Judicialis Rechtsprechung

Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:

Zurück

Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 07.11.1996
Aktenzeichen: C-77/95
Rechtsgebiete: EG-Vertrag, SGB V


Vorschriften:

EG-Vertrag Art. 177
SGB V § 37 Abs. 3
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Artikel 2 der Richtlinie 79/7 zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit, in dem der persönliche Anwendungsbereich der Richtlinie unter Bezugnahme auf die Erwerbsbevölkerung festgelegt wird, ist dahin auszulegen, daß er sich nicht auf eine Person erstreckt, die eine in der Betreuung ihres behinderten Ehegatten bestehende unentgeltliche Tätigkeit ausübt, gleichviel welchen Umfang diese Tätigkeit hat und welche Kenntnisse für ihre Ausübung erforderlich sind, wenn die betreffende Person dafür weder eine Erwerbstätigkeit aufgegeben noch die Arbeitssuche unterbrochen hat.

Würde der Begriff der Erwerbsbevölkerung nämlich so ausgelegt, daß ein Familienangehöriger, der für einen anderen Familienangehörigen unentgeltlich tätig ist, deshalb unter diesen Begriff fällt, weil die Tätigkeit gewisse Kenntnisse voraussetzt, von gewisser Art oder gewissem Umfang ist oder von einem Dritten gegen Entgelt erbracht werden müsste, wenn nicht der Familienangehörige sie übernehmen würde, so würde dies zu einer schrankenlosen Ausdehnung des Anwendungsbereichs der Richtlinie führen, obwohl er durch Artikel 2 gerade abgegrenzt werden soll.


Urteil des Gerichtshofes (Fünfte Kammer) vom 7. November 1996. - Bruna-Alessandra Züchner gegen Handelskrankenkasse (Ersatzkasse) Bremen. - Ersuchen um Vorabentscheidung: Oberlandesgericht Bremen - Deutschland. - Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit - Richtlinie 79/7/EWG - Erwerbsbevölkerung. - Rechtssache C-77/95.

Entscheidungsgründe:

1 Das Hanseatische Oberlandesgericht in Bremen hat dem Gerichtshof mit Beschluß vom 14. Februar 1995, beim Gerichtshof eingegangen am 15. März 1995, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag fünf Fragen nach der Auslegung der Richtlinie 79/7/EWG des Rates vom 19. Dezember 1978 zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit (ABl. 1979, L 6, S. 24; im folgenden: Richtlinie) und der für die Amtshaftung geltenden Grundsätze des Gemeinschaftsrechts zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Fragen stellen sich in einem Prozeßkostenhilfeverfahren zwischen Bruna-Alessandra Zuechner (im folgenden: Antragstellerin) und der Krankenkasse ihres Mannes, das auf deren Weigerung zurückgeht, die Antragstellerin für die Behandlungspflege ihres Mannes zu entschädigen.

3 Aus den Akten des Ausgangsverfahrens geht hervor, daß der Ehemann der Antragstellerin, der zuvor eine Erwerbstätigkeit ausübte, nach einem Unfall querschnittsgelähmt ist. Er bedarf sowohl für die Behandlungspflege als auch für die Grundpflege und die hauswirtschaftliche Versorgung im Sinne des Fünften Buches des Sozialgesetzbuchs (SGB V) der Hilfe durch eine dritte Person. Diese Pflege leistet in vollem Umfang seine Frau.

4 Die Krankenkasse des Ehemanns der Antragstellerin gewährt finanzielle Zuwendungen für die Grundpflege und die hauswirtschaftliche Versorgung. In bezug auf die Behandlungspflege beruft sie sich dagegen auf § 37 Absatz 3 SGB V, der lautet: Der Anspruch auf häusliche Krankenpflege besteht nur, soweit eine im Haushalt lebende Person den Kranken in dem erforderlichen Umfang nicht pflegen und versorgen kann.

5 Die Antragstellerin ist der Ansicht, daß diese Bestimmung in Widerspruch zur Richtlinie stehe. Unter Hinweis auf ihre Mittellosigkeit beantragte sie beim Landgericht Bremen Prozeßkostenhilfe für eine Schadensersatzklage gegen die Krankenkasse. Dieser Antrag wurde durch Beschluß vom 20. Januar 1994 abgelehnt, gegen den die Antragstellerin zum Hanseatischen Oberlandesgericht in Bremen Beschwerde einlegte. In einem ersten Beschluß vom 30. Juni 1994 ließ das Hanseatische Oberlandesgericht offen, ob die Antragstellerin zur "Erwerbsbevölkerung" im Sinne der Richtlinie gehört, und vertrat die Ansicht, daß die Rechtsvorschrift nicht diskriminierend sei. Da die beabsichtigte Rechtsverfolgung somit keine hinreichende Aussicht auf Erfolg biete, liege eine der Voraussetzungen für die Gewährung von Prozeßkostenhilfe nicht vor; das Hanseatische Oberlandesgericht wies die Beschwerde daher zurück.

6 Auf Gegenvorstellung der Antragstellerin hat das Hanseatische Oberlandesgericht am 14. Februar 1995 seinen Beschluß vom 30. Juni 1994 mit einem zweiten Beschluß aufgehoben und dem Gerichtshof folgende Fragen vorgelegt, die ihm die Entscheidung darüber ermöglichen sollen, ob die von der Antragstellerin beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet:

1. Gehört die Antragstellerin als Ehefrau des pflegebedürftigen Versicherten zur Erwerbsbevölkerung im Sinne des Artikels 2 der Richtlinie?

2. Wird die Antragstellerin durch § 37 Absatz 3 SGB V trotz geschlechtsneutraler Fassung dieser Vorschrift als Frau im Sinne der Richtlinie diskriminiert?

3. Hat die Antragstellerin, die nicht Versicherungsnehmerin der Antragsgegnerin ist, direkte Ansprüche, oder hat diese nur deren Ehemann als Versicherungsnehmer?

4. Haftet die Antragsgegnerin als Organ des Staates (Ersatzkasse) selbst, oder wer haftet statt ihrer?

5. Gibt es einen vom Verschulden unabhängigen Amtshaftungsanspruch nach dem Recht der Europäischen Gemeinschaften, oder kann sich ein Amtshaftungsanspruch nur aus § 839 BGB in Verbindung mit Artikel 34 GG ergeben?

7 Mit seiner ersten Frage möchte das Hanseatische Oberlandesgericht wissen, ob der Begriff der Erwerbsbevölkerung im Sinne des Artikels 2 der Richtlinie dahin auszulegen ist, daß darunter jemand wie die Antragstellerin des Ausgangsverfahrens in ihrer Eigenschaft als Ehefrau eines pflegebedürftigen Versicherten fällt. Das vorlegende Gericht führt zum Kontext seiner Frage ergänzend aus, seiner Meinung nach gehöre die Antragstellerin nicht zur Erwerbsbevölkerung im Sinne des Artikels 2 der Richtlinie; eine erweiternde Auslegung sei jedoch denkbar, weil sie ihrem behinderten Ehemann eine Pflegeleistung erbringe, die über eine normale Pflege im Rahmen der Ehe weit hinausgehe.

8 Die Richtlinie findet nach Artikel 2 Anwendung "auf die Erwerbsbevölkerung ° einschließlich der Selbständigen, deren Erwerbstätigkeit durch Krankheit, Unfall oder unverschuldete Arbeitslosigkeit unterbrochen ist, und der Arbeitsuchenden ° sowie auf die im Ruhestand befindlichen oder arbeitsunfähigen Arbeitnehmer und Selbständigen".

9 Die Antragstellerin hat weder in ihren schriftlichen Erklärungen noch in ihren Äusserungen in der mündlichen Verhandlung bestritten, daß sie keine Erwerbstätigkeit ausübte, als ihr Mann verunglückte. Sie trägt vor, sie gehöre dennoch zur Erwerbsbevölkerung im Sinne des Artikels 2 der Richtlinie, da sie Pflegeleistungen erbringe, für die sie eine besondere Ausbildung absolviert habe, die nach Art und Umfang einer berufsmässigen Pflegetätigkeit entsprächen und die, wenn sie nicht von ihr erbracht würden, entweder von einer bezahlten Pflegekraft oder in einer Klinik erbracht werden müssten. Die Kommission stimmt diesem Vorbringen zu.

10 Die Antragsgegnerin sowie die deutsche Regierung und die Regierung des Vereinigten Königreichs sind dagegen der Ansicht, daß die Antragstellerin nicht zur Erwerbsbevölkerung im Sinne der Richtlinie gehöre, da sie vor der Übernahme der Pflege keine Erwerbstätigkeit ausgeuebt habe. Die Regierung des Vereinigten Königreichs fügt hinzu, eine Pflegekraft könne nicht allein wegen des Umfangs der erbrachten Pflege zur Erwerbsbevölkerung im Sinne der Richtlinie gerechnet werden.

11 Der Begriff der Erwerbsbevölkerung im Sinne des Artikels 2 der Richtlinie ist sehr weit gefasst und erstreckt sich auf diejenigen, die arbeiten, die auf Arbeitssuche sind oder deren Arbeit oder Arbeitssuche durch eines der in Artikel 3 der Richtlinie genannten Risiken unterbrochen worden ist. Der Gerichtshof hat im übrigen entschieden, daß eine Person auch dann noch zur Erwerbsbevölkerung gehört, wenn bei einem älteren Verwandten eines der in Artikel 3 genannten Risiken eingetreten ist und sie zur Unterbrechung ihrer Erwerbstätigkeit gezwungen hat (Urteil vom 24. Juni 1986 in der Rechtssache 150/85, Drake, Slg. 1986, 1995), wenn das Risiko während einer Zeit der Arbeitssuche eintritt, die sich unmittelbar an eine Zeit beruflicher Untätigkeit anschließt (Urteil vom 11. Juli 1991 in der Rechtssache C-31/90, Johnson, Slg. 1991, I-3723), oder wenn die ausgeuebte Beschäftigung als geringfügig angesehen wird, weil sie weniger als fünfzehn Arbeitsstunden pro Woche umfasst und das Arbeitsentgelt ein Siebtel des monatlichen Durchschnittsentgelts nicht übersteigt (Urteile vom 14. Dezember 1995 in der Rechtssache C-317/93, Nolte, Slg. 1995, I-4625, und in der Rechtssache C-444/93, Megner und Scheffel, Slg. 1995, I-4741).

12 Die Richtlinie findet dagegen weder auf Personen Anwendung, die keine Erwerbstätigkeit ausüben und nicht auf Arbeitssuche sind, noch auf Personen, deren Erwerbstätigkeit oder Arbeitssuche nicht durch eines der in Artikel 3 der Richtlinie genannten Risiken unterbrochen worden ist (vgl. Urteil vom 27. Juni 1989 in den Rechtssachen 48/88, 106/88 und 107/88, Achterberg-te Riele u. a., Slg. 1989, 1963, Randnr. 13, und Urteil Johnson, a. a. O., Randnr. 20). So hat der Gerichtshof entschieden, daß eine Person, die ihre Erwerbstätigkeit aufgegeben hat, um sich um die Erziehung ihrer Kinder zu kümmern, nicht in den Anwendungsbereich der Richtlinie fällt (Urteil Johnson, a. a. O., Randnr. 19).

13 Aus diesen Erwägungen ergibt sich, daß der Begriff Erwerbstätigkeit , auf den der Begriff Erwerbsbevölkerung in Artikel 2 der Richtlinie Bezug nimmt, nur so verstanden werden kann, daß er zumindest eine wirtschaftliche Tätigkeit voraussetzt, d. h. eine Tätigkeit, die gegen Zahlung eines Entgelts im weiteren Sinne ausgeuebt wird.

14 Es steht ausser Frage, daß eine Person gezwungen sein kann, die Leistungen eines Dritten in Anspruch zu nehmen, wenn sie nicht oder nicht mehr in der Lage ist, eine bestimmte Tätigkeit selbst auszuführen, gleichviel ob es sich um die Erziehung der Kinder, Hausarbeiten, die Verwaltung ihres Privatvermögens oder blosse Verrichtungen des täglichen Lebens handelt. Solche Tätigkeiten setzen meist gewisse Kenntnisse voraus, haben einen gewissen Umfang und müssen von einem Dritten gegen Entgelt erbracht werden, wenn nicht ein Familienangehöriger oder eine andere Person sie unentgeltlich übernimmt.

15 Würde der Begriff der Erwerbsbevölkerung so ausgelegt, daß ein Familienangehöriger, der für einen anderen Familienangehörigen unentgeltlich tätig ist, deshalb unter diesen Begriff fällt, weil die Tätigkeit gewisse Kenntnisse voraussetzt, von gewisser Art oder gewissem Umfang ist oder von einem Dritten gegen Entgelt erbracht werden müsste, wenn nicht der Familienangehörige sie übernehmen würde, so würde dies folglich zu einer schrankenlosen Ausdehnung des Anwendungsbereichs der Richtlinie führen, obwohl er durch Artikel 2 gerade abgegrenzt werden soll.

16 Somit ist auf die erste Frage zu antworten, daß Artikel 2 der Richtlinie dahin auszulegen ist, daß er sich nicht auf eine Person erstreckt, die eine in der Betreuung ihres behinderten Ehegatten bestehende unentgeltliche Tätigkeit ausübt, gleichviel welchen Umfang diese Tätigkeit hat und welche Kenntnisse für ihre Ausübung erforderlich sind, wenn die betreffende Person dafür weder eine Erwerbstätigkeit aufgegeben noch die Arbeitssuche unterbrochen hat.

17 In Anbetracht der Antwort auf die erste Frage brauchen die übrigen Fragen des vorlegenden Gerichts nicht beantwortet zu werden.

Kostenentscheidung:

Kosten

18 Die Auslagen der deutschen Regierung und der Regierung des Vereinigten Königreichs sowie der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)

auf die erste ihm vom Hanseatischen Oberlandesgericht in Bremen mit Beschluß vom 14. Februar 1995 vorgelegte Frage für Recht erkannt:

Artikel 2 der Richtlinie 79/7/EWG des Rates vom 19. Dezember 1978 zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit ist dahin auszulegen, daß er sich nicht auf eine Person erstreckt, die eine in der Betreuung ihres behinderten Ehegatten bestehende unentgeltliche Tätigkeit ausübt, gleichviel welchen Umfang diese Tätigkeit hat und welche Kenntnisse für ihre Ausübung erforderlich sind, wenn die betreffende Person dafür weder eine Erwerbstätigkeit aufgegeben noch die Arbeitssuche unterbrochen hat.

Ende der Entscheidung

Zurück