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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 10.10.1996
Aktenzeichen: C-78/95
Rechtsgebiete: EuGVÜ


Vorschriften:

EuGVÜ Art. 27
EuGVÜ Art. 29
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Ein Beklagter, der von dem gegen ihn eingeleiteten Verfahren keine Kenntnis hat und für den vor dem Gericht des Urteilsstaats ein Rechtsanwalt erscheint, den er nicht beauftragt hat, ist völlig ausserstande, sich zu verteidigen; er ist als ein Beklagter zu betrachten, der sich im Sinne des Artikels 27 Nummer 2 des Übereinkommens vom 27. September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen nicht auf das Verfahren eingelassen hat, selbst wenn das Verfahren vor dem Gericht des Urteilsstaats streitigen Charakter angenommen hat. Dem steht nicht entgegen, daß der Beklagte die Möglichkeit hat, gegen die ergangene Entscheidung eine Nichtigkeitsklage wegen mangelnder Vertretung zu erheben, denn der Zeitpunkt, zu dem sich der Beklagte verteidigen können muß, ist der Zeitpunkt der Verfahrenseinleitung.

Daher findet Artikel 27 Nummer 2 des Übereinkommens auf Entscheidungen Anwendung, die gegen einen Beklagten ergangen sind, dem das verfahrenseinleitende Schriftstück nicht ordnungsgemäß und nicht rechtzeitig zugestellt worden ist und der im Verfahren nicht wirksam vertreten war, die aber wegen des Erscheinens eines angeblichen Vertreters des Beklagten vor dem Gericht des Urteilsstaats nicht als Versäumnisentscheidungen ergangen sind.


Urteil des Gerichtshofes (Fünfte Kammer) vom 10. Oktober 1996. - Bernardus Hendrikman und Maria Feyen gegen Magenta Druck & Verlag GmbH. - Ersuchen um Vorabentscheidung: Hoge Raad - Niederlande. - Brüsseler Übereinkommen - Auslegung von Artikel 27 Nr. 2 - Anerkennung einer Entscheidung - Begriff des Beklagten, der sich auf das Verfahren nicht eingelassen hat. - Rechtssache C-78/95.

Entscheidungsgründe:

1 Der Hoge Raad der Nederlanden hat mit Urteil vom 10. März 1995, bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen am 16. März 1995, gemäß dem Protokoll vom 3. Juni 1971 betreffend die Auslegung des Übereinkommens vom 27. September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen durch den Gerichtshof drei Fragen nach der Auslegung der Artikel 27 Nrn. 1 und 2 sowie 29 dieses Übereinkommens (ABl. 1972, L 299, S. 32) in der durch das Übereinkommen vom 9. Oktober 1978 über den Beitritt des Königreichs Dänemark, Irlands und des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland (ABl. L 304, S. 1 und ° geänderter Wortlaut ° S. 77) geänderten Fassung (im folgenden: Übereinkommen) zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Fragen stellen sich in einem Rechtsstreit zwischen Bernardus Hendrikman und Maria Feyen (im folgenden: Eheleute Hendrikman), wohnhaft in Den Haag, und dem deutschen Unternehmen Magenta Druck & Verlag GmbH (im folgenden: Magenta GmbH) mit Sitz in Krefeld (Deutschland). In diesem Rechtsstreit geht es um die Vollstreckung eines am 2. April 1991 vom Landgericht Krefeld erlassenen Urteils und eines Kostenfestsetzungsbeschlusses des Amtsgerichts Nettetal vom 12. Juli 1991 gegen die Eheleute Hendrikman. Die beiden Entscheidungen wurden ihnen am 17. September 1991 zugestellt.

3 Mit Beschluß vom 14. Januar 1992 erteilte der amtierende Präsident der Arrondissementsrechtbank Den Haag die Vollstreckungsklausel für die beiden Entscheidungen in den Niederlanden. Mit der Beschwerde hiergegen machten die Eheleute Hendrikman unter Berufung auf Artikel 27 Nrn. 1 und 2 des Übereinkommens geltend, daß ihnen die das Verfahren einleitenden Schriftstücke niemals zugegangen seien und daß sie vor den deutschen Gerichten nicht wirksam vertreten gewesen seien.

4 In Artikel 27 des Übereinkommens heisst es:

"Eine Entscheidung wird nicht anerkannt:

1. wenn die Anerkennung der öffentlichen Ordnung des Staates, in dem sie geltend gemacht wird, widersprechen würde;

2. wenn dem Beklagten, der sich auf das Verfahren nicht eingelassen hat, das dieses Verfahren einleitende Schriftstück oder ein gleichwertiges Schriftstück nicht ordnungsmässig und nicht so rechtzeitig zugestellt worden ist, daß er sich verteidigen konnte;

3. wenn die Entscheidung mit einer Entscheidung unvereinbar ist, die zwischen denselben Parteien in dem Staat, in dem die Anerkennung geltend gemacht wird, ergangen ist;

..."

5 Nach den Ausführungen der Eheleute Hendrikman wurde das Verfahren, das mit den beiden Entscheidungen abgeschlossen wurde, von der Magenta GmbH in Deutschland eingeleitet, ohne daß sie davon Kenntnis gehabt hätten. Es sei darin um die Bezahlung einer Lieferung Briefpapier gegangen, die von zwei hierzu nicht ermächtigten Personen für Rechnung der Eheleute Hendrikman bestellt worden sei. Ebenfalls ohne Ermächtigung hätten diese Personen im Namen der Eheleute Hendrikman Rechtsanwälte mit deren Vertretung im Verfahren beauftragt.

6 Die Arrondissementsrechtbank Den Haag wies die Beschwerde mit Urteil vom 2. Februar 1994 als unbegründet zurück. Sie führte aus, Artikel 29 des Übereinkommens, wonach die "ausländische Entscheidung... keinesfalls auf ihre Gesetzmässigkeit nachgeprüft werden [darf]", hindere sie daran, zu prüfen, ob das deutsche Gericht von der Wirksamkeit der Vertretung durch die genannten Rechtsanwälte habe ausgehen dürfen.

7 Die Arrondissementsrechtbank Den Haag führte ferner aus, daß Artikel 27 Nr. 1 nur dann Anwendung finden könne, wenn nach dem Recht des Urteilsstaats einer Partei, die von einem gegen sie geführten Prozeß keine Kenntnis habe und die nicht wirksam vertreten gewesen sei, kein Rechtsbehelf zustehe oder wenn sie von diesem Rechtsbehelf tatsächlich keinen Gebrauch habe machen können. Im vorliegenden Fall hätten die Eheleute Hendrikman gemäß § 579 Nr. 4 in Verbindung mit § 586 der deutschen Zivilprozessordnung (ZPO) innerhalb eines Monats nach der Zustellung der deutschen Entscheidungen eine Nichtigkeitsklage wegen mangelnder Vertretung erheben können. Von diesem Rechtsbehelf hätten sie jedoch keinen Gebrauch gemacht.

8 Schließlich könnten sich die Eheleute Hendrikman auch nicht auf Artikel 27 Nr. 2 des Übereinkommens berufen, denn es handele sich im vorliegenden Fall nicht um eine Entscheidung gegen einen Beklagten, der sich auf das Verfahren nicht eingelassen habe.

9 Die Eheleute Hendrikman legten gegen diese Entscheidung Kassationsbeschwerde beim Hoge Raad der Nederlanden ein.

10 Der Hoge Raad hat das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1. Ist Artikel 29 des Brüsseler Übereinkommens so auszulegen, daß sich das Gericht des Staates, in dem die Anerkennung geltend gemacht wird, auch dann jeder Prüfung der Frage enthalten muß, ob der Beklagte in dem im Urteilsstaat abgelaufenen Verfahren wirksam vertreten war, wenn das Gericht des Urteilsstaats hierüber keine Entscheidung getroffen hat?

2.a. Ist Artikel 27 Nr. 1 des Brüsseler Übereinkommens so auszulegen, daß diese Bestimmung der Anerkennung einer in einem anderen Vertragsstaat erlassenen Entscheidung entgegensteht, wenn der Beklagte im betreffenden Verfahren nicht wirksam vertreten war und von dem Verfahren keine Kenntnis hatte, selbst wenn er später von der erlassenen Entscheidung Kenntnis erlangt und gegen sie keinen vom Prozeßrecht des Urteilsstaats zur Verfügung gestellten Rechtsbehelf eingelegt hat?

b. Ist es hierbei von Bedeutung, daß die Rechtsbehelfsfrist einen Monat von dem Tag an beträgt, an dem der Beklagte von der erlassenen Entscheidung Kenntnis erhalten hat?

3. Ist Artikel 27 Nr. 2 des Brüsseler Übereinkommens so auszulegen, daß er auch auf eine gegen einen Beklagten ergangene Entscheidung Anwendung findet, der zwar nicht so behandelt werden kann, als habe er sich nicht auf das Verfahren eingelassen, dem jedoch der das Verfahren einleitende Schriftsatz oder ein gleichwertiger Schriftsatz nicht zugestellt oder übermittelt worden ist und der in dem Verfahren nicht wirksam vertreten war?

11 Vorab ist darauf hinzuweisen, daß das vorlegende Gericht den Sachverhalt, den es als feststehend erachtet, nicht sehr genau beschrieben hat und daß daher die Antworten des Gerichtshofes nur dann entscheidungserheblich sind, wenn die von den Beschwerdeführern des Ausgangsverfahrens vorgetragenen Umstände tatsächlich vorliegen.

12 Es ist mit der Prüfung der dritten Frage zu beginnen.

Zur dritten Frage

13 Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Artikel 27 Nr. 2 des Übereinkommens auf Entscheidungen Anwendung findet, die gegen einen Beklagten ergangen sind, dem das verfahrenseinleitende Schriftstück nicht ordnungsgemäß und nicht rechtzeitig zugestellt worden ist und der im Verfahren nicht wirksam vertreten war, die aber wegen des Erscheinens eines angeblichen Vertreters des Beklagten vor dem Gericht des Urteilsstaats nicht als Versäumnisentscheidungen ergangen sind.

14 Nach Artikel 27 Nr. 2 kann ein Gericht die bei ihm beantragte Anerkennung einer Entscheidung nur dann ablehnen, wenn mehrere Voraussetzungen erfuellt sind: Das das Verfahren einleitende Schriftstück ist dem Beklagten nicht ordnungsgemäß und nicht rechtzeitig zugestellt worden, und dieser hat sich nicht auf das Verfahren vor dem Gericht des Urteilsstaats eingelassen. Das vorlegende Gericht hat den Gerichtshof nur nach dieser zweiten Voraussetzung gefragt.

15 Nach ständiger Rechtsprechung soll Artikel 27 Nr. 2 des Übereinkommens sicherstellen, daß eine Entscheidung nach den Bestimmungen des Übereinkommens weder anerkannt noch vollstreckt wird, wenn es dem Beklagten nicht möglich war, sich vor dem Gericht des Urteilsstaats zu verteidigen (Urteile vom 16. Juni 1981 in der Rechtssache 166/80, Klomps, Slg. 1981, 1593, Randnr. 9, und vom 21. April 1993 in der Rechtssache C-172/91, Sonntag, Slg. 1993, I-1963, Randnr. 38).

16 Nach Ansicht der deutschen Regierung ist der Anspruch auf rechtliches Gehör gewahrt, wenn ein Rechtsanwalt ° selbst wenn er nicht beauftragt worden sei ° für die Beklagten erscheine, denn das Gericht müsse sich auf die Erklärungen des Rechtsanwalts verlassen, bis nachgewiesen sei, daß ein solcher Auftrag nicht vorliege.

17 Dieser Ansicht kann nicht gefolgt werden.

18 Ein Beklagter, der von dem gegen ihn eingeleiteten Verfahren keine Kenntnis hat und für den vor dem Gericht des Urteilsstaats ein Rechtsanwalt erscheint, den er nicht beauftragt hat, ist völlig ausserstande, sich zu verteidigen. Er ist daher als ein Beklagter zu betrachten, der sich im Sinne des Artikels 27 Nr. 2 nicht auf das Verfahren eingelassen hat, selbst wenn das Verfahren vor dem Gericht des Urteilsstaats streitigen Charakter angenommen hat. Es ist Sache des Gerichts, bei dem die Anerkennung geltend gemacht wird, zu prüfen, ob diese aussergewöhnlichen Umstände vorliegen.

19 Dem steht nicht entgegen, daß es § 579 Nr. 4 in Verbindung mit § 586 ZPO den Eheleuten Hendrikman ermöglicht hätte, innerhalb eines Monats nach der Zustellung eine Nichtigkeitsklage wegen mangelnder Vertretung zu erheben.

20 Der Zeitpunkt, zu dem sich der Beklagte verteidigen können muß, ist nämlich der Zeitpunkt der Verfahrenseinleitung. Die Möglichkeit, später einen Rechtsbehelf gegen eine bereits für vollstreckbar erklärte Versäumnisentscheidung einzulegen, ist einer Verteidigung vor Erlaß der Entscheidung nicht gleichwertig (Urteil vom 12. November 1992 in der Rechtssache C-123/91, Minalmet, Slg. 1992, I-5661, Randnr. 19).

21 Daher ist auf die dritte Frage zu antworten, daß Artikel 27 Nr. 2 des Übereinkommens auf Entscheidungen Anwendung findet, die gegen einen Beklagten ergangen sind, dem das verfahrenseinleitende Schriftstück nicht ordnungsgemäß und nicht rechtzeitig zugestellt worden ist und der im Verfahren nicht wirksam vertreten war, die aber wegen des Erscheinens eines angeblichen Vertreters des Beklagten vor dem Gericht des Urteilsstaats nicht als Versäumnisentscheidungen ergangen sind.

Zur ersten und zweiten Frage

22 Angesichts der Antwort auf die dritte Frage braucht die erste Frage nicht beantwortet werden.

23 Zur zweiten Frage ist darauf hinzuweisen, daß die Anwendung der Ordre-Public-Klausel des Artikels 27 Nr. 1 des Übereinkommens "nur in Ausnahmefällen eine Rolle spielen" kann (Bericht zum Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, ABl. 1979, C 59, S. 1, 44). Sie ist jedenfalls dann ausgeschlossen, wenn das gestellte Problem nach einer besonderen Vorschrift wie Artikel 27 Nr. 2 zu lösen ist (vgl. zu Artikel 27 Nr. 3 Urteil vom 4. Februar 1988 in der Rechtssache 145/86, Hoffmann, Slg. 1988, 645, Randnr. 21).

24 Unter Berücksichtigung der vorstehenden Erwägungen braucht auch die zweite Frage nicht beantwortet zu werden.

Kostenentscheidung:

Kosten

25 Die Auslagen der deutschen und der griechischen Regierung sowie der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)

auf die ihm vom Hoge Raad der Nederlanden mit Urteil vom 10. März 1995 vorgelegten Fragen für Recht erkannt:

Artikel 27 Nr. 2 des Übereinkommens vom 27. September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen in der durch das Übereinkommen vom 9. Oktober 1978 über den Beitritt des Königreichs Dänemark, Irlands und des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland geänderten Fassung findet Anwendung auf Entscheidungen, die gegen einen Beklagten ergangen sind, dem das verfahrenseinleitende Schriftstück nicht ordnungsgemäß und nicht rechtzeitig zugestellt worden ist und der im Verfahren nicht wirksam vertreten war, die aber wegen des Erscheinens eines angeblichen Vertreters des Beklagten vor dem Gericht des Urteilsstaats nicht als Versäumnisentscheidungen ergangen sind.

Ende der Entscheidung

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