auszulegen ist, daß er es vorbehaltlich der in Artikel 12 vorgesehenen Ausnahmen verbietet, eine jährliche Abgabe wegen der Eintragung von Kapitalgesellschaften zu erheben, und zwar auch dann, wenn der Ertrag dieser Abgabe zur Finanzierung des Dienstes beiträgt, der mit der Führung des für die Eintragung von Gesellschaften bestimmten Registers betraut ist.

Zu den Ausnahmebestimmungen des Artikels 12 der Richtlinie und dem Begriff der Abgaben mit Gebührencharakter

33 Mit den gestellten Fragen soll des weiteren im wesentlichen geklärt werden, ob in Abgaben, die als Gegenleistung für im Allgemeininteresse geleistete Dienste, wie sie etwa mit der der Eintragung von Gesellschaften erbracht werden, erhoben werden, Abgaben mit Gebührencharakter gesehen werden können, ob diese Wertung notwendigerweise davon abhängt, daß zwischen der Höhe der Abgaben und den Kosten des geleisteten Dienstes ein Zusammenhang besteht, und ob diese Abgaben schließlich ohne Verstoß gegen die Vorschriften der Richtlinie und insbesondere ihren Artikel 12 Absatz 2 unterschiedlich hoch sein können, je nachdem, ob es sich bei der zur Entrichtung verpflichteten Gesellschaft um eine Aktiengesellschaft oder um eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung handelt.

Abgaben als Vergütung für im Allgemeininteresse geleistete Dienste

34 Die Kommission, die Regierungen Italiens und des Vereinigten Königreichs sowie Cispadana Costruzioni sind der Auffassung, für die Definition der Abgaben mit Gebührencharakter im Sinne der Richtlinie könne nicht in vollem Umfang auf die Grundsätze zurückgegriffen werden, die der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung entwickelt habe, um die nach den Artikeln 9 und 16 des Vertrages verbotenen Abgaben zollgleicher Wirkung von den Vergütungen für tatsächlich geleistete Dienste abzugrenzen. Anders als Vergütungen für geleistete Dienste könnten Abgaben mit Gebührencharakter Gegenleistungen für Vorgänge darstellen, die gesetzlich vorgeschrieben seien und im Allgemeininteresse erfolgten.

35 Ponente Carni dagegen ist der Ansicht, Abgaben hätten Gebührencharakter im Sinne der Richtlinie nur dann, wenn sie sich auf bestimmte fakultative Leistungen bezögen, die der Staat im Interesse eines einzelnen erbringe.

36 Mit den Grundsätzen, die der Gerichtshof zur Definition der Vergütungen für geleistete Dienste entwickelt hat, soll den im Vertrag enthaltenen Verboten der Erhebung von ° naturgemäß nur für eingeführte Erzeugnisse geltenden ° Abgaben zollgleicher Wirkung zu voller Wirkung verholfen werden; demgemäß sollen bei Überschreitung der Grenze nur Abgaben und Gebühren zugelassen werden, die die Gegenleistung für einen besonderen oder individuellen Vorteil zugunsten des Wirtschaftsteilnehmers bilden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 30. Mai 1989 in der Rechtssache 340/87, Komission/Italien, Slg. 1989, 1483, Randnr. 15).

37 Das mit der Richtlinie verfolgte Ziel hat nichts mit den Vertragsbestimmungen über die zollgleichen Abgaben zu tun. Im Rahmen der Anwendung des Artikels 12 der Richtlinie kann zwar von einer Abgabe mit Gebührencharakter nur gesprochen werden, wenn die Abgabe anders als allgemeine Belastungen die Gegenleistung für einen individuell geleisteten Dienst darstellt; doch kann keine der Bestimmungen des Artikels 12 in Ermangelung ausdrücklicher dahin lautender Vorschriften so verstanden werden, daß der Begriff der Abgaben mit Gebührencharakter eine Abgabe nicht erfasst, die die Gegenleistung für einen vom Gesetz im Allgemeininteresse angeordneten Vorgang darstellt.

38 Eben dies kann bei einer Abgabe der Fall sein, die als Gegenleistung für einen Vorgang wie die Eintragung von Kapitalgesellschaften fällig wird, also einen Vorgang, der im Einklang mit dem Gemeinschaftsrecht von einem innerstaatlichen Gesetz sowohl im Interesse Dritter als auch in dem der Gesellschaften selbst vorgeschrieben wird.

Zum Zusammenhang zwischen dem Umfang der Abgaben mit Gebührencharakter und den Kosten des geleisteten Dienstes

39 Die Kommission, Cispadana Costruzioni und Ponente Carni vertreten unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung zu Vergütungen für geleistete Dienste die Ansicht, eine Abgabe mit Gebührencharakter müsse zu den Kosten des geleisteten Dienstes in einem angemessenen Verhältnis stehen. Eine pauschale Ermittlung dieser Kosten sei allerdings zulässig, sofern ein Zusammenhang zwischen diesen Kosten und der Höhe der Abgabe bestehe.

40 Die italienische Regierung ist der Auffassung, die Erhebung von Abgaben mit Gebührencharakter unter den in der Richtlinie vorgesehenen Bedingungen müsse auch dann zulässig sein, wenn es, was für die Führung des Gesellschaftsregisters zutreffe, nicht möglich sei, die Kosten des geleisteten Dienstes zu berechnen.

41 Die Unterscheidung zwischen den nach Artikel 10 der Richtlinie verbotenen Belastungen und den Abgaben mit Gebührencharakter bringt es mit sich, daß zu letzteren nur ° bei der Eintragung oder jährlich fällig werdenden ° Abgaben zu rechnen sind, deren Höhe sich nach den Kosten des geleisteten Dienstes richtet.

42 In einer Abgabe, deren Höhe keinen Zusammenhang mit den Kosten des besonderen Dienstes aufwiese oder deren Höhe sich nicht nach den Kosten des Vorgangs, für den sie die Gegenleistung darstellt, richtete, sondern nach den gesamten Verwaltungs- und Investitionskosten des mit dem Vorgang betrauten Dienstes, müsste eine Belastung gesehen werden, für die allein das Verbot des Artikels 10 der Richtlinie gilt.

43 Bei einigen Vorgängen, wie beispielsweise der Eintragung einer Gesellschaft, kann es schwierig sein, die Kosten des Vorgangs zu ermitteln. In einem solchen Fall kann die Bemessung dieser Kosten nur pauschal erfolgen und muß in sachgerechter Weise vorgenommen werden, indem insbesondere die Anzahl und der Rang der beteiligten Bediensteten, die von ihnen aufgewendete Zeit sowie die für den Vorgang anfallenden Sachkosten berücksichtigt werden.

Zum Bestehen unterschiedlicher, auf die Rechtsform der Gesellschaften abstellender Abgabenbeträge

44 Keine Vorschrift der Richtlinie, insbesondere auch nicht Artikel 12 Absatz 2, nach dem lediglich bestimmte Formen der Diskriminierung in bezug auf alle Kapitalgesellschaften untersagt sind, verbietet es den Mitgliedstaaten, für die Eintragung der Aktiengesellschaften einerseits und die Eintragung der Gesellschaften mit beschränkter Haftung andererseits unterschiedliche Beträge festzusetzen, wenn ° wie die Kommission, Cispadana und Ponente Carni hervorheben ° darauf geachtet wird, daß keiner der von diesen Gesellschaften zu entrichtenden Beträge höher ist als die Kosten der Eintragung.

45 Auf die gestellte Frage ist folglich zu antworten, daß Artikel 12 der Richtlinie so auszulegen ist, daß die in seinem Absatz 1 Buchstabe e genannten Abgaben mit Gebührencharakter Abgaben sein können, die als Gegenleistung für im Allgemeininteresse gesetzlich vorgeschriebene Vorgänge, wie etwa die Eintragung von Kapitalgesellschaften, zu entrichten sind. Die Höhe dieser Abgaben, die je nach der Gesellschaftsform verschieden sein kann, muß nach den Kosten des Vorgangs, die pauschal ermittelt werden können, berechnet sein.

Kostenentscheidung:

Kosten

46 Die Auslagen der Regierungen Italiens, der Niederlande und des Vereinigten Königreichs sowie der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in den bei den vorlegenden Gerichten anhängigen Verfahren; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieser Gerichte.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

auf die ihm vom Präsidenten des Tribunale Genua mit Beschluß vom 14. Januar 1991 und vom Präsidenten des Tribunale Mailand mit Beschluß vom 27. Juni 1991 vorgelegten Fragen für Recht erkannt:

1) Artikel 10 der Richtlinie 69/335/EWG des Rates vom 17. Juli 1969 betreffend die indirekten Steuern auf die Ansammlung von Kapital ist so auszulegen, daß er es vorbehaltlich der in Artikel 12 vorgesehenen Ausnahmen verbietet, eine jährliche Abgabe wegen der Eintragung von Kapitalgesellschaften zu erheben, und zwar auch dann, wenn der Ertrag dieser Abgabe zur Finanzierung des Dienstes beiträgt, der mit der Führung des für die Eintragung von Gesellschaften bestimmten Registers betraut ist.

2) Artikel 12 der Richtlinie ist so auszulegen, daß die in Absatz 1 Buchstabe e dieses Artikels genannten Abgaben mit Gebührencharakter Abgaben sein können, die als Gegenleistung für im Allgemeininteresse gesetzlich vorgeschriebene Vorgänge, wie etwa die Eintragung von Kapitalgesellschaften, erhoben werden. Die Höhe dieser Abgaben, die je nach der Gesellschaftsform verschieden sein kann, muß nach den Kosten des Vorgangs, die pauschal ermittelt werden können, berechnet sein.

Ende der Entscheidung

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