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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 17.03.1993
Aktenzeichen: C-72/91
Rechtsgebiete: EWG-Vertrag, Flaggenrechtsgesetz


Vorschriften:

EWG-Vertrag Art. 92 Abs. 1
EWG-Vertrag Art. 117
Flaggenrechtsgesetz § 21 Abs. 4
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

1. Der Umstand, daß ein Mitgliedstaat auf in seinem Internationalen Seeschiffahrtsregister eingetragene Kauffahrteischiffe eine Regelung anwendet, wonach Seeleute, die Staatsangehörige von Drittstaaten sind und in dem betreffenden Mitgliedstaat keinen Wohnsitz oder ständigen Aufenthalt haben, Arbeits- und Vergütungsbedingungen unterworfen werden können, für die nicht das Recht dieses Mitgliedstaats gilt und die deutlich ungünstiger sind als diejenigen für die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats, stellt keine staatliche Beihilfe im Sinne von Artikel 92 Absatz 1 EWG-Vertrag dar.

Eine solche Regelung zielt nämlich in ihrem Zweck und ihrer allgemeinen Systematik nicht auf die Schaffung eines Vorteils ab, der mit staatlichen Mitteln finanziert wird, d. h. eine zusätzliche Belastung für den Staat oder die vom Staat benannten oder errichteten öffentlichen oder privaten Einrichtungen darstellen würde, da mit ihr lediglich zugunsten der Seeschiffahrtsunternehmen der Rahmen verändert werden soll, innerhalb dessen die vertraglichen Beziehungen zwischen diesen Unternehmen und ihren Arbeitnehmern zustande kommen. Ihre Auswirkungen auf die Berechnungsgrundlage für die Sozialversicherungsbeiträge und auf die Steuereinnahmen, die von Vergütungen von geringer Höhe berechnet werden, sind einer solchen Regelung immanent und stellen kein Mittel dar, um den betroffenen Unternehmen einen bestimmten Vorteil zu gewähren.

2. Der programmatische Charakter der in Artikel 117 EWG-Vertrag aufgezählten sozialen Ziele bedeutet nicht, daß diese keinerlei Rechtswirkung hätten. Sie stellen nämlich wichtige Anhaltspunkte unter anderem für die Auslegung anderer Vorschriften des Vertrages und des sekundären Gemeinschaftsrechts im Sozialbereich dar. Die Verwirklichung dieser Ziele muß jedoch das Ergebnis einer Sozialpolitik sein, deren Festlegung Sache der zuständigen Stellen ist.

Infolgedessen können weder die allgemeinen Leitlinien der von den einzelnen Mitgliedstaaten festgelegten Sozialpolitik noch in diesem Rahmen erlassene besondere Maßnahmen auf ihre Übereinstimmung mit den in Artikel 117 EWG-Vertrag aufgeführten sozialen Zielen gerichtlich überprüft werden.

Aufgrund dieses programmatischen Charakters verfügen die Mitgliedstaaten, auch wenn die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen, wie sich aus der Präambel sowie aus den Artikeln 2 und 117 EWG-Vertrag ergibt, ein wesentliches Ziel des Vertrages darstellt, doch insoweit über eine Entscheidungsfreiheit, die es ausschließt, daß die in Artikel 5 EWG-Vertrag enthaltene Verpflichtung für die einzelnen Rechte begründet, die die nationalen Gerichte zu schützen hätten.


URTEIL DES GERICHTSHOFES VOM 17. MAERZ 1993. - FIRMA SLOMAN NEPTUN SCHIFFAHRTS AG GEGEN SEEBETRIEBSRAT BODO ZIESEMER DER SLOMAN NEPTUN SCHIFFAHRTS AG. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: ARBEITSGERICHT BREMEN - DEUTSCHLAND. - ARTIKEL 92 UND 117 EWG-VERTRAG - NATIONALE RECHTSVORSCHRIFTEN UEBER DEN SEEVERKEHR - BESCHAEFTIGUNG AUSLAENDISCHER SEELEUTE OHNE WOHNSITZ ODER STAENDIGEN AUFENTHALT IN DER BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND ZU SCHLECHTEREN ARBEITS- UND VERGUETUNGSBEDINGUNGEN ALS DENJENIGEN FUER VERGLEICHBARE DEUTSCHE SEELEUTE. - VERBUNDENE RECHTSSACHEN C-72/91 UND C-73/91.

Entscheidungsgründe:

1 Das Arbeitsgericht Bremen hat mit zwei Beschlüssen vom 9. Oktober 1990, beim Gerichtshof eingegangen am 22. Februar 1991, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag eine Frage nach der Auslegung der Artikel 92 und 117 EWG-Vertrag zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Frage stellt sich in zwei Rechtsstreitigkeiten zwischen der Sloman Neptun Schiffahrts AG (im folgenden: Neptun AG), einer Reederei in Bremen, und dem Seebetriebsrat dieser Firma.

3 Wie sich aus den Akten ergibt, beantragte die Neptun AG gemäß § 99 des Betriebsverfassungsgesetzes die Zustimmung des Seebetriebsrats zur Einstellung eines philippinischen Funkoffiziers (Rechtssache C-72/91) und fünf weiterer philippinischer Seeleute (Rechtssache C-73/91) auf einem von ihr bereederten Schiff, das sie im Internationalen Seeschiffahrtsregister (im folgenden: ISR) hatte eintragen lassen. Das ISR wurde durch das Gesetz zur Einführung eines zusätzlichen Registers für Seeschiffe unter der Bundesflagge im internationalen Verkehr (Internationales Seeschiffahrtsregister ° ISR) vom 23. März 1989 (BGBl. I S. 550; im folgenden: ISR-Gesetz) eingeführt.

4 Gemäß § 21 Absatz 4 des Flaggenrechtsgesetzes, der durch Artikel 1 Nr. 2 des ISR-Gesetzes in dieses Gesetz eingefügt wurde, wurde vereinbart, daß die Arbeitsverträge der fraglichen Seeleute nicht deutschem Recht unterliegen sollen.

5 § 21 Absatz 4 des Flaggenrechtsgesetzes lautet:

"Arbeitsverhältnisse von Besatzungsmitgliedern eines im Internationalen Seeschiffahrtsregister eingetragenen Kauffahrteischiffes, die im Inland keinen Wohnsitz oder ständigen Aufenthalt haben, unterliegen bei der Anwendung des Artikels 30 des Einführungsgesetzes zum Bürgerlichen Gesetzbuche vorbehaltlich der Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft nicht schon auf Grund der Tatsache, daß das Schiff die Bundesflagge führt, dem deutschen Recht. Werden für die in Satz 1 genannten Arbeitsverhältnisse von ausländischen Gewerkschaften Tarifverträge abgeschlossen, so haben diese nur dann die im Tarifvertragsgesetz genannten Wirkungen, wenn für sie die Anwendung des im Geltungsbereich des Grundgesetzes geltenden Tarifrechts sowie die Zuständigkeit der deutschen Gerichte vereinbart worden ist. Nach Inkrafttreten dieses Absatzes abgeschlossene Tarifverträge beziehen sich auf die in Satz 1 genannten Arbeitsverhältnisse im Zweifel nur, wenn sie dies ausdrücklich vorsehen. Die Vorschriften des deutschen Sozialversicherungsrechts bleiben unberührt."

6 Nachdem der Seebetriebsrat seine Zustimmung zur Einstellung der fraglichen Personen verweigert hatte, beantragte die Neptun AG beim Arbeitsgericht Bremen, die Zustimmung zu ersetzen. Der Seebetriebsrat machte im Verfahren vor dem vorlegenden Gericht geltend, die durch das ISR-Gesetz eingefügte Bestimmung sei nicht nur verfassungswidrig, sondern verstosse auch gegen die Artikel 92 und 117 EWG-Vertrag, da sie es ermögliche, Staatsangehörige von Drittstaaten zu schlechteren Vergütungs- und Sozialschutzbedingungen einzustellen, als sie für nach deutschem Recht angeheuerte Seeleute gälten.

7 Das Arbeitsgericht Bremen ist der Auffassung, daß es für seine Entscheidung der Rechtsstreitigkeiten eine Auslegung dieser Bestimmungen benötigt. Es hat daher das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Ist es mit Artikel 92 und Artikel 117 EWG-Vertrag vereinbar, wenn Artikel 1 Nr. 2 des Gesetzes zur Einführung eines zusätzlichen Registers für Seeschiffe unter der Bundesflagge im internationalen Verkehr (Internationales Seeschiffahrtsregister ° ISR) vom 23. März 1989 (BGBl. I S. 550) es ermöglicht, daß ausländische Seeleute ohne Wohnsitz oder ständigen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland von deutschen Tarifverträgen nicht erfasst werden und so zu niedrigerer "Heimatlandheuer" und schlechteren Arbeitsbedingungen als vergleichbare deutsche Seeleute beschäftigt werden?

8 Die deutsche Regierung trägt vor, § 21 Absatz 4 des Flaggenrechtsgesetzes sei eingeführt worden, um die in Artikel 30 Absatz 2 EGBGB enthaltenen Vorschriften über das auf Arbeitsverträge anwendbare Recht für den Bereich der Seeschiffahrt zu präzisieren. Er diene dazu, die internationale Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Seeschiffahrt durch die Senkung der Personalkosten zu sichern.

9 Die deutsche Regierung weist insoweit darauf hin, daß die Handelsschiffstonnage unter deutscher Flagge von Ende 1977 bis Ende 1987 von 9,3 auf 3,8 Millionen Bruttoregistertonnen geschrumpft sei. Allein im Jahr 1987 habe sich die Handelsflotte unter deutscher Flagge um 11 % reduziert. Anfang 1988 seien nur noch 19 130 Seeleute an Bord von Schiffen unter deutscher Flagge gefahren, während es Anfang 1971 noch 55 301 Personen gewesen seien.

10 Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts und des rechtlichen Rahmens der Ausgangsverfahren sowie des Verfahrensablaufs und der beim Gerichtshof eingereichten schriftlichen Erklärungen wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt wird im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.

11 Vorab ist darauf hinzuweisen, daß der Vertrag in seinem Artikel 93 nach ständiger Rechtsprechung (insbesondere Urteil vom 22. März 1977 in der Rechtssache 78/76, Steinike und Weinlig, Slg. 1977, 595, Randnr. 9) der Kommission die fortlaufende Überprüfung der Beihilfen übertragen hat und somit davon ausgeht, daß die Feststellung der Unvereinbarkeit einer Beihilfe mit dem Gemeinsamen Markt in einem geeigneten Verfahren zu erfolgen hat, dessen Durchführung vorbehaltlich der Kontrolle durch den Gerichtshof Sache der Kommission ist.

12 Der Gerichtshof hat jedoch in demselben Urteil (Randnr. 14) ausgeführt, daß die nationalen Gerichte mit Rechtsstreitigkeiten befasst werden können, die ihnen Anlaß geben, den in Artikel 92 enthaltenen Begriff der Beihilfe auszulegen und anzuwenden, um zu bestimmen, ob eine ohne Beachtung des in Artikel 93 Absatz 3 vorgesehenen Vorprüfungsverfahrens eingeführte staatliche Maßnahme diesem Verfahren hätte unterworfen werden müssen.

13 Aufgrund des Vorstehenden ist anzunehmen, daß die Vorabentscheidungsfrage dahin geht, ob eine Regelung eines Mitgliedstaats wie diejenige über das ISR, wonach Arbeitsverträge mit Seeleuten, die Staatsangehörige von Drittstaaten sind und in dem betreffenden Mitgliedstaat keinen Wohnsitz oder ständigen Aufenthalt haben, Arbeits- und Vergütungsbedingungen unterworfen werden können, für die nicht das Recht dieses Mitgliedstaats gilt und die deutlich ungünstiger sind als diejenigen für die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats, als staatliche Beihilfe im Sinne von Artikel 92 Absatz 1 EWG-Vertrag anzusehen ist und ob Artikel 117 EWG-Vertrag der Anwendung einer solchen Regelung entgegensteht.

Zur Auslegung des Artikels 92 EWG-Vertrag

14 Das vorlegende Gericht vertritt den Standpunkt, daß die streitige Regelung eine staatliche Beihilfe im Sinne von Artikel 92 Absatz 1 EWG-Vertrag sei, da sie die teilweise Nichtanwendung des deutschen Arbeits- und Sozialrechts ermögliche.

15 Das Gericht beruft sich für diese Ansicht auf die Rechtsprechung des Gerichtshofes, nach der die teilweise Befreiung von den Soziallasten, die die Unternehmen eines bestimmten Industriezweigs zu tragen haben, eine Beihilfe im Sinne dieser Vorschrift darstellt, wenn sie diese Unternehmen teilweise von den finanziellen Lasten freistellen soll, die sich aus der normalen Anwendung des allgemeinen Systems der gesetzlich vorgeschriebenen Abgaben ergeben (Urteil vom 2. Juli 1974 in der Rechtssache 173/73, Italien/Kommission, Slg. 1974, 709). Die fragliche Regelung stelle die Reeder, die ihre Schiffe im IRS eintragen ließen, von bestimmten finanziellen Lasten frei, insbesondere von den höheren Sozialversicherungsbeiträgen, die im Fall der Beschäftigung deutscher Seeleute zu entrichten wären.

16 Weiter führt das vorlegende Gericht aus, im Zusammenhang mit der Einführung des ISR sei auch das Gesetz zur Änderung von Vorschriften der See-Unfallversicherung in der Reichsversicherungsordnung vom 10. Juli 1989 (BGBl I S. 1383) ergangen. Danach würden die Heuern, die Seeleuten gezahlt würden, deren Arbeitsvertrag nicht dem deutschen Recht unterliege, bei der Festsetzung von Durchschnittsheuern für die Ermittlung der Höhe der Beiträge zur Sozialversicherung nicht einbezogen. Diese Beiträge würden für die genannten Seeleute nach dem tatsächlich gezahlten Entgelt berechnet. Das führe für die betroffenen Reeder zu einer spürbaren Minderung ihrer Belastungen, da sie den Differenzbetrag zwischen dem Beitrag auf das genannte Entgelt und dem Beitrag auf die durchschnittliche deutsche Heuer nicht zu entrichten brauchten.

17 Die Kommission ist der Auffassung, daß jede Maßnahme gleich welcher Art, die für einen bestimmten Sektor eine Entlastung mit sich bringt, die nicht Teil eines umfassenden Systems ist, selbst dann eine staatliche Beihilfe im Sinne von Artikel 92 Absatz 1 EWG-Vertrag ist, wenn sie nicht mit öffentlichen Mitteln finanziert wird. Dies ergebe sich zum einen aus der Auslegung des Wortlauts der genannten Vorschrift, der zwischen staatlichen und aus staatlichen Mitteln gewährten Beihilfen unterscheide, und zum anderen aus dem Zweck der Vorschrift, die eine Ausprägung des Grundsatzes des Artikels 3 Buchstabe f EWG-Vertrag für den Bereich der staatlichen Beihilfen sei. Das ISR-Gesetz, das erlassen worden sei, um die deutsche Seeschiffahrt durch Gewährung besonderer Vorteile wettbewerbsfähiger zu machen, erfuelle alle Merkmale einer staatlichen Beihilfe. Jedenfalls werde die streitige Maßnahme aus staatlichen Mitteln gewährt. Infolge der geringeren Höhe der Vergütungen, die im Rahmen von nicht dem deutschen Recht unterliegenden Verträgen festgesetzt würden, komme es nämlich zu Einbussen an Steuererträgen. Diese Auffassung wird vom Seebetriebsrat geteilt.

18 Nach Artikel 92 EWG-Vertrag sind staatliche oder aus staatlichen Mitteln gewährte Beihilfen gleich welcher Art, die durch die Begünstigung bestimmter Unternehmen oder Produktionszweige den Wettbewerb verfälschen oder zu verfälschen drohen, mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbar, soweit sie den Handel zwischen Mitgliedstaaten beeinträchtigen.

19 Wie der Gerichtshof im Urteil vom 24. Januar 1978 in der Rechtssache 82/77 (Van Tiggele, Slg. 1978, 25, Randnrn. 23 bis 25) entschieden hat, sind nur solche Vorteile als Beihilfen im Sinne von Artikel 92 Absatz 1 EWG-Vertrag anzusehen, die unmittelbar oder mittelbar aus staatlichen Mitteln gewährt werden. Schon der Wortlaut dieser Bestimmung wie auch die in Artikel 93 EWG-Vertrag enthaltenen Verfahrensvorschriften zeigen nämlich, daß die aus anderen als staatlichen Mitteln gewährten Vorteile nicht in den Anwendungsbereich der fraglichen Vorschrift fallen. Die Unterscheidung zwischen staatlichen Beihilfen und aus staatlichen Mitteln gewährten Beihilfen dient dem Zweck, in den Beihilfebegriff nicht nur unmittelbar vom Staat gewährte Beihilfen, sondern auch jene Beihilfen einzubeziehen, die durch vom Staat benannte oder errichtete öffentliche oder private Einrichtungen gewährt werden.

20 Daher ist zu prüfen, ob die Vorteile aus einer Regelung wie derjenigen über das ISR aus staatlichen Mitteln gewährt werden.

21 Die fragliche Regelung zielt in ihrem Zweck und ihrer allgemeinen Systematik nicht auf die Schaffung eines Vorteils ab, der eine zusätzliche Belastung für den Staat oder für die genannten Einrichtungen darstellen würde, sondern mit ihr soll lediglich zugunsten der Seeschiffahrtsunternehmen der Rahmen verändert werden, innerhalb dessen die vertraglichen Beziehungen zwischen diesen Unternehmen und ihren Arbeitnehmern zustande kommen. Die sich daraus ergebenden Folgen sind, sowohl soweit sie die vom vorlegenden Gericht erwähnte Differenz in der Berechnungsgrundlage für die Sozialversicherungsbeiträge als auch soweit sie die von der Kommission angeführte eventuelle Einbusse an Steuererträgen infolge der geringen Höhe der Vergütungen betreffen, einer solchen Regelung immanent und stellen kein Mittel dar, um den betroffenen Unternehmen einen bestimmten Vorteil zu gewähren.

22 Somit ist eine Regelung wie diejenige über das ISR keine staatliche Beihilfe im Sinne des Artikels 92 Absatz 1 EWG-Vertrag.

Zur Auslegung des Artikels 117 EWG-Vertrag

23 Das vorlegende Gericht vertritt die Ansicht, Artikel 117 EWG-Vertrag sei keine blosse Programmvorschrift, sondern verpflichte die Mitgliedstaaten zur Verwirklichung der sozial- und wettbewerbsrechtlichen Ziele der Gemeinschaft. Daher müssten die Mitgliedstaaten nach dieser Vorschrift zum einen den Zustrom von Arbeitskräften aus Drittländern überwachen, um ein "Lohndumping" und andere Störungen des Arbeitsmarkts zu verhindern, zum anderen müssten sie danach Maßnahmen treffen, die diesen Arbeitskräften die Teilhabe am sozialen Fortschritt ermöglichten, wenn sie in der Gemeinschaft beschäftigt seien. Diese Auslegung des Artikels 117 werde durch die mit Artikel 118 und Artikel 48 EWG-Vertrag verfolgten Ziele bestätigt. Die genannten Verpflichtungen würden aber im Rahmen der Vorschriften, um die es im Ausgangsverfahren gehe, nicht beachtet.

24 Das vorlegende Gericht sowie der Seebetriebsrat vertreten ferner die Ansicht, Artikel 5 EWG-Vertrag verpflichte die Mitgliedstaaten, den bestehenden Sozialschutz nicht aufs Spiel zu setzen. Die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen sei eines der Ziele des Vertrages, deren Verwirklichung nicht durch Maßnahmen der Mitgliedstaaten gefährdet werden dürfe.

25 Hierzu ist festzustellen, daß Artikel 117 EWG-Vertrag nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes (Urteile vom 15. Juni 1978 in der Rechtssache 149/77, Defrenne, Slg. 1978, 1365, Randnr. 19, und vom 29. September 1987 in der Rechtssache 126/86, Giménez Zära, Slg. 1987, 3697, Randnr. 13) im wesentlichen programmatischen Charakter besitzt. Er betrifft nur soziale Ziele, deren Verwirklichung das Ergebnis des Handelns der Gemeinschaft, der engen Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten und des Funktionierens des Gemeinsamen Marktes sein muß.

26 Zwar bedeutet der programmatische Charakter der in Artikel 117 aufgezählten sozialen Ziele nicht, daß diese keinerlei Rechtswirkung hätten. Sie stellen nämlich wichtige Anhaltspunkte unter anderem für die Auslegung anderer Vorschriften des Vertrages und des sekundären Gemeinschaftsrechts im Sozialbereich dar. Die Verwirklichung dieser Ziele muß jedoch das Ergebnis einer Sozialpolitik sein, deren Festlegung Sache der zuständigen Stellen ist (Urteil Giménez Zära, a. a. O., Randnr. 14).

27 Infolgedessen können weder die allgemeinen Leitlinien der von den einzelnen Mitgliedstaaten festgelegten Sozialpolitik noch besondere Maßnahmen wie die in den Vorlagebeschlüssen genannten auf ihre Übereinstimmung mit den in Artikel 117 EWG-Vertrag aufgeführten sozialen Zielen gerichtlich überprüft werden.

28 Schließlich stellt die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen, wie sich aus der Präambel sowie aus den Artikeln 2 und 117 EWG-Vertrag ergibt, zwar ein wesentliches Ziel des Vertrages dar; die Mitgliedstaaten verfügen aber insoweit über eine Entscheidungsfreiheit, die es ausschließt, daß die in Artikel 5 EWG-Vertrag enthaltene Verpflichtung für die einzelnen Rechte begründet, die die nationalen Gerichte zu schützen hätten.

29 Nach alledem ist auf die Frage des vorlegenden Gerichts zu antworten, daß eine Regelung eines Mitgliedstaats wie diejenige über das ISR, wonach Arbeitsverträge mit Seeleuten, die Staatsangehörige von Drittstaaten sind und in dem betreffenden Mitgliedstaat keinen Wohnsitz oder ständigen Aufenthalt haben, Arbeits- und Vergütungsbedingungen unterworfen werden können, für die nicht das Recht dieses Mitgliedstaats gilt und die deutlich ungünstiger sind als diejenigen für die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats, keine staatliche Beihilfe im Sinne von Artikel 92 Absatz 1 EWG-Vertrag ist und daß Artikel 117 EWG-Vertrag der Anwendung einer solchen Regelung nicht entgegensteht.

Kostenentscheidung:

Kosten

30 Die Auslagen der deutschen, der belgischen, der dänischen und der griechischen Regierung sowie der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die Erklärungen vor dem Gerichtshof abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

auf die ihm vom Arbeitsgericht Bremen mit Beschlüssen vom 9. Oktober 1990 vorgelegte Frage für Recht erkannt:

Eine Regelung eines Mitgliedstaats wie diejenige über das ISR, wonach Arbeitsverträge mit Seeleuten, die Staatsangehörige von Drittstaaten sind und in dem betreffenden Mitgliedstaat keinen Wohnsitz oder ständigen Aufenthalt haben, Arbeits- und Vergütungsbedingungen unterworfen werden können, für die nicht das Recht dieses Mitgliedstaats gilt und die deutlich ungünstiger sind als diejenigen für die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats, ist keine staatliche Beihilfe im Sinne von Artikel 92 Absatz 1 EWG-Vertrag. Artikel 117 EWG-Vertrag steht der Anwendung einer solchen Regelung nicht entgegen.

Ende der Entscheidung

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