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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 21.10.2004
Aktenzeichen: C-8/03
Rechtsgebiete: Richtlinie 77/388/EWG vom 17.05.1977, Richtlinie 77/388/EWG vom 17.05.1977


Vorschriften:

Richtlinie 77/388/EWG vom 17.05.1977 Art. 4 Abs. 1, 2
Richtlinie 77/388/EWG vom 17.05.1977 Art. 9 Abs. 2 Buchst. e
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Urteil des Gerichtshofes (Erste Kammer) vom 21. Oktober 2004. - Banque Bruxelles Lambert SA (BBL) gegen Belgischer Staat. - Ersuchen um Vorabentscheidung: Tribunal de première instance de Bruxelles - Belgien. - Sechste Mehrwertsteuerrichtlinie - Artikel 4 und 9 Absatz 2 Buchstabe e - Begriff "Steuerpflichtiger" - Ort der Dienstleistungen - SICAV. - Rechtssache C-8/03.

Parteien:

In der Rechtssache C-8/03

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Artikel 234 EG,

eingereicht vom Tribunal de première instance Brüssel (Belgien) mit Entscheidung vom

24. Dezember 2002

, beim Gerichtshof eingegangen am

10. Januar 2003

, in dem Verfahren

Banque Bruxelles Lambert SA (BBL)

gegen

Belgischer Staat

erlässt

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten P. Jann, des Richters A. Rosas, der Richterin R. Silva de Lapuerta sowie der Richter K. Lenaerts und S. von Bahr (Berichterstatter),

Generalanwalt: M. Poiares Maduro,

Kanzler: M.-F. Contet, Hauptverwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 11. März 2004,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

- der Banque Bruxelles Lambert SA (BBL), vertreten durch B. de Duve, S. Houx und F. Herbert, avocats,

- des Königreichs Belgien, vertreten durch E. Dominkovitis als Bevollmächtigte im Beistand von G. Vandersanden und E. De Plaen, avocats,

- der Hellenischen Republik, vertreten durch D. Kalogiros und S. Spyropoulos als Bevollmächtigte im Beistand von M. Tassopoulou,

- der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch E. Traversa und C. Giolito als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom

18. Mai 2004,

folgendes

Urteil

Entscheidungsgründe:

1. Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Artikel 4, 9 Absatz 2 Buchstabe e und 13 Teil B Buchstabe d Nummer 6 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern - Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. L 145, S. 1, im Folgenden: Sechste Richtlinie).

2. Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Banque Bruxelles Lambert SA (BBL) (im Folgenden: BBL) und dem Belgischen Staat darüber, wie für die Zwecke der Mehrwertbesteuerung der Ort der Dienstleistungen zu bestimmen ist, die die BBL luxemburgischen Investmentgesellschaften mit variablem Grundkapital (sociétés d'investissement à capital variable, im Folgenden: SICAV) erbracht hat.

Rechtlicher Rahmen

Gemeinschaftsrecht

3. Nach Artikel 2 Nummer 1 der Sechsten Richtlinie unterliegen Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Inland gegen Entgelt ausführt, der Mehrwertsteuer.

4. Artikel 4 Absätze 1 und 2 dieser Richtlinie lautet:

(1) Als Steuerpflichtiger gilt, wer eine der in Absatz 2 genannten wirtschaftlichen Tätigkeiten selbständig und unabhängig von ihrem Ort ausübt, gleichgültig zu welchem Zweck und mit welchem Ergebnis.

(2) Die in Absatz 1 genannten wirtschaftlichen Tätigkeiten sind alle Tätigkeiten eines Erzeugers, Händlers oder Dienstleistenden einschließlich der Tätigkeiten der Urproduzenten, der Landwirte sowie der freien Berufe und der diesen gleichgestellten Berufe. Als wirtschaftliche Tätigkeit gilt auch eine Leistung, die die Nutzung von körperlichen oder nicht körperlichen Gegenständen zur nachhaltigen Erzielung von Einnahmen umfasst.

5. Artikel 9 Absätze 1 und 2 Buchstabe e dritter und fünfter Gedankenstrich dieser Richtlinie bestimmt:

(1) Als Ort einer Dienstleistung gilt der Ort, an dem der Dienstleistende den Sitz seiner wirtschaftlichen Tätigkeit oder eine feste Niederlassung hat, von wo aus die Dienstleistung erbracht wird, oder in Ermangelung eines solchen Sitzes oder einer solchen festen Niederlassung sein Wohnort oder sein üblicher Aufenthaltsort.

(2) Es gilt jedoch

...

e) als Ort der folgenden Dienstleistungen, die an außerhalb der Gemeinschaft ansässige Empfänger oder an innerhalb der Gemeinschaft, jedoch außerhalb des Landes des Dienstleistenden ansässige Steuerpflichtige erbracht werden, der Ort, an dem der Empfänger den Sitz seiner wirtschaftlichen Tätigkeit oder eine feste Niederlassung hat, für welche die Dienstleistung erbracht worden ist, oder in Ermangelung eines solchen Sitzes oder einer solchen Niederlassung sein Wohnort oder sein üblicher Aufenthaltsort:

...

- Leistungen von Beratern, Ingenieuren, Studienbüros, Anwälten, Buchprüfern und sonstigen ähnlichen Leistungen sowie die Datenverarbeitung und die Überlassung von Informationen,

...

- Bank-, Finanz- und Versicherungsumsätze, einschließlich Rückversicherungsumsätze, ausgenommen die Vermietung von Schließfächern.

6. Artikel 13 Teil B Buchstabe d Nummern 5 und 6 der Sechsten Richtlinie sieht vor, dass die Mitgliedstaaten von der Steuer befreien:

5. die Umsätze - einschließlich der Vermittlung, jedoch mit Ausnahme der Verwahrung und der Verwaltung - die sich auf Aktien, Anteile an Gesellschaften und Vereinigungen, Schuldverschreibungen oder sonstige Wertpapiere beziehen,...,

6. die Verwaltung von durch die Mitgliedstaaten als solche definierten Sondervermögen durch Kapitalanlagegesellschaften.

7. Artikel 1 Absatz 2 der Richtlinie 85/611/EWG des Rates vom 20. Dezember 1985 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften betreffend bestimmte Organismen für gemeinsame Anlagen in Wertpapieren (OGAW) (ABl. L 375, S. 3) definiert die Organismen für gemeinsame Anlagen in Wertpapieren (im Folgenden: OGAW) als Organismen,

- deren ausschließlicher Zweck es ist, beim Publikum beschaffte Gelder für gemeinsame Rechnung nach dem Grundsatz der Risikobetreuung in Wertpapieren anzulegen, und

- deren Anteile auf Verlangen der Anteilinhaber unmittelbar oder mittelbar zu Lasten des Vermögens dieser Organismen zurückgenommen oder ausgezahlt werden....

8. Nach Artikel 1 Absatz 3 der Richtlinie 85/611 können diese Organismen die Vertragsform (von einer Verwaltungsgesellschaft verwaltete Investmentfonds), die Form des Trust (unit trust) oder die Satzungsform (Investmentgesellschaft) haben.

Nationales Recht

9. Artikel 4 Absatz 1 des belgischen Code de la TVA (Mehrwertsteuergesetz) in der Fassung, die zur Zeit der im Ausgangsverfahren maßgebenden Ereignisse galt, bestimmt:

Steuerpflichtig ist, wer in Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit regelmäßig und selbständig, mit oder ohne Gewinnabsicht, hauptsächlich oder zusätzlich, unabhängig von dem Ort, an dem die wirtschaftliche Tätigkeit ausgeübt wird, Gegenstände liefert oder Dienstleistungen erbringt, die in diesem Gesetz genannt sind.

10. Artikel 21 Absatz 2 dieses Gesetzes bestimmt:

Als Ort einer Dienstleistung gilt der Ort, an dem der Dienstleistende den Sitz seiner wirtschaftlichen Tätigkeit oder eine feste Niederlassung hat, von wo aus die Dienstleistung erbracht wird, oder in Ermangelung eines solchen Sitzes oder einer solchen festen Niederlassung sein Wohnort oder sein üblicher Aufenthaltsort.

11. Nach Artikel 21 Absatz 3 Nummer 7 Buchstaben d und e des belgischen Code de la TVA gilt abweichend von Absatz 2 als Ort der Dienstleistungen:

7. der Ort, an dem der Empfänger den Sitz seiner wirtschaftlichen Tätigkeit oder eine feste Niederlassung hat, für welche die Dienstleistung erbracht worden ist, oder in Ermangelung eines solchen Sitzes oder einer solchen Niederlassung sein Wohnort oder sein üblicher Aufenthaltsort, wenn die Dienstleistung an einen außerhalb der Gemeinschaft ansässigen Empfänger oder, für die Zwecke seiner wirtschaftlichen Tätigkeit, an einen innerhalb der Gemeinschaft, jedoch außerhalb des Landes des Dienstleistenden ansässigen Steuerpflichtigen erbracht wird und zum Gegenstand hat:

...

d) Arbeiten geistiger Art, die von juristischen oder anderen Beratern, Buchprüfern, Ingenieuren, Studienbüros und anderen eine ähnliche Tätigkeit verrichtenden Dienstleistenden in Ausübung ihrer gewöhnlichen Tätigkeit durchgeführt werden, sowie die Datenverarbeitung und die Überlassung von Informationen...;

e) Bank-, Finanz- und Versicherungsumsätze, einschließlich Rückversicherungsumsätze, ausgenommen die Vermietung von Schließfächern.

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

12. In der Vorlageentscheidung wird ausgeführt, dass die BBL während des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Zeitraums Dienstleistungen für luxemburgische SICAV (BBL Renta Fund, BBL Renta Cash, BBL Patrimonial, International Aviation Fund, BBL Capital Cash, BBL Portfolio und BBL [L] Invest) erbracht habe. Laut Beratungsvertrag, den sie mit jeder ihrer SICAV geschlossen habe, habe sich die BBL verpflichtet:

- die SICAV bei der Vermögensverwaltung zu unterstützen und dafür Sorge zu tragen, dass ihre Beratung der allgemeinen Ausrichtung der Verwaltung und der Investitionspolitik der SICAV genau entspricht;

- den für die tägliche Verwaltung der SICAV Verantwortlichen die Unterlagen und Informationen sowie die mündliche oder schriftliche Beratung zukommen zu lassen, die diese zur Erfuellung ihrer Aufgaben als notwendig erachten;

- die SICAV beim Erwerb, der Zeichnung, der Umschreibung und der Übertragung von Aktien, Schuldverschreibungen und allen sonstigen handelbaren Titeln sowie bei Devisen- oder Bargeldgeschäften zu unterstützen.

13. Im Februar 1998 habe die Inspection spéciale des impôts (Steuerfahndung) Lüttich bei der BBL eine Prüfung für den Zeitraum vom 1. Mai 1993 bis zum 31. Dezember 1997 durchgeführt. Nach dieser Prüfung sei am 28. Mai 1998 ein Protokoll erstellt worden, in dem es heiße, dass die BBL die Mehrwertsteuer auf die von den luxemburgischen SICAV geforderten Beratungsprovisionen nicht berechnet habe, weil diese Dienstleistungen ihres Erachtens nach Artikel 21 Absatz 3 Nummer 7 Buchstaben d oder e des belgischen Code de la TVA im Großherzogtum Luxemburg erbracht worden seien.

14. Das vorlegende Gericht führt hierzu aus, dass aus dem Protokoll hervorgehe, dass Artikel 21 Absatz 3 Nummer 7 des belgischen Code de la TVA deshalb nicht anwendbar sei, weil die luxemburgischen SICAV nach luxemburgischem Recht nicht als mehrwertsteuerpflichtig angesehen würden.

15. Außerdem habe die BBL diesem Protokoll zufolge in der Absicht gehandelt, die Mehrwertsteuer zu hinterziehen oder deren Hinterziehung zu ermöglichen, denn es habe ihr nicht verborgen bleiben können, dass die Mehrwertsteuer, die für den Preis der den luxemburgischen SICAV erbrachten Dienstleistungen fällig gewesen sei, weder an den belgischen Staat noch an den luxemburgischen Staat entrichtet worden sei.

16. Am 8. Juni 1998 wurde gegen die BBL ein Beitreibungsbescheid u. a. über fällige Mehrwertsteuer für die Zeit vom 1. Mai 1993 bis 31. Dezember 1997 in Höhe von 45 491 373,03 Euro, über eine Geldbuße in Höhe von 200 % und eines Betrages von 90 982 746,07 Euro sowie über Verzugszinsen für die Zeit vom 1. Januar bis 20. Juni 1998 in Höhe von 1 819 654,49 Euro erlassen.

17. Die BBL erhob gegen diesen Beitreibungsbescheid Klage vor dem Tribunal de première instance Brüssel.

18. Das vorlegende Gericht führt aus, die Annahme, dass es jedem Mitgliedstaat freistehe, die Mehrwertsteuerpflichtigkeit der in seinem Gebiet ansässigen oder tätigen Personen zu bejahen oder zu verneinen, verkenne die gemeinschaftlichen Mehrwertsteuervorschriften, deren Zweck gerade darin bestehe, den Begriff des Steuerpflichtigen zu harmonisieren und die Befugnis zur Besteuerung von Umsätzen durch eine einheitliche Definition des Ortes der Lieferung von Gegenständen und Dienstleistungen auf die Mitgliedstaaten aufzuteilen.

19. Gemäß der Pflicht zur gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung sei Artikel 21 Absatz 3 Nummer 7 des belgischen Code de la TVA, mit dem Artikel 9 Absatz 2 Buchstabe e der Sechsten Richtlinie in belgisches Recht umgesetzt worden sei, im Licht des Wortlauts dieser Richtlinie und des mit ihr verfolgten Zieles auszulegen, ohne dass auf das luxemburgische Recht Bezug zu nehmen sei.

20. Das vorlegende Gericht verweist jedoch darauf, dass die Frage, ob die SICAV eine wirtschaftliche Tätigkeit im Sinne des Artikels 4 der Sechsten Richtlinie ausübten und mithin, ob sie mehrwertsteuerpflichtig seien, noch nicht vom Gerichtshof geklärt worden sei.

21. Sollten die luxemburgischen SICAV nicht als mehrwertsteuerpflichtig eingestuft werden, mit der Folge, dass als Ort der von der BBL erbrachten Dienstleistungen Belgien gelte, stelle sich die Frage, ob diese Dienstleistungen nach Artikel 13 Teil B Buchstabe d Nummer 6 der Sechsten Richtlinie von der Steuer befreit sein könnten.

22. Aufgrund dieser Erwägungen hat das Tribunal de première instance Brüssel das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof die beiden folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

- Sind in einem Mitgliedstaat ansässige Investmentgesellschaften mit variablem Grundkapital (sociétés d'investissement à capital variable, SICAV), deren ausschließlicher Zweck es nach der Richtlinie 85/611/EWG des Rates vom 20. Dezember 1985 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften betreffend bestimmte Organismen für gemeinsame Anlagen in Wertpapieren (OGAW) ist, beim Publikum beschaffte Gelder für gemeinsame Rechnung anzulegen, nach Artikel 4 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern - Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage mehrwertsteuerpflichtig, so dass als Ort der in Artikel 9 Absatz 2 Buchstabe e dieser Richtlinie genannten Dienstleistungen, die ihnen erbracht werden, der Ort gilt, an dem sie ihren Sitz haben?

- Bei Verneinung dieser Frage ist zur Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits zu bestimmen, welche Arten der den SICAV erbrachten Dienstleistungen unter die in Artikel 13 Teil B Buchstabe d Nummer 6 der Sechsten Richtlinie vorgesehene Befreiung fallen: Ist in dieser Hinsicht zwischen Unterstützungsleistungen und Verwaltungsberatung einerseits und eigentlichen Verwaltungsdienstleistungen andererseits zu unterscheiden, wobei sich Letztere von den Ersteren darin unterscheiden, dass sie eine Entscheidungsbefugnis der Verwaltungsgesellschaft in Bezug auf die Verwaltung und die Verfügung über das zu verwaltende Vermögen einschließen?

Zur ersten Frage

23. Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die SICAV, deren ausschließlicher Zweck im Sinne der Richtlinie 85/611 es ist, beim Publikum beschaffte Gelder für gemeinsame Rechnung anzulegen, nach Artikel 4 der Sechsten Richtlinie mehrwertsteuerpflichtig sind, so dass der Ort der in Artikel 9 Absatz 2 Buchstabe e dieser Richtlinie genannten Dienstleistungen, die solchen SICAV erbracht werden, die in einem anderen Mitgliedstaat ansässig sind als der Dienstleistende, der Ort ist, an dem diese SICAV den Sitz ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit haben.

Erklärungen der Verfahrensbeteiligten vor dem Gerichtshof

24. Alle Verfahrensbeteiligten, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, vertreten die Ansicht, dass die im Einklang mit der Richtlinie 85/611 niedergelassenen SICAV wirtschaftliche Tätigkeiten verrichteten, die sie gemäß Artikel 4 der Sechsten Richtlinie zu Steuerpflichtigen machten.

25. Die BBL verweist hierzu auf die Rechtsprechung des Gerichtshofes zur Grenzziehung auf dem Gebiet der Finanzinstrumente zwischen den Umsätzen, die in den Bereich der wirtschaftlichen Tätigkeiten im Sinne der Sechsten Richtlinie fielen, und jenen, die hiervon nicht erfasst würden, darunter die Urteile vom 20. Juni 1991 in der Rechtssache C-60/90 (Polysar Investments Netherlands, Slg. 1991, I3111), vom 22. Juni 1993 in der Rechtssache C-333/91 (Sofitam, Slg. 1993, I3513) und vom 20. Juni 1996 in der Rechtssache C-155/94 (Wellcome Trust, Slg. 1996, I3013).

26. Die Tätigkeiten der OGAW müssten insoweit auf zwei Ebenen geprüft werden, zum einen auf der der Beziehung zwischen dem OGAW und den Anteilinhabern und zum anderen auf der der Beziehung zwischen dem OGAW und dem Markt.

27. Zur Beziehung zwischen dem OGAW und den Anteilinhabern trägt die BBL vor, dass die OGAW im Vergleich zu anderen auf dem Finanzmarkt tätigen Wirtschaftsteilnehmern die Besonderheit aufwiesen, dass sie aktiv ihre eigenen Anteile vertrieben. Aus Anlass dieses Vertriebs erhalte der OGAW eine je nach Fallgestaltung Eintritts oder Austrittsgebühr genannte Vergütung. Diese Gebühren stellten den Gegenwert für das Eintritts- oder Austrittsrecht des Zeichnenden zum oder aus dem OGAW und für die Erbringung der mit diesem Ein oder Austritt verbundenen Dienstleistungen dar.

28. Zu den Beziehungen zwischen dem OGAW und dem Markt trägt die BBL vor, dass die OGAW darauf abzielten, dem breiten Publikum eine Dienstleistung anzubieten, die den Dienstleistungen vergleichbar sei, die die privaten Banken auf dem Gebiet der Vermögensverwaltung ihren privilegierten Kunden anböten.

29. In der Erwägung, dass die SICAV, deren Tätigkeiten durch die Richtlinie 85/611 geregelt würden, nach Artikel 4 der Sechsten Richtlinie mehrwertsteuerpflichtig seien, gelangt die BBL zu dem Ergebnis, dass Artikel 9 Absatz 2 Buchstabe e dieser Richtlinie anwendbar sei.

30. Die belgische Regierung trägt vor, dass nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes der bloße Erwerb und das bloße Halten von Gesellschaftsanteilen nicht als wirtschaftliche Tätigkeiten im Sinne der Sechsten Richtlinie angesehen werden könnten, die den Erwerber und Inhaber zum Steuerpflichtigen machen würden (vgl. u. a. Urteile Polysar Investments Netherlands, Randnr. 13, und vom 6. Februar 1997 in der Rechtssache C-80/95, Harnas & Helm, Slg. 1997, I745, Randnr. 15).

31. Die Tätigkeiten der SICAV seien jedoch in Artikel 13 Teil B Buchstabe d Nummern 4 und 5 der Sechsten Richtlinie genannt, und die in diesen Bestimmungen genannten Umsätze fielen insbesondere dann in den Anwendungsbereich der Mehrwertsteuer, wenn sie im Rahmen des gewerbsmäßigen Wertpapierhandels erfolgten (vgl. Urteile Polysar Investments Netherlands, Randnr. 14, und Harnas & Helm, Randnr. 16).

32. Nach Ansicht der hellenischen Regierung stellen die von den SICAV erbrachten Leistungen keine Tätigkeit eines einfachen Investors dar, der Gesellschaftsanteile zu dem Zweck erworben habe, sie zu halten und einen Gewinn mit ihnen zu erzielen, wie es in der Rechtssache gewesen sei, die zu dem Urteil Polysar Investments Netherlands geführt habe, sondern eine im An­ und Verkauf von Wertpapieren bestehende organisierte Kapitalnutzung. Sie verweist im Übrigen darauf, dass der Umstand, dass die Verwaltung von Sondervermögen durch Kapitalanlagegesellschaften nach Artikel 13 Teil B Buchstabe d Nummer 6 der Sechsten Richtlinie von der Mehrwertsteuer befreit sei, bedeute, dass die Personen, die diese Verwaltung ausübten, grundsätzlich mehrwertsteuerpflichtig seien.

33. Die Kommission führt zunächst aus, dass - abgesehen von Belgien und Luxemburg - die Frage der Mehrwertsteuerpflichtigkeit der SICAV in den Mitgliedstaaten nicht völlig gelöst sei. In den Niederlanden würden die SICAV unter Bezugnahme auf das Urteil Polysar Investments Netherlands wie in Luxemburg als nicht steuerpflichtig angesehen. In Belgien, in Deutschland, in Dänemark, in Spanien, in Frankreich, in Irland, in Italien, in Portugal und im Vereinigten Königreich würden die SICAV als steuerpflichtig angesehen, seien aber von der Steuer befreit.

34. Die Kommission trägt weiter vor, dass es sich bei der Verwaltungsgesellschaft im Sinne der Richtlinie 85/611 im Allgemeinen um ein Unternehmen handele, das Dienstleistungen erbringe, für die es Verwaltungsprovisionen erhalte. Dass Artikel 13 Teil B Buchstabe d Nummer 6 der Sechsten Richtlinie ausdrücklich die Steuerbefreiung der Verwaltung von Sondervermögen durch Kapitalanlagegesellschaften vorsehe, zeige, dass es sich um Umsätze handele, die in den Anwendungsbereich der Mehrwertsteuer fielen.

35. Die Verwaltungsgesellschaft oder die SICAV, die einen Fonds verwalte, übe unbestreitbar eine Tätigkeit aus, die die Nutzung von körperlichen oder nicht körperlichen Gegenständen zur nachhaltigen Erzielung von Einnahmen im Sinne des Artikels 4 Absatz 2 der Sechsten Richtlinie umfasse, und unterscheide sich somit von Holdinggesellschaften, die nur Anteile hielten. Eine unterschiedliche Behandlung der Fondsverwalter danach, ob die Aufgabe durch eine Verwaltungsgesellschaft außerhalb des Fonds wahrgenommen werde oder durch die SICAV selbst, liefe dem Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer zuwider.

Würdigung durch den Gerichtshof

36. Gemäß Artikel 4 Absatz 1 der Sechsten Richtlinie gilt als Steuerpflichtiger, wer eine der in Artikel 4 Absatz 2 genannten wirtschaftlichen Tätigkeiten selbständig ausführt. Nach Artikel 4 Absatz 2 gehören zu den wirtschaftlichen Tätigkeiten alle Tätigkeiten eines Erzeugers, Händlers oder Dienstleistenden und insbesondere auch Leistungen, die die Nutzung von körperlichen oder nicht körperlichen Gegenständen zur nachhaltigen Erzielung von Einnahmen umfassen. Dieser Begriff der Nutzung bezieht sich entsprechend den Erfordernissen des Grundsatzes der Neutralität des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems auf alle diese Vorgänge ohne Rücksicht auf ihre Rechtsform (vgl. Urteile vom 4. Dezember 1990 in der Rechtssache C-186/89, Van Tiem, Slg. 1990, I-4363, Randnr. 18, vom 11. Juli 1996 in der Rechtssache C-306/94, Régie dauphinoise, Slg. 1996, I-3695, Randnr. 15, und vom 29. April 2004 in der Rechtssache C-77/01, EDM, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 48).

37. Gemäß dem Zweck der Sechsten Richtlinie, die u. a. darauf abzielt, das gemeinsame Mehrwertsteuersystem auf einen einheitlichen Begriff des Steuerpflichtigen zu stützen, muss diese Eigenschaft ausschließlich aufgrund der in Artikel 4 der Sechsten Richtlinie genannten Kriterien beurteilt werden (vgl. Urteil Van Tiem, Randnr. 25).

38. Außerdem können nach ständiger Rechtsprechung der bloße Erwerb und das bloße Halten von Gesellschaftsanteilen nicht als wirtschaftliche Tätigkeiten im Sinne der Sechsten Richtlinie angesehen werden, die den Erwerber bzw. Inhaber zum Steuerpflichtigen machen würden. Der bloße Erwerb von Beteiligungen an einem Unternehmen stellt nämlich keine Nutzung eines Gegenstands zur nachhaltigen Erzielung von Einnahmen dar, weil eine etwaige Dividende als Ergebnis dieser Beteiligung auf dem bloßen Eigentum an dem Gegenstand beruht und keine Gegenleistung für eine wirtschaftliche Tätigkeit im Sinne dieser Richtlinie ist (vgl. Urteile Harnas & Helm, Randnr. 15, und vom 26. Juni 2003 in der Rechtssache C442/01, KapHag, Slg. 2003, I6851, Randnr. 38). Wenn diese Tätigkeiten als solche daher keine wirtschaftliche Tätigkeit im Sinne dieser Richtlinie darstellen, muss dasselbe auch für die Veräußerung solcher Beteiligungen gelten (vgl. Urteile Wellcome Trust, Randnr. 33, und KapHag, Randnr. 40).

39. Ebenso wenig kann auch der bloße Erwerb und der bloße Verkauf von sonstigen Wertpapieren eine Nutzung eines Gegenstands zur nachhaltigen Erzielung von Einnahmen darstellen, da das einzige Entgelt aus diesen Vorgängen in einem etwaigen Gewinn beim Verkauf dieser Titel besteht (vgl. Urteil EDM, Randnr. 58).

40. Solche Vorgänge können nämlich als solche grundsätzlich keine wirtschaftlichen Tätigkeiten im Sinne der Sechsten Richtlinie darstellen.

41. Wie sich aus Artikel 13 Teil B Buchstabe d Nummer 5 der Sechsten Richtlinie ergibt, können jedoch Umsätze, die sich auf Wertpapiere beziehen, in den Anwendungsbereich der Mehrwertsteuer fallen. Der Gerichtshof hat bereits festgestellt, dass die Umsätze im Sinne dieser Bestimmung solche sind, bei denen es um die nachhaltige Erzielung von Einnahmen aus Tätigkeiten geht, die über den bloßen Erwerb und den bloßen Verkauf von Wertpapieren hinausgehen, wie etwa Umsätze bei einem Wertpapiergeschäft im Rahmen einer gewerblichen Tätigkeit (vgl. Urteil EDM, Randnr. 59).

42. Aus Artikel 1 Absatz 2 der Richtlinie 85/611 ergibt sich aber, dass die Umsätze der SICAV darin bestehen, beim Publikum beschaffte Gelder für gemeinsame Rechnung in Wertpapieren anzulegen. Mit den von den Zeichnenden beim Kauf von Anteilen eingezahlten Geldern bilden und verwalten die SICAV nämlich für deren Rechnung und gegen Entgelt Portefeuilles, die sich aus Wertpapieren zusammensetzen.

43. Eine solche Tätigkeit, die über den bloßen Erwerb und den bloßen Verkauf von Wertpapieren hinausgeht und die der nachhaltigen Erzielung von Einnahmen dient, stellt eine wirtschaftliche Tätigkeit im Sinne des Artikels 4 Absatz 2 der Sechsten Richtlinie dar.

44. Folglich sind die SICAV steuerpflichtig im Sinne des Artikels 4 der Sechsten Richtlinie.

45. Daher ist der Ort der in Artikel 9 Absatz 2 Buchstabe e der Sechsten Richtlinie genannten Dienstleistungen, die den SICAV erbracht werden, die in einem anderen Mitgliedstaat ansässig sind als der Dienstleistende, der Ort, an dem diese SICAV den Sitz ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit haben.

46. In diesem Zusammenhang trägt die belgische Regierung, die einräumt, dass die den SICAV erbrachten Dienstleistungen der Beratung, der Datenverarbeitung und der Überlassung von Informationen in den Anwendungsbereich von Artikel 9 Absatz 2 Buchstabe e dritter Gedankenstrich der Sechsten Richtlinie fielen, jedoch vor, dass demgegenüber die den SICAV erbrachten Verwaltungsdienstleistungen, für die eine rechtliche oder sachliche Entscheidungsbefugnis kennzeichnend sei, von dieser Bestimmung nicht erfasst würden.

47. Hierzu genügt die Feststellung, dass - wie der Generalanwalt in Nummer 20 seiner Schlussanträge ausgeführt hat - Artikel 9 Absatz 2 Buchstabe e dritter und fünfter Gedankenstrich der Sechsten Richtlinie sowohl Beratungsleistungen als auch Bank- und Finanzumsätze erfasst.

48. Daher ist auf die erste Frage zu antworten, dass die SICAV, deren ausschließlicher Zweck im Sinne der Richtlinie 85/611 es ist, beim Publikum beschaffte Gelder für gemeinsame Rechnung anzulegen, nach Artikel 4 der Sechsten Richtlinie mehrwertsteuerpflichtig sind, so dass der Ort der in Artikel 9 Absatz 2 Buchstabe e dieser Richtlinie genannten Dienstleistungen, die solchen SICAV erbracht werden, die in einem anderen Mitgliedstaat ansässig sind als der Dienstleistende, der Ort ist, an dem diese SICAV den Sitz ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit haben.

Zur zweiten Frage

49. Da die zweite Frage für den Fall der Verneinung der ersten Frage gestellt worden ist, ist sie nicht zu beantworten.

Kostenentscheidung:

Kosten

50. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Tenor:

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:

Die Investmentgesellschaften mit variablem Grundkapital (sociétés d'investissement à capital variable, SICAV), deren ausschließlicher Zweck im Sinne der Richtlinie 85/611/EWG des Rates vom 20. Dezember 1985 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften betreffend bestimmte Organismen für gemeinsame Anlagen in Wertpapieren (OGAW) es ist, beim Publikum beschaffte Gelder für gemeinsame Rechnung anzulegen, sind nach Artikel 4 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern - Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage mehrwertsteuerpflichtig, so dass der Ort der in Artikel 9 Absatz 2 Buchstabe e dieser Richtlinie genannten Dienstleistungen, die solchen SICAV erbracht werden, die in einem anderen Mitgliedstaat ansässig sind als der Dienstleistende, der Ort ist, an dem diese SICAV den Sitz ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit haben.

Ende der Entscheidung

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